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Gert Ledig und das Vergessen

In der Jubiläumsausgabe des
»Schreibheft« erinnert Frank Witzel an
100
»vergessene, verkannte und verschollene« Autoren & Autorinnen.
Einer davon ist Gert Ledig.

Von Lothar Struck
 

Das Schreibheft von Norbert Wehr feiert heuer die 100. Ausgabe. Zum Jubiläum gibt es einen umfangreichen Essay von Frank Witzel über "100 Vergessene, Verkannte und Verschollene". Erinnerungen kommen auf an Michael Helmings wunderbare Reisen zu fünf vergessenen osteuropäischen Schriftstellern und seine "Kontaktaufnahme" an deren Gräbern. Witzel bekommt für seine 100 Hinweise (es sind mehr, weil zum Beispiel aus Lexika zitiert wird, die ein ähnliches Anliegen verfolgten) 128 Seiten. Überwiegend sind Schriftsteller gemeint, auch wenn es eine kleine Rubrik über Zeichner und bildende Künstler gibt. Witzels Auswahl ist subjektiv und daraus macht er keinen Hehl. So erklärt er auch häufiger, wie er auf diesen oder jene gekommen ist, findet fast immer die biographischen Daten und es werden häufig auch (längere) Ausschnitte abgedruckt. Es findet sich Originelles, Konzeptuelles und Skurriles (etwa ein Hinweis auf einen Autor, der Rezensionen über nicht existierende Bücher verfasste); Gedichte, Prosa, Drama, Dialoge, Interviews, Collagen. Manches Mal ertappt man sich dabei, dass die Verschollen- und/oder Verborgenheit gar nicht so schlecht gewesen ist, aber das ist natürlich ebenfalls subjektiv. Vielleicht sollte man das Konvolut nicht in einem Stück lesen.

Die Frage, die Witzel sich und den Leser immer wieder stellt: Warum wurde jemand mit einer zuweilen in seiner Zeit durchaus beachtlichen Publikationstiefe irgendwann schlichtweg vergessen? Die Gründe können viele Ursachen haben. Texte wie der von Witzel (aber auch Helming) sollen zeigen, dass sie nichts oder nur sehr wenig mit der Qualität des jeweiligen Werks zu tun haben. Häufig findet Witzel den Fehler beim jeweiligen Autor, etwa wenn es sich um übertriebene Perfektionisten handelt, die niemals fertig werden. Oder sie verlieren nach den ersten Misserfolgen schlichtweg die Lust (einher geht damit zumeist auch der Verlust des Verlags).

***

Den einzigen Schriftsteller der Hundertschaft, den ich kenne, ist "Nr. 92", Gert Ledig (1921-1999). Witzel führt mit ihm als zusätzliches  Kriterium für das Vergessen die Bescheidenheit des Autors an. Eine, wie man weiß, unter Schriftstellern eher selten ausgeprägte Eigenschaft. So habe Ledig mit dem Verweis auf Ilse Aichingers Einzigartigkeit eine Einladung der Gruppe 47 ausgeschlagen. Freilich traf dies auf eine Einladung 1956 zu, bei der Günter Eich aus Vergeltung las; später war Ledig sehr wohl zwei Mal bei der Gruppe 47, wie Volker Hage feststellt[1], allerdings wohl ohne aus einem Buch vorzutragen.  

Nach der Ausbildung zum Elektrotechniker meldete sich Ledig mit 18 Jahren freiwillig zur Wehrmacht, eckte dort jedoch wegen "Hetzreden" an und wurde in eine Strafkompanie versetzt. Er wurde zwei Mal verwundet, verlor zwei Finger der rechten Hand und hatte aufgrund einer bleibenden Unterkieferdeformation Artikulationsprobleme. Noch während des Krieges wurde er zum Schiffbauingenieur ausgebildet. Nach dem Krieg Flucht aus der SBZ und diverse Gelegenheitsarbeiten. 1955 veröffentlichte er Die Stalinorgel. Das Buch über den aussichtslosen Kampf über eine Höhe bei Leningrad wurde von der Kritik enthusiastisch gefeiert und rasch in viele Sprachen übersetzt. Ein Jahr später folgte Vergeltung. Aber hier war das Feuilleton einhellig ablehnend; man sprach von "abscheulicher Perversität" und sah den "Rahmen des Glaubwürdigen und Zumutbaren" verlassen.[2] Er konnte ein Jahr später noch Faustrecht veröffentlichen, zog sich danach jedoch aus dem Literaturbetrieb zurück.

