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Verloren im Weltinnenraum

Clemens J. Setz
ʼ Roman »Monde vor der Landung«

Von Lars Hartmann
 

Die Welt ist nicht nur das, was der Fall ist, wie ein prominenter Philosoph Anfang des 20. Jahrhunderts in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs einmal in einem philosophisch-logischen Kontext es schrieb, sondern so wie wir die Welt ansehen, sieht sie auch zurück. Das kann im Reich der Kunst zu interessanten Ergebnissen führen:

»I learned that just beneath the surface thereʼs another world, and still different worlds as you dig deeper. I knew it as a kid, but I couldn't find the proof. It was just a kind of feeling. There is goodness in blue skies and flowers, but another force...a wild pain and decay...also accompanies everything.«

So sagte es David Lynch. Lynch hat diese Spekulation in seinen Filmen kongenial umgesetzt.

Nun hat Clemens J. Setz einen neuen Roman geschrieben, er trägt den zunächst rätselhaft klingenden Titel »Monde vor der Landung«. Auch in diesem Werk geht es um eine Welt, die sich nicht mit dem deckt, was die Naturwissenschaften und was der normale Menschenverstand über sie sagen. Held dieses Romans sind tatsächlich existierende Personen, nämlich Peter Bender und seine Frau Charlotte. Der Protagonist scheint ein Sonderling zu sein, er vertritt die These, dass die Welt eine Hohlkugel ist: Wenn wir in den Himmel blicken, sehen wir nicht in die unendlichen Weiten des Weltalls, sondern irgendwann würden wir, wenn wir strikt in die Vertikale eine Luftreise unternähmen, in Australien landen. Wir leben nicht auf einer Kugel, sondern innerhalb derselben. Bender gründet in Worms eine Religionsgemeinschaft – freilich mit mäßigem Erfolg. Darin geht es auch um neue Liebesstrukturen, nämlich die »Quadratform der Geschlechter«, darin die monogame Liebe aufgehoben ist, auch soll es eine Gewerkschaft der Hausfrauen geben, Silvio Gesell Überlegungen zum Freigeld spielen eine Rolle, der Gang zu den Müttern, eine verschrobene Wagner- und Nietzsche-Auslegung: Worms, die Stadt, wo irgendwo das Gold des Nibelungenhorts in Vater Rhein versenkt liegt. Bender wird in den 1920er Jahren wegen der Verbreitung von aufrührerischen und gotteslästerlichen Schriften zu einer mehrmonatigen Haft verurteilt. Das Ehepaar schlägt sich mit Nachhilfestunden durchs Leben, Peter Bender frönt seinen obskuren Projekten. Mit der Machtergreifung der Nazis wird die Lage deutlich schwieriger. Benders Leben und das seiner jüdischen Frau Charlotte enden tragisch.

Bender ist ein seltsamer Mensch und für uns in der Gegenwart, aber auch für die Menschen aus Benders eigener Zeit wirkt er wie eine jener befremdlichen Erscheinungen, wie sie Sekten, Weltanschauungsgemeinschaften und Verschwörungsideologien zuweilen hervorbringen und wie sie im Esoterik- und Hokuspokusboom der 1920er Jahre häufig anzutreffen waren. Doch Bender ist auf seine Weise liebenswert und zugleich schwer verschroben. Ich lese von einem Mann, der nicht alle Tassen im Schrank hat – was für die Literatur eigentlich ein Glücksfall sein müsste.

Und aus diesem Grunde, weil es eine Geschichte ist, die anscheinend sich tatsächlich derart zutrug und weil da ein Protagonist mit einem gehörigen Absonderlichkeitsfaktor auftritt, wie man ihn auch in Romanen von Dostojewski oder Kafka findet, freute ich mich auf die Lektüre. Doch die Freude geriet schnell an ihre Grenze. Ich will diesen für einen Rezensenten misslichen Umstand der Fairness halber nicht einmal nur dem Buch zuschreiben. Manchmal gibt es Literatur, die einen Leser nicht erreicht und die in ihrer Art des Erzählens dennoch nicht schlecht oder gar ästhetisch misslungen ist, die aber nicht das Interesse des Rezensenten erreicht. Etwas fehlt! Ich habe bis zu den ersten 300 Seiten nicht in das Buch hineingefunden. Ich lese, Seite um Seite, und ich lese noch eine Seite und immer weiter, und es ist leider über lange Passagen eine Lesequal und diese Qual mindert sich auch nach 100 Seiten nicht und auch nicht nach 200 Seiten, ich lese etwas, von dem ich nicht weiß, was das soll.

