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Bewundernswerte Liebesmüh'

Jan Philipp Reemtsmas Ahnen-& Enkeldienst für Christoph Martin Wieland

Von Wolfram Schütte
 

Der überschaubaren Zahl von Kennern & Liebhabern Arno Schmidts war der junge Hamburgische Multimillionär Jan Philipp Reemtsma zuerst bekannt geworden als ungefragter Mäzen des späten Bargfelder Meisters. Reemtsmas Passion für den Solipsisten in der Heide entfaltete sich kontinuierlich erst recht nach dem Tod von Arno & Alice Schmidt, als er sich durch die Gründung & Praxis der Arno Schmidt Stiftung um das stetig gesicherte Andenken von Werk & Lebenszeugnissen des Paars sorgte. (Und, nicht zu vergessen, zusammen mit den zwei engen Freunden Kersten & Rauschenbach jahrelang als mobile, lesende Dreifaltigkeit ad majorem schmidti gloriam in Literaturhäusern auftrat.)

Aber der hochherzige »Schmidtianer« wollte nicht nur als herausragender Verehrer des 1979 gestorbenen Schriftstellers gelten. Quasi nebenbei hat er auch noch sowohl das Hamburger Institut für Sozialforschung & dessen Verlag als auch seine Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur gegründet & gelegentlich im linken publizistischen Feld manchem Projekt zeitweise mäzenatisch unter die Arme gegriffen.

Jan Philipp Reemtsma studierte Germanistik & schlug eine akademische Karriere ein. Sie wurde unterbrochen durch seine lebensbedrohliche erpresserische Entführung & monatelange Inhaftierung auf engstem Raum, über die er als Freigekaufter ein bewundernswertes Buch schrieb. Zuvor war er mit seiner Dissertation über Wielands letzten (Brief-)Roman »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen« (1993) dort angelangt, wo Arno Schmidt bereits sein Entdeckerfähnlein aufgerichtet hatte - & jetzt der reife Reemtsma 30 Jahre später seine umfangreichste kulturhistorisch-erzählerische Arbeit lokalisieren würde: die 704seitige Biographie Christoph Martin Wielands.

Wie bei Arno Schmidts »biografischem Versuch« über »Fouqué und einige seiner Zeitgenossen« dürfte auch bei Wieland die Zahl seiner heutigen Kenner & Liebhaber wesentlich bescheidener sein als die jedes seiner literarischen Zeitgenossen Goethe & Schiller, Kleist & Hölderlin oder Jean Paul. Auch wenn das Interesse an manchen von Wielands gräzistischen erzählerischen Ausschweifungen größer sein dürfte als an Fouqués Ritterromanen, wird es wohl heute niemanden geben, der dem Wielandkenner & -liebhaber Reemtsma auch nur das Wasser reichen könnte.

Das heißt, dass »der Kritik« wenig anderes übrig bleibt, als ihre Bewunderung für den Autor & seinen eloquent-eleganten Umgang mit dem weitgehend verschüttgegangenen »Klassiker« zu formulieren. Das Publikum hat sein Interesse durch eine dritte Auflage in kurzer Zeit offenbart.

Es will einem sogar scheinen, als habe Reemtsma sich auf vielerlei Art dem spezifischen intellektuellen & stilistischen Fluidum der künstlerischen Geisteswelt Wielands ebenso ironisch wie spielerisch angeschmiegt, damit, was er zu sagen, zu berichten & zu bemerken hat, ihm ebenso intellektuelles Formulierungs-Vergnügen machte wie dem halbwegs gebildeten Leser die Lektüre des schwergewichtigen Buchs bereiten kann.