Sowohl Die Stalinorgel wie auch der inzwischen bekanntere Roman Vergeltung  thematisierten zwar den Zweiten Weltkrieg – wie so viele Romane der Kriegsheimkehrer und Flakhelfer in den 1950er Jahren. Aber sie erschwerten durch die eigentümliche, ins expressionistische hinein gehende Erzählsprache Empathie mit den handelnden Protagonisten, die sich in Zuständen höherer Ausgeliefertheit befanden und jeglichen Entscheidungsmöglichkeiten beraubt waren. Sie trugen – bis auf eine Figur in Vergeltung – nicht einmal Namen. Ledig durchbrach den Schematismus gängiger Anti-Kriegs-Romane; es gab für den Leser weder Helden noch Anti-Helden. Die detailreich ausgeschmückten Schilderungen eines Luftangriffs (inklusive der brutalen Schilderungen der tödlichen Folgen für die Betroffenen) in Vergeltung widersprachen den politischen wie ästhetischen Konventionen der Zeit, die die Verbrechen der Alliierten nicht thematisieren wollte, um revanchistische Kräfte nicht zu stärken. Ledigs "Fall"[3] zeigt, wie man gegen den politischen und gesellschaftlichen Zeitgeist und, was in diesem Fall noch wichtiger ist, gegen die literarischen Strömungen schrieb und daher rasch verschwand.

Als der Roman 1999 von Suhrkamp noch einmal neu aufgelegt wurde – Witzel weist auf die prominente Besprechung im Literarischen Quartett hin – geschah dies im Rahmen der Diskussion um W. G. Sebalds 1997 in Zürich gehaltenen Poetik-Vorlesungen über Luftkrieg und Literatur. Sebald konstatierte in seinen Vorlesungen, dass es in der Nachkriegsliteratur nur wenige (seriöse) Autoren gab, die über die Auswirkungen des Luftkriegs in ihren Romanen geschrieben hatten. Er nannte Heinrich Böll, Herman Kasack, Hans Erich Nossack, Arno Schmidt und Peter de Mendelssohn. Bei Böll rekurrierte er auf Der Engel schwieg, ein Roman, der zwar Ende der 1940er Jahre entstand, aber erst 1992 veröffentlicht wurde. Auf Arno Schmidt geht er kaum ein. Bleiben also nur de Mendelssohn, Kasack und Nossack; letzterer passt vor allem durch Der Untergang in die Luftkrieg-Thematik (das Buch hat nichts mit dem unsäglichen Film gleichen Titels von 2004 zu tun).

Volker Hage griff seinerzeit im Spiegel Sebalds Text auf[4] und brachte neben anderen Autoren vor allem Gert Ledig ins Spiel, der bei Sebald erst in einem "Nachklapp"-Text zu den Poetik-Vorlesungen analysiert wird.[5] Witzel irrt also, wenn er Sebald als "Entdecker" Ledigs ausruft, Sebald scheint die Lektüre nach Hages Intervention nachgeholt zu haben und erklärt: "Steht schon Die Stalinorgel im Zeichen der radikalen Antikriegsliteratur der ausgehenden Weimarer Zeit, dann ist vollends Die Vergeltung [sic!], wo Ledig in gehetztem Stakkato verschiedene während eines einstündigen Angriffs sich ereignende Vorfälle in einer namenlosen Stadt verfolgt, ein gegen die letzten Illusionen gerichtetes Buch, mit dem Ledig sich ins Abseits manövrieren mußte."