Woran liegt das? Teils ist es jener zuweilen ins Selbstgefällige treibende Setz-Sound, teils ist es das Sprunghafte dieses Romans. Da wird im Krieg der Leutnant Bender ins Oberkommando gefahren und im nächsten Absatz, ohne dass Bender je beim Oberkommando angekommen ist, tätigt er bereits wieder einen Aufklärungsflug. Und man fragt sich, warum nun um alles in der Welt dieses Oberkommando da auftaucht. Man kann diese willkürliche Reihung von Kriegsszenen an der Ostfront im Ersten Weltkrieg, ohne irgendeine erzählerische Konsistenz oder einen dahinterstehenden Zusammenhang, als ein Bild für die Absurdität des Krieges lesen und auch als Motiv durchgehen lassen, weshalb Bender zu dem wurde, was er ist. Man kann solches Denken und Erzählen, aus der Perspektive des Protagonisten, als Ausdruck von dessen Charakter nehmen: sprunghaft, assoziativ und keineswegs normaler Menschenlogik immer folgend. So wie auch die ersten 100 Seiten teils montiert sind und in den Zeitebenen gesprungen wird. Plötzlich ist man in Worms in den 1920er Jahren, dann in Benders Kindheit, man liegt mit Bender bei seiner Geliebten Else, die nach Ziege roch, wir lesen von Elses geisteskrankem Bruder. Von der Konstruktion und vom ästhetischen Sinn her überzeugt mich diese Art des Erzählens jedoch nicht. Die Kunst gelungener Literatur besteht darin, den Irrsinn eines Protagonisten nicht nur im Irrsinnsmodus zu erzählen, indem in personaler Erzählweise das Denken dieses Peter Bender uns anschaulich gemacht wird – ein Denken, dass sich, so vermute ich, stark auch mit dem Assoziationsreichtum des Autors deckt –, sondern, gleichsam auktorial, als Romancier hinter die Geschichte zurückzutreten. Setzʼ Vorgehen überzeugt mich hier nicht. Es mag auf die kurze Distanz der Erzählung tragen, wie Setz dies in seinem teils großartigen Erzählungsband »Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes« schaffte. In seinem neuen Roman funktioniert dieses Verfahren nicht.

In den Roman sind immer wieder authentische Dokumente und Photographien eingebaut. Aber die Art, in der Setz diese Geschichte erzählt, lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass wir es in diesem Fall mit einem klassischen Roman zu tun haben. Und selbst wenn man diese tragische Biographie der Benders nicht als Fiktion nur lesen mag, so ist die Form klar literarisch. Für das, was erzählt wird, ist es unwesentlich, ob es Peter Bender gegeben hat oder nicht. Es ist in etwa so wie in Kleists Novelle »Michael Kohlhaas«, »einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit«. Was man Setz aber zugute halten muss, ist der Umstand, dass er an einen solchen Menschen, der uns ansonsten kaum noch präsent wäre, überhaupt erinnert: jene Skurrilen und Seltsamen, jene Außenseiter und Spezialisten. Ähnlich wie mit den Zeugen Jehovas, die ebenfalls Opfer im nationalsozialistischen Deutschland waren, aber als Opfer im öffentlichen Diskurs kaum wahrgenommen wurden. Das reicht bis in die Gegenwart.

