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Versehrte Natur, überschwängliche Philosophie

»Der wirbelnde Strom des Werdens« Wolfdietrich Schmied-Kowarzik über
Schellings Naturphilosophie und Schellings materialistische Nachfolger.

Von Peter Kern

 

Eine philosophische Debatte vor mehr als 200 Jahren, folgenreich bis in die Gegenwart: Dem einen Philosophen ist die Natur nur ein realitätsloses Nichts, dem anderen ist sie das Alpha und Omega. Bei Fichte hat ein überindividuell gedachtes Ich den obersten Rang eingenommen; bei Schelling wird solche Inthronisierung dem Sündenfall gleichgesetzt. Der eine ätzt gegen den anderen: Mit der lebendigen Natur ein philosophisches System anzufangen, sei ein »Denken der Schwärmerei«. Schelling keilt gegen einen Idealismus zurück, der »das Band der Creatürlichkeit vernichtet, und aus Uebermuth alles zu seyn, ins Nichtseyn fällt.« Wer denkt bei einem solchen Satz nicht an die heillos geschädigte Biosphäre?

Ohne Zweifel, die Philosophie Schellings klingt für ökologisch sensible Ohren sofort eingängig. Der Autor Schmied-Kowarzik setzt seit vielen Jahren auf eine Renaissance dieser Naturphilosophie, und sein Motiv ist ein wirklich politisches, kein verkaufspolitisches. Er sieht mit Schelling in der Natur einen zutiefst gefährdeten Wesenszusammenhang, dem durch eingreifendes menschliches Handeln eine Rettung zukommen soll, eine Rettung, zu der die recht verstandene Natur gleichsam die Hand reicht. Recht verstanden wird die Natur, so der Autor, wenn sie nicht bloß physikalisch aufgefasst wird, sondern als eine die menschliche Gesellschaft mit umfassende Ganzheit.

Es gibt demnach eine Philosophie der Natur, die theoretisch gut begründet und praktisch anleitend ist. Gibt es sie wirklich?

Der Autor will unter Rückgriff auf Schelling der von ihm »Naturvergessenheit« genannten Weltauffassung Paroli bieten. In dieser Welt verhält sich das ubiquitäre Reden über Nachhaltigkeit zum entsprechenden ökonomischen Handeln umgekehrt proportional. (Die neuesten, elektrifizierten Automodelle werden, wie gehabt, anderthalb Tonnen wiegende SUVs sein). Eine mit der Natur solidarische Gesellschaft dagegen wäre keine von permanenter Produktivität, sondern von viel Rezeptivität geprägte Gesellschaft. Das Bedürfnis nach einer solchen Gesellschaft leitet den Autor bei seiner von Schelling inspirierten Suche nach einer der krisenhaften Gegenwart angemessenen Philosophie.

Das an seiner endlosen Progression arbeitende Kapital macht Schmied-Kowarzik für die der Naturvergessenheit eigene Verwüstung verantwortlich. Auch das wissenschaftlich-technische Verhältnis zur Natur sei grundlegend gestört. Eine nichtentfremdete Naturwissenschaft und eine mit der Natur verbundene Allianztechnik schwebt ihm vor. Er knüpft damit an Ernst Bloch an. Könnten die einer ökologischen Moral folgenden politischen Kräfte nicht bei Bloch, bei Schelling und bei dem Autor selbst eine ihre Interventionen stützende und theoretisch ausgewiesene Naturlehre finden?

In dem die Aufsatzsammlung eröffnenden Beitrag nennt Schmied-Kowarzik die Naturgesetze »Verstandesgesetze«; sie als Naturgesetze zu verstehen, sei ein Missverstand. Demnach siedelt er diese Gesetze auf der Subjektseite an, ganz wie Kant es getan hat. Dieser wollte ihre ewige Gültigkeit begründen, während der Autor die gegenteilige Absicht hegt: Er will ihre absolute Gültigkeit relativieren. Ihnen käme keineswegs ontologische Gültigkeit zu. Was leicht zu verstehen ist. Unser Begriff der Gravitation ist vor Einstein ein anderer als nach der Relativitätstheorie. Ewig gültige, nicht bloß dem menschlichen Verstand, sondern der Natur selbst zukommende Gesetze sieht er dagegen in Schellings Lehre von den Potenzen formuliert.