Das beginnt schon damit, dass Reemtsma für sein Unternehmen 3 Motti (von Wieland, Arno Schmidt & Peter Rühmkorf) dort platziert, wo Wieland Horaz oder Lukian etc. als seine Schutzheiligen zitiert hatte. Alle Motti akzentuieren Sinn & Zweck des Buches: Wieland hofft auf Gerechtigkeit für sich bei der Nachwelt, Schmidt sieht in ihm »einen der ganz raren Fälle, wo intellektuelle Poesie verwirklicht wurde« & Rühmkorfs Zitat präludiert Ton & Musik, wonach der Autor Reemtsma verfahren ist: »Wenn dir was gefällt, dann äußer das auch lauthals, lebhaft und verliebt – und im übrigen, wir dienen denen, die uns zugefallen sind«.

Reemtsma geht als Erzähler im Wesentlichen chronologisch vor: von der Kindheit & Jugend nahe & bald in Biberach an der Riß, wo der Pfarrerssohn, der in seinen bäuerlichen Verwandten »grobe Knallfinken und Lümmel« sieht, ohne wesentliche Vorkommnisse aufwuchs. Was er darüber später zum Besten gab, zitiert sein Biograph mit ironischen Augenzwinkern – ein liebevoll-distanziertes Verhalten des Erzählers zum Objekt seiner Darstellung.

Immer mal wieder fragt er sich & den Leser zu den Überlieferungen & Äußerungen von & über Wieland: »Ist das glaubhaft?« oder er kommentiert eine Wielandsche Selbsteinschätzung z.B. mit der ironischen Bemerkung: »So kann man es auch sehen«. Einmal windet der Biograph sich buchstäblich: »Man liest diese Geschichte nicht gern; man referiert sie nicht gern«: wie der junge Dichter, der »Enthaltsamkeit« predigte, aber eine von ihm geschwängerte katholische Sängerin sitzen ließ & von den Eltern die Braut sich vorschreiben ließ. Die damals »hautnah« erlebte religiöse Verwicklung des folgenreichen Geschlechtsverkehrs, der zur Tragödie einer seiner ersten Liebesverhältnisse wurde, dürfte womöglich nicht unwesentlich für Wielands spätere religiöse Indifferenz gewesen sein – vermute ich.

Die »christlichen Herzensergießungen« Wielands – wie Reemtsma mit Wackenroders Worten die ersten literarischen Gehversuche seines nach Zürich & Bern (Hauslehrer) gegangenen frühreifen & klassikfesten Klopstockianers nennt - hätten »etwas außerordentlich Verkrampftes, unter dem seine Kunstliebe arg leidet«. Der Biograph bemerkt aber schon in diesen Vers-Stücken einen Ton- & Erzählduktus, der absolut neu in der deutschen Literatur des 18.Jahrhunderts ist.

Aber vollends erblüht die Wielandsche Kunst der sprachlichen Zivilisierung des Deutschen – das er hell, elegant, springlebendig & gelenkig machte, wie ein Tanzmeister nach seiner Choreografie das Ballettensemble von Wörtern & Sätzen zu Sprachmelodien verführt – erst, als Wieland 1760 nach Biberach zwar zurück- & von seiner Bigotterie sich abgekehrt hatte. Wieland war entschiedener Aufklärer & als umfassender Kenner der griechischen & römischen Antike (Übersetzer u.a. Lukians, Horaz', Ciceros & Aristophanes') ein Weltbürger, für den der »Patriotismus« nur eine »Modetugend« war.

Von nun an und in den folgenden Jahrzehnten erschienen zahlreiche Romane, Erzählungen, Dialoge & Versdichtungen (u.a »Agathon« oder »Musarion«), die ihn bekannt machten & ihm zuerst einen Ruf als Philosophie-Professor nach Erfurt eintrugen, bevor ihn dann die verwitwete Herzogin Anna Amalia zur Erziehung ihrer beiden Söhne nach Weimar rief & er damit wenigstens ein festes Gehalt hatte, mit dem er die stetig wachsenden Schar seiner 10 Kinder ernähren konnte.

