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Komplett verrechnet

Reinhard Bingener und Markus Wehner
legen die vielsträngigen
Verflechtungen der »
Moskau Connection« und deren politische
Fehleinschätzung offen.

Von Lothar Struck
 

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 steht die deutsche Politik unter Schock. Begleitet wird er mit dem Begriff der "Zeitenwende", der wenige Tage nach dem Kriegsbeginn von Bundeskanzler Scholz als Pflaster verschrieben und inzwischen bis zur Unkenntlichkeit strapaziert wurde. Deutschland liefert der Ukraine Waffen zur Selbstverteidigung, wobei die Sprünge von Helmen bis hin zum Kampfpanzer binnen eines Jahres beachtlich sind. Die Bundeswehr soll wieder instandgesetzt werden, die Energieversorgung durch Russland wurde gestoppt, Putins Regime mit Sanktionen belegt und dies im Verbund mit der EU und den USA. Soviel Einigkeit war selten.

Außer in einigen Dokumentationen in Spartenfernsehsendern erfährt man jedoch in den Leitmedien wenig darüber, wie es zu der deutschen (und teilweise auch europäischen) Abhängigkeit von Russlands Gas und Öl und der Fehleinschätzung von Putin überhaupt kommen konnte. Das liegt zum einen daran, dass sowohl die Unionsparteien, die mit Angela Merkel 16 Jahre die Regierungschefin stellten als auch der Fast-Dauerkoalitionspartner SPD (zwischen 1998 und 2021 regierte die SPD bis auf vier Jahre mindestens mit) wenig Interesse an Aufarbeitungen ihrer politischen Versäumnisse und Blindheiten haben. In den Medien beschränkt man sich zumeist auf die Aktivitäten von Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Dessen bisweilen dreiste Vorteilsnahme durch diverse, gut dotierte Posten in russischen Energieunternehmen scheint den meisten Journalisten zu genügen, während sie beispielsweise Angela Merkel nach wie vor hoffieren. Und inwiefern andere aktive SPD-Politiker noch lange Zeit nach Schröders Kanzlerschaft, teilweise bis heute, mit ihrer Gestaltungsmacht in bisweilen dubiose Russlandgeschäfte verwickelt waren bzw. sind, wird kaum erschöpfend thematisiert.

Da kommt das Buch Die Moskau Connection der beiden FAZ-Korrespondenten Reinhard Bingener und Markus Wehner gerade Recht. Als günstiges Paperback verlegt, findet es, wie der Verkaufszahlen zeigen, reges Interesse beim durstigen Publikum. Dabei schreiben die Autoren zum größten Teil nur auf, was man irgendwann auf den hinteren Seiten der Zeitung zwar schon einmal gelesen, aber im Allerlei anderer Meldungen rasch wieder vergessen hat. In der akribischen Erfassung dessen, was sich seit 1998 in Bezug auf Energiepolitik und Russland ereignet hat, werden die Abgründe deutlich sichtbar. Dass sie sich fast ausschließlich mit der SPD beschäftigen, ist Programm; in einem kleinen Kapitel werden die Verstrickungen der Union erwähnt, u. a. vom verstorbenen Philipp Mißfelder und CSU-Politikern wie Ramsauer und Glos. Die Kanzlerin kommt in dem Maße vor, wie sie sich in die SPD-Politik einschaltet bzw. diese walten lässt.