Die Vernunft weiß, was die Natur im Innersten bewegt? Die theoretische Vernunft müsste dazu eine ihr gezogene Grenze überschreiten, was sie laut Kant nicht vermag. Laut Schelling kommt ihr dieses Vermögen zu, und Schmied-Kowarzik geht diese Grenzverletzung mit. Die der Vernunft gesetzte Schranke hat die deutsche idealistische Philosophie in ihrem Fortgang nicht akzeptiert. Die sich als materialistisch verstehende, gesellschaftskritische Philosophie ist dagegen Kant mit gutem Grund gefolgt. Gibt nun die vorherrschende Naturverheerung einen Rechtsgrund ab, dem Idealismus nachzueifern und sich ein absolutes Wissen anzumaßen?

Die Potenzenlehre mache das Werden des Kosmos verstehbar. Sie würde leisten, was den an die phänomenale Welt fixierten Naturwissenschaften versagt bleibe. Letztere hielten sich gleichsam mit dem Gegenständlichem auf, könnte man mit dem Autor sagen. Aber die Welt hinter den Phänomenen sei nicht die der Gegenstände, sondern die des Werdens der Gegenstände. Die Materie als Baustoff der Natur sei eine bewegte, keine stillgestellte. Und die bewegenden Kräfte seien eben die Potenzen.

Mit seinem Gewährsmann kommt er auf drei. Die erste kosmische Kraft sei die explosive, nach außen wirkende, die produktive. Die zwei stehe dieser expandierenden entgegen und sei als Repulsionskraft zu verstehen. Der dritten käme eine verbindende Funktion zu; sie verhindere, dass sich die Potenzen eins und zwei gegenseitig neutralisierten. Also zwei Grundkräfte und ihre stete Aufhebung und Erneuerung als das entschlüsselte Geheimnis von Genese und Fortdauer des uns umfassenden Kosmos.

Die Potenzen sind aber ganz spekulative Kategorien, die den versprochenen Beweis schuldig bleiben. Zu beweisen wäre: Die Natur muss als sich selbst hervorbringend begriffen werden. Diese Theorie ist aber nicht zu belegen, und schon gar nicht im Einklang mit der von Geologie und Biologie gelieferten Forschung. Naturphilosophie müsste sich irritiert von dem Gedanken zeigen, dass zwischen dem menschlichen Geist und dem physikalischen Stoff Heterogenität herrscht und das Komplexe von einer höheren Qualität ist als die Elemente, aus denen es hervorging. Und die dem Leser präsentierte, mit ihren Potenzen begabte Natur, ist zwingend als Materie, als physikalischer, die Gesetze der Physik oder der Chemie nutzender Stoff anzusehen. Wäre diesem Stoff eine Idee eingebildet, wäre es mit dem Materialismus vorbei. So denkt der mit einem Schöpfergott liebäugelnde, späte Schelling, aber der wird in den Aufsätzen dieses Buchs arg stiefmütterlich behandelt.

Schmied-Korwazik belässt es nicht bei einer negativen Metaphysik; die würde sich nicht anmaßen, die Natur in ihrem Ansichsein zu deduzieren. Er formuliert eine positive Metaphysik. Diese ist ein Zwitterwesen, halb physisch, halb metaphysisch. So verweist die erste, expandierende Kraft auf den von der Astrophysik postulierten Urknall. Oder es werden die Gravitation, die bipolare Elektrizität und die chemischen Verbindungen als Beweismittel für die Wirkkraft der Potenzen angeführt. Der Autor baut sich eine Brücke zwischen zwei Welten, aber diese erweist sich als überaus wankend.