Sobald er nach dem Regierungsantritt Carl Augusts, des Goethefreunds, durch eine erste Gesamtausgabe das nötige Geld dazu besaß, verließ er das Intrigennest des Weimarer Hofs 1798 zugunsten eines ländlichen Gütchens im nahe gelegenen Oßmannstedt. 1803 zog der Verwitwete dann zurück nach Weimar, wo er 1813, halbwegs bereits vergessen & zuvor schon von den katholisch-deutschnationalen Romantikern als out of time & Aufkläricht verachtet, gestorben ist. Nur Goethe hat dem Freund entschieden nachgerufen.

Christoph Martin Wieland, der einen beträchtlichen Teil seines Oeuvres mit Übertragungen z.B. Lukians oder Ciceros bestückte, war aber auch der erste Shakespeare-Übersetzer & der Gründer der mit seinen zweitausend Abonnenten überall im politischen Fleckenteppich Deutschland gelesenen Zeitschrift »Der teutsche Merkur« ein großer »Kommunikator« aufklärerischen Denkens wider den duodezhaften Provinzialismus. Mit seinem »teutschen Merkur«, in dem er auch manche seiner fiktiven Erzählwerke vorabdruckte, begleitete er die Französische Revolution ebenso enthusiastisch & wohlwollend wie kritisch, ohne dass ihn (wie auch Jean Paul) die Jahre des Terreur von seiner grundsätzlichen Sympathie abgebracht hätten.

Aufgrund seines liberal-toleranten Temperaments wurde der gebürtige Schwabe zum guten Geist der nachmalig so genannten »Weimarer Klassik« von Goethe, Schiller & Herder. In Heinrich von Kleist hat Wieland (anders als die »Dioskuren«, die den älteren Kollegen öffentlich bespöttelten) das dramatische Genie erkannt, & als politischer Beobachter der wechselhaften Französischen Zustände die Machtergreifung Napoleons vorausgesagt. Der siegreiche Korse hat ihn, wie den Autor des »Werther« einer Privataudienz für würdig erachtet – ohne dass der alte skeptische Wieland dem französischen Charmeur erlegen wäre, wie der geschmeichelte Goethe.

Reemtsma hat also den »Kontinent« Wieland in seiner ganzen Vielfalt uns vor Augen gestellt: den Mann & Charakter in seiner Zeit & seinem geistigen Ambiente. Wielands Oeuvre wird von seinem Biographen ebenso kritisch kommentiert wie sympathetisch betrachtet. Es gehe ihm darum, schreibt er in einer Nachbemerkung, »ein Werk wieder lesen zu lernen und damit den Sinn für die Wahrnehmung spezifischer Schönheiten zu gewinnen, die nun einmal besonders in diesem Werk zu finden sind. Darüber hinaus soll sein Buch »zeigen, welche singuläre Rolle dieses Werk in einer bestimmten Epoche gespielt hat – so singulär, dass der Untertitel >Die Erfindung der modernen deutschen Literatur< wohl gerechtfertigt ist«. 

Besonderes Augenmerk legt der Philologe Reemtsma auf die detaillierte Darstellung der einzig-, bzw. neuartigen Kunstfertigkeiten, auf die sich der Schriftsteller zurecht selbst so viel einbildete, dass ihm das wiederholte mündliche Eigenlob als Eitelkeit von seinen Besuchern ausgelegt wurde. »Von der Müh und Arbeit, die ich auf dies opus wende«, schreibt er zum »Oberon«, den Goethe für sein bestes Werk hielt, »hat schwerlich izt ein Dichter oder Dichterling im Römischen Reich einen begriff. Die Herren haben sichs größtentheils (…) so leicht als möglich gemacht, ich hingegen mache mirs so schwer als möglich«.

Der Sprachvirtuose Wieland hat sein größtes Vergnügen, wenn bei seinen Übersetzungen »Poesie wie Prosa lesbar« ist. Deshalb zitiert Reemtsma mehrfach Brechts Diktum: »Schönheit ist die Bewältigung von Schwierigkeiten«. Wielands Horaz-Übersetzungen & Kommentare erscheinen ihm sogar »so einzigartig wie Sartres >Idiot der Familie<«. Reemtsmas Begeisterung für Wielands Lust an einer vielperspektivischen Weltdarstellung & analytischen Diskussion eines Problems, lässt ihn das Wort »Kasuistik« geradezu inflationär über seinen Text streuen.

