»

Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik                                           Impressum & Datenschutz

 

Home   Belletristik   Literatur & Betrieb  Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  


 





Die Untröstlichkeit der Verwaisung

Esther Kinskys Last Picture Show »Weiter sehen«

Von Wolfram Schütte

Der im Rheinland geborenen Übersetzerin (aus dem Polnischen, Russischen & Englischen!) & Autorin Esther Kinsky verdanken wir das seltsame Wort »Geländeroman«. So bezeichnete sie ihr Buch »Hain«, das drei italienische Orte/Landschaften in zahlreichen literarischen Momentaufnahmen fixiert, memoriert & imaginiert.

Der Stoff ihres erzählerischen Oeuvres geht auf wechselnde Aufenthalte der Autorin zurück. So ist z.B. ihr 2022 erschienenes »Rombo« aus Recherchen hervorgegangen, die sie über die   großen Erdbeben von 1976 im Friaul unternommen hat. Mittlerweile lebt sie seit einiger Zeit auf dem Land in der Nähe von Udine.

Ihr jüngstes Buch »Weiter sehen« greift einerseits erzählerisch zurück auf einen längeren Aufenthalt in Ungarn, den sie schon einmal literarisch verarbeitet hatte. In wieweit nun »Weiter sehen« mit dem 2011 erschienenen »Banatsko« zusammenhängt, kann ich nicht abschätzen, weil ich diesen zweiten Roman der Autorin nicht kenne. Andererseits geht ihr jüngstes Buch (das keinen Genretitel trägt) formal über ihre früheren hinaus – weil sein Erzählfluss mehrfach von Fotostrecken unterbrochen wird.

Es sind zumeist Farbphotos, die Esther Kinsky von Ansicht & Innensicht eines ländlichen Kinos in Südostungarn gemacht hat, von dem das Buch (eine Hommage an das Kino allgemein) ganz überwiegend handelt - & von Menschen, die mit dem Kino zu tun hatten. Das Kino ist diesmal gewissermaßen der Basso continuo der Kinskyschen Wort-Musik.

Die Erzählerin behauptet, dass sie nach einem längeren England-Aufenthalt nach Budapest gezogen sei. Warum oder zu welchem Zweck sie in der Donau-Metropole gelebt hat, sagt sie nicht. Aus Budapest sei sie später in ein verfallendes, entvölkertes Dorf in der großen ungarischen Tiefebene an der Grenze zu Rumänien & Serbien gefahren: auch dies ohne Angabe von Gründen. Zuletzt sei sie in ein fast entvölkertes Dorf gezogen, weil sie dort ein verwaistes Kino mit mehr als 300 Plätzen gekauft & mit ortsansässigen Kinofreaks restauriert habe. Nachdem ihr Wunsch, das Kino als öffentliche Institution wieder zu animieren, mangels Zuspruch des dörflichen Publikums nicht in Erfüllung ging, habe sie das Gebäude an einen Unternehmer verkauft, der eine Bowlingbahn daraus machen wollte, aber während des Umbaus gestorben sei. Bei einem letzten Besuch habe sie das Gebäude wieder als Ruine vorgefunden.

Obwohl Esther Kinsky ihre erzählerische Reflexion über den kollektiven Erlebnisort Kino suggestiv als Bericht aus dem eigenen Leben der Autorin inszeniert, überzeugt »der plot« nicht. Vor allem nicht, wenn die Erzählerin als Alleinstehende grund- & problemlos nach Budapest (& dann noch weiter in die Puszta) zieht & ausgerechnet dort, wo die Einheimischen vor der Trostlosigkeit & Armseligkeit eines Arbeitslosen-Lebens geflüchtet waren, ein ruiniertes Kino als Bollwerk gegen das Fernsehen restituieren will.

Die Schwäche des Plots wird aufgewogen durch die fein gesponnene Erzählung des Buchs. Ein Vor-& ein Nachspiel umschließen Kinskys ungarisches Abenteuer.  In dessen Mitte überrascht ein »Zwischenspiel«: der kleine historische Roman von der Kino-Passion »Deutsch Lazlós«, genannt Laci. (Ist er ein ungarischer Jude, der der Eichmanschen Vernichtung entkommen ist, weil er »rechtzeitig seinen Namen änderte«?)

Anhand von Lacis Biographie skizziert Kinsky eine kurze Geschichte Ungarns von 1927, als es mehr als 100 Kinos in Budapest gab, bis zum Ende des staatlichen Dorfkinos Mitte der Neunziger Jahre, als es der kollektiven Verbreitung des Fernsehens zum Opfer fiel: hier wie andernorts in Europa.