Immer wieder berührt der Roman die Zeitgeschichte: Benders Zeit im Ersten Weltkrieg, seine schwere Kopfverletzung nach einem Abschuss, im Lazarett in Polen, das damals noch nicht Polen hieß, sondern zum Reich gehörte, dort lernt er seine zukünftige Ehefrau Charlotte kennen, die ihn als Krankenschwester versorgte. Sie ziehen nach Worms, auch weil Juden in Polen nur bedingt wohlgelitten sind – am Rande schildert Setz Ausschreitungen der polnischen und antideutschen Bevölkerung gegen Juden –, die Rheinlandbesetzung durch die Franzosen, der Schmuggel von Waren und Drogen ins Saarland und nach Frankreich, um Geld zu verdienen, die Inflation von 1923 und die Machtergreifung der Nazis. Das macht Setz gut: beiläufig geschieht dieser Wandel der Gesellschaft, es ist das Jahr 1933, auf einem Astrologie-Kongress wird einem mutmaßlichen Juden mit dem Namen Silber kein Stuhl mehr angeboten, es sind plötzlich nicht mehr genügend vorhanden, Bender bietet den seinen an. Und da Charlotte Jüdin ist, bleiben die Nachhilfeschüler Monat für Monat weg. Die Benders verarmen. Stärken hat der Roman dort, wo er in kleinen Szenen jene Zeit zum Ausdruck bringt: etwa als Bender 1933 bei einem der Treffen in Augsburg mit Gleichgesinnten wegen seiner jüdischen Frau zunehmend geschnitten wird. Oder als im Winter 1934 die jüdische Vermieterin Frau Blun, die seit Ewigkeiten in diesem Haus wohnt, von Männern in SA-Uniform gezwungen wird, Schnee zu schaufeln. Bender beobachtet die Szene aus dem Fenster, ohne sie aber recht erfassen und einordnen zu können. Er denkt zunächst, die Blun schippe freundlich Schnee wie immer. Einer der dabeistehenden Jungs ist Benders ehemaliger Nachhilfeschüler Hasso. Bender bemerkt langsam, was da geschieht. Die alte Frau ist erschöpft, sie kann nicht mehr, und als Bender aus dem Haus tritt, sieht er, dass die Brille der Frau zerbrochen ist und dass die alte Frau blutete. Bender folgt der Aufforderung der SA-Jungs zu verschwinden.

»Erst als er in die Wielandstraße einbog, fiel ihm ein, dass er seine Handschuhe nicht dabeihatte. Was wollte er überhaupt hier? Warum war er –? Richtig, die Gesten. Die Jungen. Sie waren zornig.«

In solchen Szenen zeigt sich der hilflose und naive Charakter dieses Mannes. Irgendwie weiß er, was geschieht, aber er erfasst es nicht. Übersprunghandlungen: jetzt doch noch eine Zeitung kaufen, damit das Hinaustreten vor die Tür in irgendeiner Weise motiviert und gerechtfertigt ist. Es tritt in solchen Szenen vor allem die unendliche Hilflosigkeit Benders zutage. Wenig später wird er verhaftet und wegen Betrugs und Steuerhinterziehung eingesperrt. Dass ihm der Gefängnisarzt zuhört und sich seine Hohlweltgeschichten wie auch die Überlegungen zur Quadratur der Geschlechter anhört, deutet Bender als Teilnahme. Er wird für einige Zeit ins Irrenhaus gesperrt. Der Abstieg geht mühelos und immer eine Sprosse tiefer. Und Tag für Tag, Monat für Monat etabliert sich ein politisches Wahnsystem, gegen das die Hohlwelt-Spinnereien des irgendwie bekloppten, aber doch freundlichen Peter Bender sich nachgerade harmlos ausnehmen. Bender ist auf eine wahnhafte Weise von seiner Mission erfüllt und bemerkt dabei immer weniger, was um ihn herum in der tatsächlichen Welt geschieht, wie ihm sein Privatleben und sein gesellschaftlicher Stand entgleiten. Eine letzte Reise zu den bereits alten Eltern und in die Heimat. Darin liegt eine Melancholie und es schwingt das Bewusstsein von Abschied mit.

»Dass er, obwohl technisch gesehen schon abgereist, noch immer seine Mutter sehen konnte, setzte nun auch das Gefühl der Angst frei, dass er bisher hatte zurückhalten können, und es war eine wahnsinnige amoknahe Angst. Sie kannte kein Maß, keinen Trost. Das alles kommt nie mehr wieder!, begriff er. Das heißt, es würde weiterbestehen, aber ohne ihn. Ohne mich. Es war entsetzlich.«

Die Ausgrenzung der Juden nimmt Gestalt an. Im letzten Drittel des Romans gelingt es Setz, mit pointierten Schilderungen dieses Verfolgtsein anschaulich zu machen. Die Wohnungen, in der die Benders leben, werden kleiner, von Worms geht es nach Frankfurt, wo sie in einem Zimmer leben, das ihnen eine streng religiöse Familie aus Nächstenliebe überlässt. Die Bombardierungen durch die Alliierten und dass beide in getrennte Luftschutzkeller müssen. All das streift Setz in einer Art Schnelldurchlauf. Rettung gibt es für diese beiden Menschen keine. Charlotte Bender: Eine Jüdin. Peter Bender: einer dessen Krankheit des Kopfes ihn ins KZ bringt. Es ist Herbst 1943 und im Sprung geht es durch die Zeit, knapp wie eine Zeitungsmeldung oder eine krude Inhaltsangabe:

»Charlotte ist zu diesem Zeitpunkt Zwangsarbeiterin in einer Nähfabrik in Frankfurt-Niederrad. Im März 1944 erhält sie die Nachricht, dass ihr Mann im Lager Mauthausen gestorben ist. Man schickt ihr eine Sterbeurkunde und einen Behälter voller Asche. Kurz darauf wird sie von Frankfurt ins KZ Theresienstadt deportiert, von dort später nach Auschwitz. Ihr Sohn wird ebenfalls verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Nur er überlebt das Lager.«

Und so enden diese beiden Leben tragisch. Die Hölle der Weltimmanenz ist womöglich eine reale. Vielleicht hatte Peter Bender am Ende doch recht – zumindest metaphorisch genommen und was die politische Lage betrifft: ein entsetzlicher Weltinnenraum. Aus dem es für Menschen wie Peter und Charlotte Bender keinen Ausweg gab.

Setzʼ Roman wurde am 23. März für den Leipziger Buchpreis nominiert. In der Jury befindet sich auch der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler, der kürzlich jenen in den 1960er Jahren schon einmal etablierten Begriff des Midcults in die Literaturdebatte einbrachte. Unter Midcult sind solche Romane zu verstehen, die gut lesbar sind, verdaulich daherkommen, aber doch eine gewisse intellektuelle Tiefe andeuten: eine Literatur der Mittelklasse, die den Lesern das Gefühl gibt intellektuell auf der Höhe der Zeit zu sein, ohne dabei aber durch scheinbar komplizierte ästhetische Form überfordert zu werden. Ob Zeitgeistphänomene wie Verschwörungsideologien, Sekten und obskure Spinner und ob der Stil von Setz sowie die Form von dessen Roman unter Midcult fallen, sei dahingestellt.

Allerdings: ich erkenne in diesem Buch keinen »große[n] Wurf, insbesondere für die Möglichkeiten des historischen Romans«, wie es die Jury des Leipziger Buchpreises schreibt, sondern sprachlich ist dieses Buch teils flapsig erzählt, stellenweise auch banal – man kann das als Figurenrede deklarieren, da wir Leser diese Geschichte aus der Perspektive jenes seltsamen Peter Bender geschildert bekommen. Hier freilich hätte eine gewisse erzählerische Distanz zur Figur gutgetan, gleichsam das Thomas Mannsche Beschwören des Imperfekts. Es wurde durch solches Setzsches Einziehen der Distanz und durch jenen Setz-Sound, der die Sache überformte, die Chance vergeben, eine spannende Geschichte zu erzählen. Es erinnert mich diese Art zu erzählen an Heinz Strunks Roman »Der goldene Handschuh«, der die berührende und entsetzliche Geschichte eines Mörders aufschreibt, ein kranker und geschundener Mann, der Frauen zerstückelt, sie in Säure auflöst und in der Mansarde seiner Wohnung aufbewahrt. Doch über diese erzählenswerte Geschichte legt sich an vielen Stellen jener Strunk-Sound und jener humorige Ton. Das eben macht das Erzählen und die Sprachform kaputt und torpediert sie. Ähnlich verhält es sich mit den Setzschen Gewitztheiten und seinen manchmal tollkühnen, oft aber auch nur verschrobenen Assoziationen. Der Roman vergibt sein Potential aufgrund jener Manierismen, die allzu oft leider selbstzweckhaft das Erzählen bestimmen. Die Literaturkritik lobte diesen Roman mit Überschwang. Mir unverständlich, mich hat dieses Buch nur in wenigen Passagen berührt. So etwa in der Szene, als Bender zu seinen Eltern reiste. Da hat dieses Erzählen funktioniert. Ich lege das Buch, nachdem ich mich durch die 2528 Seiten gelesen habe, weg und bemerke, frei nach Alfred Kerr, dass es doch nur 528 Seiten waren.


Artikel online seit 28.03.23
 

Clemens J. Setz
Monde vor der Landung
Roman
Suhrkamp
528 Seiten, Mit Abbildungen
26,00 €
978-3-518-43109-2

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