Allerdings fragt Reemtsma sich nicht einmal, ob der Wieland-Exeget Arno Schmidt möglicherweise das Modell seiner dreistimmigen kolloquialen Funkessays von diesem Autor & seinen wiederholten fiktionalen Gesprächen hat anregen lassen. (Weil Schmidt mit seinen stereotypischen Ignoranten & Besserwissern nie an die psychologische Subtilität Wielands heranreichte?)

Selbstverständlich wandelt Reemtsma nicht nur auf den Spuren Arno Schmidts, sondern auch denen früherer Wieland-Biographen, vor allem Friedrich Sengles, die er kritisch (ab)mustert – wobei der Emeritus quasi im Vorbeigehen sowohl mit der Germanistik generell als auch mit der Geschichtsschreibung ein Hühnchen zu rupfen hat. Will sagen: »Nur Lumpe sind bescheiden« (Goethe). Selbstverständlich ist Jan Philipp Reemtsma kein Lump.

Bei der Beantwortung der Frage, warum aber Wieland noch zu seinen Lebzeiten erleben musste, dass er in ein Schattendasein abrutschte, bietet sein Biograph verschiedene Gründe an. Sie treffen gewiss alle mehr oder weniger zu. Z.B. die teleologische Literaturauffassung des 19. Jahrhunderts, der Verteilungskampf um Wahrnehmbarkeit & personaler Karriere im sich damals gerade entwickelnden deutschen Literaturbetrieb, die Verschiebung von Wielands Vorstellung, wonach »in der Bearbeitung des Stoffs die wahre Erfindung« des Künstlers liege, zur absoluten Favorisierung der Stofffindung. Weil er keine Gedichte schrieb, überlebte er nicht wenigstens als Lyriker im Schullesebuch & weil er nicht Dramatiker war, auch nicht auf der Bühne.

Aber seine Versromane, Erzählungen & Prosaromane?!
Seine Versromane waren späteste Ausläufer eines einstigen europäischen Erzählgenres der gebundenen Rede, das in Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien längst  zugunsten der realistischen Prosa & deren stofflichen Hinwendung bis zur aktuellen Gegenwart (im Hegelschen Sinne) »aufgehoben« worden war. Und Wielands stetiger Rückgriff auf ein griechisch-römisches Personal war auf ein akademisch gebildetes Publikum justiert & wurde von diesem goutiert. Für das wachsende bürgerliche (vor allem weibliche) Publikum waren seine gräzistischen intellektuellen Literaturwelten zunehmend so befremdlich wie eine beschwerliche Verfremdung.

(Man stelle sich vor, Goethe hätte nicht eine, sondern nur »Iphigenien« geschrieben oder Mozart nur lauter »Idomeneos« komponiert, statt die »Entführung« oder die da Ponte-Opern«!)

Was der Kritiker Harry Levin über den »Ulysses« von Joyce behauptete, es sei »a novel to end all novels«, könnte man zu Reemtsmas 20 Kapitel über Wieland paraphrasieren, das mit stilistischer Bravour, verschmitztem Humor & guter Laune geschriebene Buch sei die ultimative, umfassend(st)e Beschäftigung mit dem Dichter feingliedriger Versromane, Märchen & gräzistischer Romane & Gedankenspiele. Ein brillantes Monument des sympathetischen Gedenkens an einen irreparablen literarischen Verlust.

Artikel online seit 05.08.23
 

Jan Philipp Reemtsma
Christoph Martin Wieland
Die Erfindung der modernen deutschen Literatur
Eine Biographie
C.H.Beck, München 2023
704 Seiten zahlreiche Abb,
38,00 €  
978-3-406-80070-2

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