Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik                                           Impressum & Datenschutz

 

Home   Belletristik   Literatur & Betrieb  Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  


 







Ein Kaufhauskunstdruck ohne Rahmen

Benjamin von Stuckrad-Barres Schlüsselroman »Noch wach?«

Von Gregor Keuschnig
 

Der passendere Titel für diesen Roman findet sich ganz hinten im Buch: "eine männerige Männergeschichte" sei das, so Sophia, jene Redakteurin, der sich der namenlos bleibende Schriftsteller-Erzähler annimmt (nicht so, wie Sie das vielleicht verstehen!). Der hat nämlich seit fünfzehn Jahren diesen Freund, also einen echten Freund, so einer mit dem man, wie Loriot in der Zoohandlung, durch Dick und Dünn geht, was sich daran zeigt, dass sie ein eingerahmtes Originalrezept von Gottfried Benn besitzen, jenem Dichter und "Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten", eine Reliquie, die je nach seelischer Verfasstheit zwischen den beiden hin- und herwandert. Und natürlich haben sie auch ein Lied, ein gemeinsames Lied, Keep on Dancing von Parov Stelar, und das tanzen sie manchmal zusammen und dann versinkt der Kopf des Erzählers im Jackett des Freundes und er "weint Creme auf sein Hemd" und der Freund streichelt dann seinen Kopf.

Der ebenfalls namenlos bleibende Freund ist der Chef eines Fernsehsenders, so ein deutscher Fox-News-"Brüllsender", eine wahre "Hetzmanufaktur", mit bösartigen Schlagzeilen im Stundentakt, ohne Rücksicht auf Privatsphären. Der Freund beschäftigt dort diesen "wutmaßlichen Chefredakteur", einen ehemaligen Kriegsreporter, der "praktisch alles durfte", wie "rumschreien, bloßstellen, verhöhnen, hetzen" und sich im Krieg mit "linksgrünversifft" befindet, und so weiter.

Es ist unmöglich, den Roman Noch wach? von Benjamin von Stuckrad-Barre ohne die Behauptung, dass es sich um einen "Schlüsselromans" handele, zu lesen. Schon ist man reingefallen. Und damit man wirklich alles GANZ GENAU so versteht, wie es der Erzähler, möchte, sind gefühlt ein Viertel des Romantextes in Versalien, pardon: GROSSBUCHSTABEN, gesetzt - das gibt beim Lesen so ein Sitcom-Gefühl, wenn die künstlichen Lacher für das als blöde eingeschätzte Publikum eingeblendet werden, damit sie wissen, wann es lustig ist, denn ansonsten würde man vermutlich schnell einnicken und irgendwann vom Lebenspartner gefragt werden, ob man noch wach ist (der Titel des Romans ist allerdings anders gemeint). 

Schlüsselroman bedeutet: Die Figuren kann, soll man tatsächlich zuordnen, aber auch wieder nicht, weil es doch Persönlichkeitsschutz gibt (was manche Schreiber reizt, eine Verbots- und Gerichtsschlacht für den Roman zu prognostizieren – das wäre ein Traum, denn dann hätten sie nachrichtlich für Jahre ausgesorgt). Also nur einmal angenommen: Der Erzähler ist Stuckrad-Barre – trotz Wohnung in Berlin weitgehend im Hotel lebend (wie Udo Lindenberg; hat den Vorteil, dass man erst beim Auszug bezahlen muss), der Freund ist Mathias Döpfner, der Springer-CEO und der Chefredakteur ist der Ex-Chefredakteur der Bild, Julian Reichelt. So weit, so schlecht, so ungenau. Den Fernsehsender gibt es im "real life" nicht, es sei denn, Bild-TV mit seinem 0,1% Marktanteil ist gemeint, aber bei Springer ist es ja egal, ob Sender oder Zeitung – da ist alles schlecht und böse. 

Wenn der Erzähler nicht in Berlin lebt dann in Los Angeles, im Chateau Marmont, Bungalow 89, "8221 Sunset Blvd., West Hollywood, CA 90046", einem Lifestyle-Luxusdomizil für diejenigen, die es geschafft haben oder glauben, es geschafft zu haben. Er wohnt neben Drew Barrymore, aber außer einem "Hi" hat es da noch keinen weiteren Kontakt gegeben. Regelmässig trifft man sich mit einer "Foucault-Forscherin", dem Künstler Brandon, der demnächst mit dreidimensionaler, "skulpturaler Lyrik" den Literaturkosmos aufmischen und den Nobelpreis gewinnen wird und Basketballs, einer Redakteurin des Senders (den Namen hat sie wegen ihrer Körpergröße) und es ist wahrscheinlich sehr gut, dass ich nicht weiss, wer diese Figuren im richtigen Leben sind.

Der Pool, das Wetter und der Mond in LA sind angenehm. Nichts stört und so ist der  zweiwöchige "Polster-Auflagenskandal" (im Original in Versalien), als die Hotelleitung die Polster auf den Poolstühlen austauschte, schon ein Höhepunkt sozialer Interaktion. Man darf sich ja nicht alles gefallen lassen. Ab und zu geht der Erzähler "abendessen" mit Bret Easton Ellis (ein nicht pseudonomisierter Freund), der Trumps Präsidentschaft vorhergesagt hatte, ein Prognosegenie also und diskutiert mit ihm die Weltlage. Von Rose McGowan (!) erhält er eine Biographie von Monica Lewinsky mit vielsagender Widmung, die im Nachhinein so etwas wie Vermächtnis ist, obwohl Rose ja nicht stirbt. Einmal findet eine Orgie in einem "Fickbus" genannten Bungalow auf Rädern statt, in dem "über dreißig Milliarden Dollar" versammelt waren, aber der Gentleman kauft Kimberly, die aus dem Bus stolpernd in seinem Zimmer steht, schnell einen Milchreis auf den Schock (fast wäre er an der Security nicht vorbeigekommen); zum Glück hat sie dann noch ein paar Drogen bei Brandon gefunden.        

