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Bücher mit Ensembles

Wolfgang Martynkewicz'
»Das Café der trunkenen Philosophen«.
Wie Hannah Arendt, Adorno & Co. das Denken revolutionierten,
oder
»Die Netflixisierung der Frankfurter Schule«

Von Wolfgang Bock
 

Narrative mit Niveau
Bücher mit Ensembles und Epochendarstellungen sind seit langem in Mode. Dieter Henrich setzte einen Markstein mit seiner Konstellationsforschung über die Umgebung der Romantiker in Jena und Berlin. Das drängte von sich aus ins Feuilleton. Florian Illies, der heute als Berater von Kunstauktionshäusern arbeitet, schuf mit seiner Montage aus der Welt der künstlerischen Avantgarden 1913. Der Sommer des Jahrhunderts über Rilke, Alma Mahler und Schönberg die leicht konsumierbare und vergnügliche Blaupause für eine ganze Reihe von nachfolgenden „Büchern mit Niveau“, wie etwa 1936. Sommer in Ostende von Volker Weidemann über Stefan Zweig, Joseph Roth und ihre Anhänge. Schwierige Theorie schön verpackt, das Lesen soll leicht sein und Spaß machen, so verkaufen sich schließlich auch die Bücher besser. Daher gräbt sich das aktuelle Literarische Quartett im Fernsehen sein eigenes Grab, wenn dort nur wie in einer Kindergartengruppe darum gerungen wird, wer am lautesten „Pipikacka“ und „Ficken“ ruft. Freudig muss die Sache sein, nach Urlaub schmecken und angenehm und nicht zu unappetitlich dargebracht. Beliebt sind daher heute Weichbilder von Landschaften und entsprechend programmatischen Titeln wie: Adorno in Neapel: Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt von Martin Mittelmeier und umgekehrt. Während der Vordergrund gelobt wird, nimmt man gern auch die Abkürzung über den Hinterhof, aber wie gesagt, immer mit Stil. Bereits 1966 hatte Wilhelm Weischedel mit seinem Buch Die philosophische Hintertreppe einen leichtgängigen, anekdotischen Zugang zu großen Philosophen gesucht und gefunden. In den Bereich der Jugendliteratur führen Jostein Gaarders Sophies Welt oder Richard David Prechts erfolgreiche wissenschaftsjournalistische Veröffentlichungen mit lustigen Titeln wie: Wer bin ich und wenn ja, wie viele? zur Philosophiegeschichte für EinsteigerInnen jeglichen Alters diese Trends zusammen. Narrative sind schließlich auch außerhalb der Literatursoziologie groß in Mode – die Welt wird so zu einer einzigen großen Erzählung, die sie angeblich schon immer war.

Frankfurt Babylon: Am Tisch mit Kaffee und Kuchen
Beliebt ist seit Sören Kierkegaard aber nicht allein der Ausguck über den Strand, die Berge oder die bukolische Ebene, sondern auch der spionspiegelunterstütze Blick aufs und aus dem bürgerlichen Interieur. Wolfgang Martynkewicz erntet alle diese Blätter und Früchte aus den Gärten des Feuilletons ab und legt ein Buch über die Topografie des soziologischen Denkens aus der Perspektive des heute noch existierenden Kaffeehauses Laumer in Frankfurt vor. Hier sollen Ende der Zwanzigerjahre bei Mocca und Petit Fours die freischwebenden Intellektuellengruppen um Paul Tillich, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno auf der einen und diejenige um Karl Mannheim und seinen Assistenten Norbert Elias auf der anderen Seite zusammengekommen sein. Am Katzentisch sind Hannah Arendt und ihr erster Mann Günther Stern (später Günther Anders) ebenfalls mit von der Partie. Beim Biskuit auf der Zunge und dem Heißgetränk in der Hand klappt‘s nicht nur mit der Nachbarin, sondern auch mit der Erinnerung. Martynkewicz vermittelt dabei kenntnisreich zwischen dem intellektuellen und existenziellen Leben. So erfahren wir von rauschenden Ballnächten und Darkrooms bei den Tillichs, von offenen Cabriofahrten, von zu Torten hübsch lächelnden Studentinnen, wo dann auch die ansonsten einsamsten und nonkonformistischsten Denker wie Norbert Elias aus sich herauskamen. En passant lesen wir eben auch von Diskussionen über Ideologie sowie Freundschaften und Feindschaften untereinander. So soll Bildung heute sein, vor allem folgenlos. Kurz: das entsprechende Klima wird in Adaption von The Crown von Stephen Daldry nun im Protoformat einer weiteren Netflix-Serie Die Intellektuellen als eine in Kapitel gefasste Reihe von einfühlenden Kostümepisoden dargebracht – die andere Rasse der königlichen Familie hier, die neuen Menschen als Soziologen da. Die biographische Mode bleibt auch im Ensemble erhalten.