Sebald skizziert (unter Beibehaltung des falschen Titelnamens) den Inhalt des Romans, findet Problematisches, zitiert ein wenig aus der damaligen vernichtenden Literaturkritik und kommt dann zu dem Schluss, dass es "sicher nicht in erster Linie die ästhetischen Schwächen [waren], die dazu führten, dass Die Vergeltung und der Autor Gert Ledig in der Vergessenheit verschwanden." Stattdessen verortet Sebald Ledigs biografischen Werdegang als Ursache für das literarische Vergessen. Gert Ledig habe "aufgrund seines Herkommens und seiner Entwicklung dem nach dem Krieg sich herausbildenden Verhaltensmuster für Schriftsteller nicht entsprechen" können, so die These. Er passte mit seiner ästhetischen Kompromißlosigkeit einfach nicht in die Wirtschaftswunderzeit. Seine Romane drohten, so Sebald "den cordon sanitaire zu durchbrechen […] mit dem die Gesellschaft die Todeszonen tatsächlich entstandener dystopischer Einbrüche umgibt". Volker Hage nimmt später eine Rezension von 1956 zum Anlass zu erklären, dass man schlichtweg mit dem Thema "in Ruhe gelassen werden" wollte.[6]

Hages 2003 publiziertes Buch Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg, in dem er noch detaillierter auf Romane mit Luftkriegsproblematik eingeht, ist selber eine Fundgrube für vergessene Autoren, von denen nur sehr selten einmal ein Werk neu aufgelegt wird, wie dies beispielsweise bei Bruno E. Walters Die Galeere der Fall war, einem Roman, der nicht unbedingt literarisch bedeutend ist, aber als ein ungeschöntes Sittenbild der auf sich selber fokussierten, aufs Überleben konzentrierten Zivilgesellschaft im "Dritten Reich" liefert – und dies ohne Anklage aber auch ohne Jammern.

Sebalds apodiktische These – das zeigt Hage – traf in dieser Form nicht zu. Er hatte schlichtweg zu wenig recherchiert, weil etliches an Gedichten, Erzählungen, Romanen und Augenzeugenberichten bereits vergessen und, falls überhaupt, nur noch antiquarisch zu bekommen war. Das, was er dann zugespielt bekam, ließ er häufig literarisch nicht gelten (wie z. B. Vergeltung). Man konnte, so Hage, "manchmal den Eindruck gewinnen, daß er das, was er angeblich suchte, eigentlich gar nicht finden wollte, schon weil es im Grunde gar nicht existieren konnte."[7]

Für einen Essay über literarische Vergessenheit ist die Causa exemplarisch. Sebald prangerte eine thematische Lücke an, bezichtigte Autoren einer gewissen Ignoranz, aber er kam nicht auf die Idee, dass etliches davon vorhanden, aber nach vierzig Jahren vergessen war. Wenn etwas kollektiv vergessen ist, existiert es subjektiv für den Unwissenden nicht. Jemand wie Witzel, ein besessener Leser, schöpft das allgemein Vergessene aus dem, was er kennengelernt hat. Er erinnert. Dies geht nur mit einem Fundus von Erfahrung. Und Interesse.

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Es dürfte Hage zu danken sein, dass Ledigs Vergeltung (und später auch Die Stalinorgel) neu aufgelegt wurden (Ledig war kurz zuvor verstorben). Die Lobe für diese "Entdeckung" waren diesmal einhellig. Aber wieder sollte die Kanonisierung des Autors an gesellschaftspolitischen Gegebenheiten zerschellen. Als 2002 der Publizist Jörg Friedrich mit Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945 den alliierte Luftkrieg umfassend thematisierte, griffen wieder die Mechanismen, vor denen sich einst Schriftsteller gefürchtet haben dürften und die Kritiker zum Anlass genommen haben könnten, solche Literatur zu negieren und dem Vergessen zuzuführen. Einige ungelenke Formulierungen Friedrichs[8] legte man dahingehend aus, ihm die Gleichsetzung zwischen den Bombardements der Alliierten auf deutsche Städte und den Verbrechen der Nazis "nachzuweisen". Nahrung bekam dies durch die verstärkte Instrumentalisierung des Luftkriegs durch neue rechtsradikale Kräfte in Deutschland. Abermals war eine Beschäftigung mit dem Luftkrieg vermint. Im Gesprächsteil von Hages Buch wird immer wieder die Gefahr artikuliert, die deutschen Verbrechen mit den Bombardierungen der Alliierten aufzurechnen, wenn man sich diesem Thema widmet. Ob es sich dabei, wie Sebald mutmaßt, um ein Tabu gehandelt hat, wird von Hage ausgiebig erörtert.[9] Tatsächlich mieden viele Erzählungen und Romane der Nachkriegszeit die Thematiken Luftkrieg und Flucht und Vertreibung. Vielleicht entsprachen die "Scheu und Berührungsangst"[10] der Autoren auch der Scham, der Empfindung über die Mitschuld der Verbrechen, die in deutschem Namen geschahen.