Zwischendurch reisen Erzähler und Freund (mit dessen Entourage) durch die USA, besichtigen das neu geplante Gebäude (ein Lichtblick im finsteren Blattwald des Romans: das Bullshitbingo des Bauleiters im Kontrast zur "Bauarbeiterfrühstückspause"), bevor dann nach dem Weinstein-Skandal und #MeToo die Redakteurinnen des Senders zum Angriff auf den übergriffigen Schreihals-Chefredakteur mit seinen zwei- oder noch mehrdeutigeren Unverschämtheitsnachrichten, den nächtlichen Weinattacken gegenüber den Frauen und den "Förderungen" der Mitarbeiterinnen (mit Champagner in seiner Privatwohnung im "Dubai-Style" – "dritter Stock, rechts. Natürlich rechts") zum "Pink Tank" (später: "Bonobos") zusammenschließen. Mit dabei der Erzähler als Vermittler oder Schnittstelle zu seinem "Freund", der sich einigermaßen gekonnt immer wieder herauswindet, große Worte ohne Wirkung schwingend. Die Romanmasse ist endlos lange (wenigstens werden die Pandemiejahre übersprungen) bis es zum internen Compliance-Verfahren kommt (von der Öffentlichkeitssuche der Opfer, pardon: "Belastungszeuginnen" vorab raten alle ab) und eigentlich ist die Sache klar, das wissen alle und um das Ergebnis ein bisschen zu beschleunigen, berichtet TransAtlantik (eine dieser holprigen Referenzen von Stuckrad-Barre - hier zu Enzensberger) vom streng geheimen Verfahren und sie sehen all die Granden des Senders bei einer Nachhaltigkeitspreisverleihung plötzlich auf ihre Handys starren, als der Artikel online erscheint.

Der Jubel der Frauen ist verfrüht, der Chefredakteur bleibt, inszeniert sich als Opfer einer Kampagne und einige der Redakteurinnen machen trotzdem weiter beim Sender. Die Freundschaft mit dem Teufel ist "zerbrochen" und der Erzähler geht ins Chateau und auch dort läuft es nicht so #MeToo-mässig korrekt, trotz der neu geschaffenen Position der "Intimitäts-Koordinatorin" bei Filmen. Aber dann sind die nicht ganz 400 Seiten glücklicherweise zu Ende.

Literarisch hat der Roman erschreckend wenig zu bieten. Stuckrad-Barre ist weder Thomas Bernhard, noch Dietl, Kracht oder Goetz. Seine Sprache eine Melange aus Poetry-Schlamm, Comic, Kitsch und Haltungsfeuilleton, wobei man zugegeben einige Anspielungen entdecken kann, aber wer sie nicht entdeckt, hat auch nichts verpasst. Er macht sich nicht einmal die Mühe, die Figuren interessant zu zeichnen und so läuft die Rollenprosa auf gut geölten Schienen. Auf 40 oder 50 Seiten zusammengestrichen, hätte es eine hübsche Story gegeben, aber Tempo existiert nicht mehr.

Die letzte Ausfahrt Richtung Rettung besteht darin, den Roman zum "Sittengemälde unserer Zeit" zu erklären. Tatsächlich ist das aber nur ein billiger Kaufhauskunstdruck ohne Rahmen: Portrait einer hoffnungslos degenerierten und abgehobenen Medienbranche. Außerhalb dieser Blase interessieren die Anspielungen und Indiskretionen niemanden. Die Thematik selber, der Machtmissbrauch von (fast ausschließlich) Männern in Unternehmen, die sexuellen Übergriffigkeiten, wird zur Kulisse degradiert, um die eigene Läuterung nebst Lauterkeit herauszustellen. Aber natürlich soll, nein: muss man jetzt unbedingt dieses Buch gut finden, und das macht der Literaturbetrieb auch, konstatiert mindestens guten Willen, denn wenn man das nicht tut, dann kommt man schnell in den Verdacht, Figuren wie den Chefredakteur oder den "Freund" zu unterstützen und damit das jeder mitbekommt, wird Kritik an dem Buch vorsichtshalber als "gefährlich" geframt und in einem sogenannten Kulturmagazin eines öffentlich-rechtlichen Senders erklärt, dass man ansonsten ein "Arschloch" sei und das will ja niemand sein, schließlich braucht man ja weiterhin Aufträge und dafür schiebt man schon mal alle ästhetischen Kriterien beiseite, falls man jemals davon auch nur eine Ahnung hatte. Also soll jetzt nicht nur der Verrat, sondern auch der Kirsch-Bananensaft-trinkende Verräter geliebt werden.  

Merkwürdig auch, dass die Veröffentlichung des Romans in unmittelbar zeitlicher Nachbarschaft zu der "Enthüllung" der privaten Nachrichten Döpfners an Chefredakteure des Springer-Konzerns steht, aber diese Koinzidenz ist bestimmt zufällig, alles andere ist eine Verschwörungstheorie oder wird zu einer erklärt. "Jetzt holen sich irgendwelche Creeps in so HAUPTSTADTBÜROS da einen drauf runter!", sagt Sophia an einer Stelle. Es ist zugleich auch eine treffende Aussage über dieses Buch. Nur eines hätte mich noch interessiert: Wo hängt jetzt das Benn-Rezept?


Artikel online seit 25.04.23
 

Benjamin von Stuckrad-Barre
Noch wach?
Roman
Kiepenheuer&Witsch
384 Seiten
25,00 €
978-3-462-00467-0

 

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie    Impressum - Mediadaten