Das Unternehmen umfasst die Konstitution der jungen Frankfurter Universität und ihre später berühmte Personage in den Fächern Soziologie und Philosophie bis 1930; die Jahre der Machtergreifung der Nazis und Emigration der zumeist jüdischen Intellektuellen und ihr Schicksal im Exil bis zur Abfassung der Dialektik der Aufklärung und den Untersuchungen zum Autoritären Charakter. Immer geht es um Geschichte und Geschichten, wo der Kaffeetisch und das entsprechende Kränzchen stets nicht weit sind, wie zum Beispiel in New York, wo dann Paul Tillich mit Karen Horney zusammenkommt, der ehemaligen Geliebten von Erich Fromm. Lustig für die einen und traurig für die andern ist das Emigrantenleben. Die Rückkunft ab 1950 in Deutschland, die ebenfalls viel Stoff bietet (Antisemitismus, Wirtschaftswunder, Heidegger, der für Hannah Arendt Fußnoten für ihren Benjamin Aufsatz zusammensucht etc.) wird in einem Epilog vorerst nur angedeutet. Möglich also, dass hier noch eine Fortsetzung, eine zweite Staffel der Serie geplant ist und dann eine dritte und eine vierte wie bei Rüdiger Safranski.

Akzentverschiebungen
Das hat viel Gutes, weil man durch solche Umwege über die Herzen einen anderen Zugang zu der Welt der heute als große Geister Angesehenen bekommt. Das Herz ist schließlich ein einsamer Jäger (Carson Mccullers). Andererseits macht sich hier unabweisbar eine fragwürdige Restaurierung der Verhältnisse breit. Bereits The Crown ist eine Ausstattungsserie. Adorno selbst beginnt seine Negative Dialektik mit dem schönen Satz: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ Das war auf die versäumte Revolution sowie die Existenzial- und Lebensphilosophie von Heidegger und Co. und die von ihnen unhinterfragten und idealisierten Lebensbedingungen gemünzt. Es gilt nun seit längerem auch für seine eigenen fragilen philosophischen Versuche: Je geringer heute die kritische Geltung des Impulses der Frankfurter Schule in der Soziologie und der Gesellschaftspolitik ist, je weniger kritische Geister in ihrem Gefolge gar noch davon träumen können, einen Lehrstuhl zu ergattern, umso größer die Möglichkeit, sie zumindest als solche Klassiker im Café anzusehen. Das Lied vom Lob des Canapés lässt grüßen.

Eine beliebte Form, um den politischen Sprengstoff zu entschärfen, bestand in der Einengung der entsprechenden Tradition der Frankfurter Schule: heterogene Elemente und die Metaphysik wurden ausgesiebt, soziologische Studiengänge geschlossen, zugleich die ordentliche Erbfolge bis hin zum weiterhin existierenden Institut bis in die Terminologie der Forschungsprojekte hinein neu geregelt. Dort wird nun mit einer Reihe aus den Archiven beim Campusverlag das Erbe der ersten Generation bewirtschaftet. Eine weitere Variante besteht in der aktuellen Diskreditierung der Finanzierung des Instituts als Angriffe im Namen des armen Walter Benjamins mit antisemitischen Tendenzen gegenüber Horkheimer, Pollock und das angebliche Lotterleben der Geldgeber Hermann und Felix Weil.[1] Zuvor hatte bereits die Neue Frankfurter Schule um Robert Gernhardt und Eckhard Henscheid eine immerhin selbstironische Ridiculisierung angestoßen, die gerade deswegen ihre Berechtigung besitzt. Böse fällt diese allerdings beispielsweise neuerlich bei dem englischen Klatschjournalisten Stuart Jeffries aus, der sich bereits im Titel des alten Vorwurfs von Georg Lukács vom Grand Hotel Abgrund annimmt und die Geschichte nochmal mit persönlichen Angriffen aus der pornografischen Sphäre gegenüber Herbert Marcuse würzt.[2]