Zunächst gibt es einen Rückblick auf die "Entspannungspolitik" der sozial-liberalen Koalition (1969-1982), die man Willy Brandt und Egon Bahr zuschreibt (der damalige FDP-Außenminister Scheel kommt fast nie vor) und bis heute für etliche SPD-Genossen zur Handlungsmaxime auch gegenüber Putins Regime dient. Tatsächlich war die Wende von der unsinnigen Hallstein-Doktrin hin zu einer außenpolitischen Entspannung mit den osteuropäischen Ländern (vor allem mit der Sowjetunion) notwendig und richtig. Bingener/Wehner erwähnen die Vorteile der Politik und deren Folgen wie die Gasverträge mit Russland (der Bau der Pipelines kurbelte die deutsche Wirtschaft an), die politische Aussöhnung mit den osteuropäischen Ländern und die Reiseerleichterungen für die DDR-Bürger. Zudem war die Ostpolitik immer gleichzeitig auf eigene militärische Stärke hin ausgerichtet. Mit der Schlussakte von Helsinki 1975 wurden Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Kontraktstaaten (auch die des Warschauer Pakts) verbindlich. Als jedoch Ende der 1970er Jahre in der damaligen Tschechoslowakei und bald darauf in Polen dissidente Gruppen die Menschenrechtsakte ernst nahmen und ihre jeweiligen Regime kritisierten, sah man dies vor allem in Bonn eher als Störung und negativ. Man befürchtete eine Destabilisierung im "Ostblock". Die Sowjetunion wurde dabei als Hegemonialmacht über andere osteuropäische Länder nicht nur akzeptiert, sondern vorausgesetzt. Mit Vertretern der polnischen Gewerkschaft Solidarność beispielsweise traf man sich, wenn überhaupt, nur ungern. Als 1981 in Polen das Kriegsrecht ausgerufen wurde, fanden sich mehr verstehende als verurteilende Worte. Auch mit dem SED-Regime in der DDR arrangierte man sich, was, wie man bisweilen nachlesen kann, zur leichten Abänderung der Politik-Maxime vom "Wandel durch Annäherung" zu "Wandel durch Anbiederung" innerhalb der DDR-Bevölkerung führte. Dieses Beharren Deutschlands auf den Status quo hat man vor allem in den osteuropäischen Ländern bis heute nicht vergessen.

Es wird deutlich, dass der Herrschaftsanspruch der Sowjetunion über das Gebiet des "Warschauer Pakts" auch nach dem Zusammenbruch der UdSSR in den Köpfen von großen Teilen der SPD-Außenpolitiker als legitim angesehen wurde. Federführend war hier Egon Bahr, der im Willy-Brandt-Haus bis zu seinem Tod 2015 einen Genossen die Doktrin der legitimen, weil stabilisierenden sowjetischen Herrschaft erklärte. Diese Ansicht ging häufig einher mit einem latenten Antiamerikanismus der SPD, den Bingener und Wehner ebenfalls thematisieren und nachweisen. Er wurde spätestens im Rahmen der Nachrüstungsdebatte Anfang der 1980er Jahre spürbar und gipfelte darin, dass man die Einwände der US-Regierung(en) gegen eine zu starke Energieabhängigkeit Europas von russischem Gas (die es, wie die Autoren nachweisen, praktisch seit Anbeginn der Kooperation gab) entweder als politisches Manöver betrachtete oder in jüngster Zeit ökonomisch befeuert sah, damit die Amerikaner ihr Flüssiggas verkaufen konnten. Bis heute raten führende Sozialdemokraten zur Äquidistanz Deutschlands zu den USA und Russland; die Meldungen zur Auflösung der NATO (seit den 1980er Jahren immer wieder sichtbar) haben allerdings aktuell keine Konjunktur.

Der Schwerpunkt des Buches liegt in der Zeit seit 1998 bis zur Gegenwart (Redaktionsschluss war am 3. Februar 2023). Es ist unmöglich im Rahmen eines solchen Textes, die Organisationen, (Schein-)Firmen, Verflechtungen und Verfilzungen auch nur im Ansatz wiederzugeben. Ausgangspunkt ist zunächst Gerhard Schröder. Die Autoren gehen zurück bis in seine Göttinger Studienjahre, thematisieren seinen Juso-Vorsitz und skizzieren die sich steil entwickelnde Karriere mit all ihren Verformungen. Der Biotop von Schröders Netzwerk besteht fast ausschließlich aus Männern (Brigitte Zypries ist die Ausnahme). Manche haben politisch Karriere gemacht, wie Stephan Weil, Lars Klingbeil, Sigmar Gabriel, Henning Voscherau (nebst Bruder Eggert, der ehemalige BASF-Chef), Thomas Oppermann und natürlich Frank-Walter Steinmeier. Andere agierten eher im Verborgenen, wie etwa Alfred Tacke, Heiko Geue, Jürgen Hogrefe oder ein gewisser Heino Wiese, eine Art "graue Eminenz" (L.S.) der am Ende zum Honorarkonsul Russlands aufsteigt und als willfähriger Schröder-Adept gilt.