Zwar ist Vergeltung bei Suhrkamp heute noch als kommentierte Taschenbuchausgabe lieferbar, aber Gert Ledig ist längst wieder verdrängt. Hage stellt noch heraus, dass Romane, die sich im Rahmen der NATO-Nachrüstungsdebatte in den 1980er Jahren mit der atomaren Bedrohung beschäftigten, ebenfalls kaum Beachtung fanden. Wurde Grass' Die Rättin aufgrund der Prominenz des Autors noch hinreichend wahrgenommen, gingen die meisten Autoren (und auch die Literaturkritik) "der epischen Ausmalung des Schreckens" wieder einmal aus dem Weg.[11] Erst zwei Jahrzehnte später verfasste Grass mit seiner Novelle Im Krebsgang einen Text, der Flucht und Vertreibung thematisierte.

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Witzels Belesenheit und Begeisterungsfähigkeit sind einerseits so groß, dass er bequem auch 300 Autoren hätte vorstellen können und gegen Ende einfach noch einmal 30 oder 40 Autoren mit ihren Büchern aufzählt, einfach nur, um sie zu erwähnen. Andererseits strahlt der Essay weniger Entdeckerfreude als Melancholie, am Ende sogar Wehmut aus. Der Leser, der sich auf die Schnelle von der einen oder dem anderen einen Überblick verschaffen möchte, stößt häufig auf gänzlich leere Suchmaschinen, auch wenn das letzte (oder das erste) Werk erst 30 Jahre zurückliegt. (Wobei vielleicht nicht auszuschließen ist, dass im ein oder anderen Fall Frank Witzel ein bisschen "gespielt" hat.)

Im Schlusswort wird deutlich, dass das Vergessen die Regel für einen Künstler darstellt. Manchmal beginnt es schon zu Lebzeiten, wie Witzel an Beispielen illustriert. Ob es in der Literatur durch die Digitalisierungsmöglichkeiten von Manuskripten (und Büchern – s. E-Book) künftig weniger "Vergessene" geben wird, ist in Anbetracht der inflationären Neuausgaben nicht sicher. Das Verbleiben im Erinnerungsraum der Literatur ist vermutlich allzu oft von "widrigen Umständen" und "banalen Zufällen" abhängig. Nicht unwichtig sind die sozialen Vernetzungen des jeweiligen Autors. Notorische Einzelgänger haben einen schwereren Stand als sich kollektiv Organisierende. Wer zu Lebzeiten nicht einen oder mehrere (wichtige) Literaturpreise bekommen hat, dürfte kaum eine Chance auf eine mögliche Kanonisierung haben. Aber auch hier keine Regel ohne Ausnahmen. So könnte man gleich einen neuen Essay schreiben: Über vergessene Nobelpreisträger.

[1] s. Volker Hage: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg, Fischer Taschenbuch Verlag, 2003, vor allem S. 44-51: Der Fall Gert Ledig
[2] Hage, S. 45 und S. 46. Hage nennt dankenswerter Weise in seiner Fußnote die Autoren der Rezensionen. Sie sind – zu Recht – vergessen.
[3] Vgl. Hages Überschrift zum Ledig-Kapitel.
[4] Später entstand dann Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg.
[5] Die folgenden Zitate von Sebald aus Luftkrieg und Literatur, Fischer Taschenbuch, 5. Auflage, Januar 2005, S. 100-103
[6] Hage, S. 47.
[7] Hage, S. 123f.
[8] Hage merkt an, dass Friedrich die im Luftkrieg Umgekommenen als "Gefallene" bzw. "gefallen" bezeichnet. Eine Formulierung aus der Nazi-Propaganda, die aus den Zivilisten Soldaten machen sollte. Hage, S. 129, Fußnote 233.
[9] Hage S. 125-131.
[10] Hage, S. 127.
[11] Hage, S. 82.

Artikel online seit 26.03.23
 

 

 


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