Wie ein Pfeil fliegt man daher, als ob man selber einer wär'...
Martynkewicz ist dagegen nicht böse gestimmt. In seinem Buch findet eine freundliche Verschiebung statt, die man nun eine Netflixisierung der Frankfurter Schule nennen kann. Vorboten dieser Richtung, die Frankfurter zur neuen Antiquität der Geistesgrößen à la Cicero zu erklären, waren sicherlich Martin Jays Dialektische Phantasie, Peter Gordons und John McCormicks Weimar Thought: A Contested Legacy oder Rolf Wiggershaus erfolgreiche Akzentverschiebung in Die Frankfurter Schule von der Aktualität auf die Historisierung. Das setzt Martynkewicz voraus und baut darauf auf. Im vorliegenden Werk zeigt sich die entsprechende Tendenz ebenfalls bereits im Titel. Der schließlich gefundene: Das Café der trunkenen Philosophen wirft die Frage auf, warum das Buch nicht Das Café der betrunkenen Philosophen heißt? Und warum wird hier nicht gegendert? Haben die LektorInnen beim Aufbau-Verlag nicht aufgepasst? Oder sind nur die männlichen Philosophen betrunken? Die zweite wäre eine Überschrift, die aus einem Buch von Eckart Henscheid stammen könnte. Der würde dann wohl ironisch nachtreten und sagen, es gäbe gar keine Philosophinnen; Hannah Arendt jedenfalls wollte selbst keine sein. Gleisnerisch aber, wie Robert Gernhardt sagen würde, benennt unser Autor aus poetischen Gründen das Buch mit dem Ausdruck aus der Hochsprache. Sein Titel klingt wohl nicht ganz zufällig nach Hölderlins Gedicht Hälfte des Lebens von 1804: „Ihr holden Schwäne, / Und trunken von Küssen / Tunkt ihr das Haupt / Ins heilignüchterne Wasser.“

Bestellungen mit Augenzwinkern
So also werden Klassiker gemacht, die bereits schon solche sind und nun aber auch in andere Medien gehoben werden können. Der Verlag wirbt schon mal auf dem Umschlag wie für einen Film mit vielen Stars: „Mit Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Paul und Hannah Tillich, Gisèle Freund, Max Horkheimer u v. a.“ Ins nicht zu unterschätzende Medium der Speisekarte hat man es anscheinend im real noch existierenden Café Laumer schon geschafft, dort gibt es, wie der Kritiker aus gewöhnlich gut unterrichteter Quelle weiß, das „Frühstuck Adorno“, „Frühstück Habermas“ oder „Frühstück Cohn-Bendit“, selbstverständlich augenzwinkernd, zu bestellen. Dazu passt es allerdings nicht, dass sich zumindest Kracauer mit seinen Freunden gar nicht dort, sondern im Café Westend gegenüber der Oper getroffen hat. Dem Simulacrum solcher Selbstermächtigung tut das alles gewöhnlich keinen Abbruch. Im neuen Medienensemble fehlt also nur noch die Netflix-Fassung als Crossover von Buch und Digitalfernsehen.

For armchair-readers and future-watchers
Zur digitalen Aura des Buches gehört, dass hier die LeserInnen eine Reihe von Informationen und Details bekommen, die sie vorher noch nicht wussten und die jetzt den Blick auf das vormalige Leben, der hier immerhin nicht offen verachteten Geister freigeben. „Armchair-philosopher“ nennt Stuart Jeffries spöttisch Herbert Marcuse; im vorliegenden Buch hat die Perspektive gewechselt und nicht mehr nur die Philosophen, sondern auch ihre LeserInnen sitzen im Sessel, auf dem Sofa oder dem Thonet-Stuhl – vielleicht sogar im Café Laumer – und schauen den inneren Bildern der geschriebenen einzelnen Episoden respektive Kapiteln der Proto-Serie zu. Ist man mit den ganz vergnüglich gehaltenen ersten gut 500 Seiten durch, darf man auf die angekündigte zweite oder sogar eine dritte Staffel gespannt sein. Die spielt vielleicht in Deutschland nach 1960 in Bonn, Frankfurt und Berlin? Da könnte es dann um so brennende Themen wie den Vietnamkrieg, die RAF und das Busenattentat gehen. Das könnte durchaus wieder lustig und lehrreich zugleich werden und vor allem mit einer solchen Konsequenz für das eigene Leben wie die Lektüre eines Harry Potter Romans oder die Netflix-Nachbarserie über Prinz Harry und Megan. Oder vielleicht doch nicht ganz? Sollte man vielleicht nicht das Kritteln lassen und selbst auch mitspielen? Falls die Castings beginnen: der Kritiker würde gerne vorsorglich wegen einer zumindest eingebildeten physiognomischen Ähnlichkeit für die Rolle des jungen Erich Fromm in der Ersten Staffel schon einmal seine Bewerbung abgeben.

Artikel online seit 09.02.23
 

Wolfgang Martynkewicz
Das Café der trunkenen Philosophen
Wie Hannah Arendt, Adorno & Co. das Denken revolutionierten
Aufbau Verlag
459 Seiten
30,00 €
978-3-351-03887-8

 

 


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