Herzerwärmend berichtet Esther Kinsky, wie sie in Londoner Vorortkinos die große Zeit des internationalen Films während der Siebziger/Achtziger Jahre miterlebte. Oft fehlte nach dem Kinobesuch aber das Geld für eine Busrückfahrt. »Wir« (benutzt sie ein einziges Mal den Plural), mussten quer durch die Stadt nachhause gehen, was umso schöner war, als man, noch vom Kinoerlebnis aufgewühlt, ambulatorisch durchsprechen konnte, was man im Dunkel des Kinos von der Leinwand  zusammen aufgenommen & gemeinsam erfahren hatte.

Der kundige Kinsky-Leser wird dieses einzige »Wir« des Buchs als zartes Anzeichen einer realen Intimität der Autorin verstehen, die ihr Buch auf der vorletzten Seite »in memory of Martin Chalmers« geschrieben hat, »who walked with me and was my guide« – als sie mit dem verstorbenem schottischen Geliebten in London vom Übersetzen höchst bescheiden lebte.

Dem Buch & seinen einzelnen Kapiteln sind Zitate in Englisch vorangestellt. Der usamerikanische Filmemacher & Schauspieler John Cassavetes leitet den Reigen der Eideshelfer Kinskys ein: »There is something important in people, something, that´s dying – the senses, a universal thing. We can´t agree in politics, but maybe we can agree on senses. We are dying of sadness. The whole world is dying of sadness. We are the enemy.«

Die Prophezeiung des amerikanischen Cinéasten, die ganze Welt gehe an Traurigkeit zugrunde, ist umso hoffnungsloser, als wir selbst der Feind seien, der uns in diese Lage bringt. Und zwar durch das Verschwinden des Kinos, pointiert die Autorin. »Im vergangenen Jahrhundert ist kein Ort für das Wie des Sehens (…) so bedeutend gewesen wie das Kino als Ort, als Raum. (…) Der Blick aus dem Dunkel in eine vom Film geschaffene Welt« rief eine gerade einmal 100 Jahre dauernde kollektive Erfahrung hervor. Sie werde, konstatiert Kinsky, »nur noch von wenigen als notwendiger Ort des Sehens« von Filmen »empfunden, das Beharren auf dem Filmerlebnis im Kino gelegentlich sogar als elitär abgetan«.

Nun ist das unaufhaltsame Verschwinden des Kinos zweifellos ein Verlust – wenn auch das Kopfzerbrechen der cinéphilen Autorin darüber recht eng, abstrakt, bzw. intellektuell bescheiden, bzw. nicht mehr up to date ist. Denn »digital« sind längst die Filme auch, die heute in den Kinos laufen wie sie über »gleich welchen Bildschirm flackern. (…) Das Was triumphierte über das Wie, jeder gewöhnte sich daran, die eigene Einsamkeit, die sich früher ins Kino ausführen ließ, vor dem heimischen Bildschirm im Nacken sitzen zu haben, ein privates Buckelchen, dem es wohl dort war. In einer immer unbequemeren, schnelleren, bedrängteren Welt gab die vorgegaukelte Bequemlichkeit der steten Verfügbarkeit von Daten, die sich zu einer Bilderreihe fügen, Anlass zur Fürsprache für den kleinen Blick im kleinen Raum«.

Ich habe diese wunderliche Passage in toto zitiert, weil sie die geistige Dürftigkeit & sprachliche Hilflosigkeit dieser doch so brillanten, evokativ formulierungsfreudigen Poetin offenbart, wenn sie zu definieren versucht, was mit der von ihr an anderer Stelle als fortlaufende Privatisierung der Filmerfahrung, die doch genuin eine kollektive Kinoerfahrung gewesen war, gemeint ist.

Zugleich mit diesem geradezu bestürzend verquasten Augenblick enthält aber diese jüngste Prosa Esther Kinskis überwiegend sinnliche Passagen atmosphärisch dichter, gestochen scharf fixierter literarischer Vergegenwärtigungen  der Landschaft, der Natur, der Jahreszeiten – diesmal des »Mangellands, eine Gegend der Abwesenheiten« – wie sie die endlose Weite des ungarischen Flachlands nennt.

Oft hat man nach der Lektüre den erinnernden Eindruck,  Filmsequenzen vor Augen gehabt zu haben & das Buch »Weiter Sehen« sei das Kino gewesen, in dem Esther Kinsky ihren schönen erzählerischen Nachruf auf das Kino-Erlebnis des singulären Sehens zum Leuchten gebracht hat. Nicht nur dort, wo sie donquichottesk mit ihrer »Last picture show« scheiterte, sondern auch andernorts (wie z.B. bei uns!) hinterlässt das Verschwinden des Kinos aus dem öffentlichen Alltagsleben für Melancholiker die »Untröstlichkeit der Verwaising«.

Artikel online seit 11.05.23
 

Esther Kinsky
Weiter Sehen
Bibliothek Suhrkamp 1544
200 Seiten
24,00 €
978-3-518-22544-8

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie    Impressum - Mediadaten