Dann gibt es noch die üblichen Verdächtigen wie Carsten Maschmeyer, Bernd Rürup, der Hells-Angel-Anwalt Götz von Fromberg, die (ehemaligen) Wirtschaftsmanager Utz Claassen, Michael Frenzel, Peter Hartz, Klaus Mangold ("Mister Russland") und Günter Papenburg bevor sich dann, etliche Jahre später, die Russland-Connection auf Ministerpräsidentenebene mit Weil, Schwesig und Woidke gleich auf drei Schwergewichte stützen kann (auf die Nennung von Kretschmer aus Sachsen verzichten die Autoren; er gehört der CDU an). Das sind/waren nur ein Teil der "Frogs" – "Friends of Gerhard Schröder". Dazu gehör(t)en auch ehemalige  "Spitzengenossen" oder Stasi-Männer wie Hans-Joachim Gornig, Felix Strehober, Hans-Uve Kreher oder der prominente Matthias Warnig. Keine Sorge: Es werden nicht nur alle genannt, sondern auch ausgiebig "gewürdigt".

Es sind die 2010er Jahre als der Anteil russischen Gases unter dem "energiepolitischen Geisterfahrer", Wirtschafts- und Außenminister Gabriel, von dem jahrzehntelang mehr oder weniger eingehaltenen, informellen Ziel von 30% auf schließlich fast 55% stieg – die zukünftigen Nord Stream 2 Lieferung noch nicht eingerechnet. Jetzt werden auch die deutschen Gasspeicher an Gazprom gegen einen Anteil an einem neuen Gasfeld in Russland abgegeben. Und die Planung und Bau von Nord Stream 2 schreiten voran; von der Baugenehmigung bis zur Fertigstellung der 1224 km dauerte es nur knapp vier Jahre.        

Obwohl die Verstrickungen der Union weitgehend unerörtert bleiben, kommt man am  Stillhalten Merkels während ihrer Kanzlerschaft nicht vorbei. Merkels Verhältnis zu Russland ist emotional, aber als jemand, der in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen ist, nicht schwärmerisch. Sie spricht fließend russisch. Ihr Zugang zu Putin ist jedoch ein anderer als Schröders Kumpel-Gehabe. Es ändert sich der Stil im Umgang mit Putin, aber der Kurs bleibt. Trotz der der Krim-Annexion und den russischen Angriffen im ukrainischen Donbass 2014f. scheint es einen Deal in der Regierungskoalition zu geben: Merkel forciert auf EU-Ebene die Sanktionen gegen Russland (die insgesamt im Vergleich zu den amerikanischen eher milde ausfallen), während die SPD die Energie- und Außenpolitik machen darf und die Nord Stream-Projekte vorantreibt. Wenn man die SPD-Genossen für die Abhängigkeit von russischem Gas und dem Ausblenden des neoimperialen Projekts Putins verantwortlich macht, so bleibt am Ende die Feststellung, dass die Bundeskanzlerin mit ihrer grundgesetzlichen Richtlinienkompetenz mit versagt hat. Das gilt im übrigen auch für den Journalismus, wobei sich Bingener und Wehner hier zurückhalten; gestreift werden die Spiegel-Autoren und Merkel-Schmeichler Leinemann, Palmer und Osang sowie Manfred Bissinger und Michael Naumann.