Schellings Potenzenlehre, schreibt er, gälte es mit den Mitteln der Physik fortzuentwickeln. Und auch die anderen Wissenschaften hätten an dieser Lehre einen Leitfaden: Die Chemie, die Biologie, die Psychologie, die Soziologie. Schmied-Kowarzik differenziert nicht zwischen erster und zweiter Natur. Das ist in einer Ontologie ganz konsequent gedacht, aber deshalb nicht weniger verkehrt. Die Marxschen, zwischen Gebrauchs- und Tauschwert, zwischen konkreter und abstrakter Arbeit unterscheidenden Kategorien spielen bei ihm gar keine Rolle. Damit verfehlt er eine entscheidende Differenz: Die abstrakte Arbeit scheint Werte zu produzieren, ohne dass ein Kristall an Naturstoff in diese Tauschwerte einzugehen scheint. Die konkrete Arbeit vermag dieses Kunststück (das in jeder ökonomischen Krise zuschanden wird), nicht zu vollbringen. Sie bearbeitet den Naturstoff und den findet sie ohne ihr Zutun vor. Sie muss dabei die »innere Form« des Naturstoffs beachten. So heißt es bei Marx und mit dieser der menschlichen Vernunft verschlossenen inneren Form klingt der Einspruch gegen die von monsieur le capital zu verantwortende Naturvergessenheit an. Der Schelling-Rezipient vollzieht diese kritische Unterscheidung nicht nach, sehr zum Schaden seiner mit so viel Recht vorgetragenen Kritik der um die Natur unbesorgten politischen Ökonomie.

Die erste auf die Gründungsväter der Kritischen Theorie folgende Generation hat eine gründliche Kritik einer materialistischen Philosophie formuliert, die den Marxschen Begriff der Dialektik glaubte auf die erste Natur übertragen zu können. Sie hat ein Missverständnis ausgeräumt, an dem der best buddy von Marx mitschuldig war. Diese Kritik hat der Autor des hier besprochenen Buchs gar nicht aufgenommen.

Wie kommt nun die Philosophie der Natur zum politischen, die Natur aus ihrer Verheerung rettenden Handeln? Schmied-Kowarzik hält es wieder mit Bloch. Die Natur habe es zum mit Bewusstsein begabten Menschen gebracht. In diesem Bewusstsein schlage sie gleichsam die Augen auf. Damit sei die praktische Vernunft - das die Natur mit umfassende Sittengesetz - als Potenz in der Welt. Fehlt also nur noch deren Aktualität. Hier bricht der Autor mit seiner Naturmetaphysik und bedient sich bei der nachmetaphysischen Kommunikationstheorie: »Das Sittengesetz wird also von uns in sittlicher Kommunikation aus der uns innewohnenden praktischen Vernunft herausgehoben – analog zu den mathematischen Operationen, die ja auch im Laufe der Menschheitsgeschichte immer weiter aus der uns innewohnenden theoretischen Vernunft heraus entwickelt werden müssen.«

Der Autor hat mit dieser seine Theorie immer aufs Neue variierenden Aufsatzsammlung eine verkappte Evolutionstheorie vorgelegt. Dabei wollte er doch eine Philosophie schreiben, die der Spontaneität der gegen den Systemzwang ankämpfenden Menschheit eine gleichsam ontologische Rechtfertigung liefert. Das geschieht in bester Absicht. Die hier formulierte Utopie einer nicht entfremdeten Technik und Naturwissenschaft lebt vom einem gefährlichen Überschwang; denn auf Überschwang folgt leicht Melancholie und dann Resignation. Und davon gibt es schon genug.

Artikel online seit 24.02.23
 

Wolfdietrich Schmied-Kowarzik
Der wirbelnde Strom des Werdens
Schellings Naturphilosophie und Schellings materialistische Nachfolger
Königshausen&Neumann
238 Seiten
34,00 €
978-3-8260-7784-5

 


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