Alle Lebenslügen der deutschen Sozialdemokratie in Bezug auf Russland werden aufgedeckt. Die heikel gewordene, inzwischen verklärte Formel vom "Wandel durch Annäherung" wurde nach dem Mauerfall umgetextet zu "Wandel durch Verflechtung", "Annäherung durch Verflechtung" oder, noch griffiger, "Wandel durch Handel" (und der Wirtschaft gefiel es). Tatsächlich passte man sich schleichend immer mehr russischen Wünschen an und verlor die deutschen (und europäischen) Interessen aus dem Auge. Fast schon zynisch zu nennen ist die die Gleichsetzung der Sowjetunion mit Russland, was die Opfer des Zweiten Weltkriegs angeht – mit denen Politikdarsteller wie Steinmeier ihre Rechtfertigungsagenda bestückt hatten. Die Aussage, Russland habe immer zuverlässig geliefert (während andere osteuropäische Länder und vor allem die Ukraine von Russland erpresst wurden) ist genauso falsch wie das Gerücht vom "billigen" Gas oder der Aussage, dass Putin alle "getäuscht" habe, als habe es Tschetschenien und Georgien nicht gegeben. Allerspätestens 2014 hätte man weitergehende Projekte mit Russland nicht mehr entwickeln dürfen. Dass es geschah und noch ausgebaut wurde (unter anderem mit Schwesigs Fake-"Umweltstiftung" - mit dem angeblich so kranken Sellering als Vorsitzenden), ist im günstigsten Fall fahrlässig zu nennen. Aber man fragt sich bei zunehmender Lektüre, ob es nur Naivität und Dummheit oder auch Korruption im Spiel war. "Pekuniäre Interessen" finden die Autoren nicht nur bei Schröder, sondern vermuten sie auch bei Gabriel und Wiese und ihren Beratungsfirmen.

In der Chronologie der Ereignisse stehen die Distanzierungen der Protagonisten naturgemäss am Ende. Sie wirken in der im Buch ausgeführten Ballung eher pflichtschuldig. Man ertappt sich dabei, das trotzige Beharren Schröders für ehrlicher zu halten als die Krokodilstränen der falschen Büßer – von denen etliche noch in ihren Ämtern sind (Schwesig, Weil). Zudem setzen die Platzecks, Stegners und Mützenichs immer noch auf ihre Lebenslügen mit ihren "moralisierten Hülsen" (die Autoren) vom Frieden und Ausgleich mit Russland. Das größte Paradox ist, dass einer der Wegbereiter für Deutschlands Maläse, der -zigfach mit leitenden Figuren der russischen Energiewirtschaft zusammengetroffen ist und ihnen die Tore geöffnet hat, Sigmar Gabriel, heute der Vorsitzende der USA-freundlichen "Atlantikbrücke" ist.   

Die "Mär von der Interdependenz", dass Russland "genauso abhängig vom Kauf seiner Energie durch Deutschland und andere europäische Staaten wie jene vom Bezug russischer Energie" sei, setzt sich in Politik und Wirtschaft gerade im Verhältnis zu China fort. Im stillen Vertrauen darauf, dass man als Abnehmer "gebraucht" wird, liegt eine grandiose Selbstüberschätzung. Auch jetzt werden ökonomische Interessen über geopolitisch-strategische Aspekte gestellt statt eine Balance zu finden. Dessen ungeachtet verlagern Unternehmen nicht nur ihre Produktionskapazitäten nach China, sondern auch ihre Entwicklungsabteilungen. Die nächsten Abhängigkeiten drohen.   

Richard Bingener und Markus Wehner haben ein gutes, aber auch erschreckendes Buch geschrieben. Ihr Kniff besteht darin, dass sie im Präsens erzählen und dadurch während der Lektüre Unmittelbarkeit erzeugen. Was den Autoren hoch anzurechnen ist: Niemals geben sie der Versuchung nach, dem Leser eine fertig drappierte Wertung vorzulegen oder billige "Sensationen" auszurufen. Sie bleiben bei der nüchternen Darstellung der Fakten und wickeln – soweit das möglich ist – das Knäuel des oder der Netzwerk(e) in aller Ruhe und nachvollziehbar auf. So geht guter Journalismus; er ist inzwischen rar geworden.   

Artikel online seit 02.05.23
 

Reinhard Bingener, Markus Wehner
Die Moskau-Connection
Das Schröder-Netzwerk und Deutschlands Weg in die Abhängigkeit
C.H. Beck Verlag
304 S., mit 10 Abbildungen und 1 Karte
18,00 €
978-3-406-79941-9

Leseprobe & Infos

 

 


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