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Küche, Kochen und Gesellschaft

Ute Cohens essayistische Geschichte der Kulinarik »Der Geschmack der Freiheit«

Von Lars Hartmann
 

Geschmack ist eine vertrackte Sache. Man kann über ihn gut streiten und man kann es doch nicht: der eine hat ihn, dem anderen fehlt er. »De gustibus est disputandum«, wie es Adorno in den »Minima Moralia« im Blick aufs Kunstwerk zuspitzte. Dieses Beurteilungsvermögen in Fragen des Geschmacks und im Blick auf das Schöne kann man, wie es Kant in seiner »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« tat, transzendentalphilosophisch analysieren und die Bedingungen dieses Vermögens aufzeigen: wie funktioniert ein ästhetisches Geschmacksurteil? Oder man kann, wie in Schillers »Briefen über die ästhetische Erziehung«, durch die Schönheit zur Freiheit wandern, indem der Sinn fürs Schöne in ästhetischer Bildung langsam zur Entwicklung gebracht wird – in der Hoffnung, dass dieser Bildungsgang die grausame Guillotine erspart und jene neu errungene Freiheit der Französischen Revolution nicht nach einem neuen Blutgericht schmeckt. Mithin die politische Dimension des Geschmacks. Genauso aber kann man sich qua Empirie ein Sensorium für guten Geschmack ausbilden. Jeder Biertrinker weiß das: leckeres Bier lernt erst der zu schätzen, der lange genug in Bayern sein Gezapftes trank und erst dann versteht man sensorisch jenen Witz besser: »Warum müssen die Norddeutschen zum Bier immer einen Schnaps trinken? Damit man das Bier nicht so schmeckt!« Geschmack ist lernbar, und jeder Franke schüttelt bei Lütt un Lütt nur den Kopf.

Aber Geschmack ist kein Selbstzweck oder gar die Lust des Gourmands an der Fettlebe. Die hedonistische Freude am Schönen und Schmackhaften hat vielfältige Facetten: politische wie auch private: sei es die Befreiung gesellschaftlicher Zwänge oder auch die Befreiung der Lust – was bis zum Erotischen reichen kann. Diese verschiedenen Aspekte des Geschmacks zeigt das im Sommer erschienene Buch der Schriftstellerin und Publizistin Ute Cohen, welches den vielsagenden Titel »Der Geschmack der Freiheit« trägt. In verschiedenen Szenarien – vom »Boom der bürgerlichen Küche« im 19. Jahrhundert über die »Kulinarische Ästhetik« bis zu »Kulinarischen Utopie« – führt Ute Cohen uns vor, dass Essen, Trinken und Schmecken mehr sind als bloß in geselliger Runde oder für sich allein Nahrung zu sich zu nehmen. So wie in jenem Sprichwort die Liebe bekanntlich durch den Magen geht, so können wir im Schmecken Freiheit erfahren. Solches Lob der Empirie im Blick aufs Prinzipielle mag für hartgesottene Transzendentalphilosophen befremdlich, wenn nicht sogar falsch anmuten, wird aber im Lauf der Lektüre durchaus plausibel, sofern man sich als Leser jenen sinnlichen Momenten nicht verschließt.

»Der Geschmack der Freiheit« ist dabei keine klassische Kulturgeschichte des Restaurants oder des Essens, sondern vielmehr unternimmt die Autorin in einer eher dem französischen Denken zugetanen Weise essayistische und wie auch lehrreiche Streifzüge durch die kulinarischen Gefilde: das reicht von der Antike, etwa Petroniusʼ »Satyricon«, darin ein ausschweifendes, dekadentes Gastmahl gegeben wird, über das Mittelalter und seine Klosterschänken, das 18. und 19. Jahrhundert mit seinen Kaffeehäusern und der Erfindung des Restaurants bis in unsere Gegenwart hinein zur Nouvelle Cuisine, zur Molekularküche und neuerdings auch wieder zur regionalen Küche, die inländische und ausländische Einflüsse mischt. Eine wesentliche Rolle spielen hier vor allem die Restaurants, die, so erfahren wir, eine relativ neue Erfindung sind, die erst im 18. Jahrhundert auftauchte: »Zu Beginn des 16. Jahrhunderts verstand man unter restaurant noch ein stärkendes, die Kräfte ‚restaurierendes‘ Lebensmittel.« Wir lesen von den ersten Restaurants zur Zeit der Französischen Revolution und wie mit den Migranten die französische Küche in Hamburg Einzug hielt: so über den Offizier César Rainville, der vor den Exzessen der Revolution in Frankreich floh und sich 1794 in dem noch zu Dänemark gehörenden Altona niederließ. Rainville eröffnete 1799 ein Restaurant mit herrlichem Elbblick. Mancher Hamburger wird die Rainville-Terrassen kennen und auch das feine Restaurant gleichen Namens, das dort 2014 mit der immer noch wunderbaren Aussicht über die Elbe und Övelgönne wiedereröffnete und 2019 wieder schließen musste.

Die Bedeutung des Restaurants für die Moderne ist nicht zu unterschätzen, es wurde im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts, so Cohen, zu jenem Ort, in dem das aufstrebende Bürgertum sein kulturelles und auch politisches Selbstbewusstsein ausstellte, vor allem auch, um »das wachsende Bedürfnis nach neuen Formen des gesellschaftlichen Austausches« zu etablieren. »Transparente Preise und einzeln aufgeführte Gerichte auf der Speisekarte spiegelten das bürgerliche Bedürfnis nach Selbstbestimmung.« Zugleich aber wurden Elemente der adligen Tafelkultur in die neue bürgerliche Küche integriert. Essen demokratisierte sich, zumindest fürs aufstrebende Bürgertum, das sich solche Genüsse leisten konnte. Restaurants schossen aus dem Boden und der ästhetizistische Flaneur war im Paris zum Ende des 18. Jahrhunderts bereits »mit einer Fülle an Restaurants konfrontiert«. Es galt also auszuwählen. Und so wie im 18. Jahrhundert für die autonome Kunst die Kunstkritik sich herausbildete, so etablierte sich auch die Restaurantkritik als eigenständiges Genre und ist bis heute Bestandteil jeder guten Tageszeitung. Cohen beschreibt solche Formen der Gastrokritik, die bis hin zur Gastrosophie reichen, in dem Kapitel »Restaurantkritik und kulinarische Gesprächskultur«. Denn um genau diesen Aspekt einer symbolischen wie auch leiblichen und damit physischen Interaktion geht es dem Buch insgesamt: Kulinarik bedeutet Kommunikation, sei es bei Tisch, aber auch darüber hinaus.

Das Zubereiten und Verzehren von Speisen als sozialer Akt – von Anbeginn an. Der Übergang vom Rohen zum Gekochten, wie ein Buch des Ethnologen Claude Lévi-Strauss heißt, brachte Umbrüche, die völlig neue Formen des Sozialen entstehen ließen. Auf dieses Verhältnis von Küche, Kochen und Gesellschaft macht Cohens Buch in verschiedenen Anläufen aufmerksam. Aber was konkret heißt »Kochen«? Muss in einer Küche immer gekocht werden? Gerade die in den 1990er Jahren in die Mode gekommene Molekularküche brachte einen erweiterten Begriff. Mit ihr entstand eine neue Qualität des Zubereitens. Primär nennt Cohen an dieser Stelle den französischen Physikochemiker Hervé This-Benckhard, der nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch Hobbykoch war. Und so entwickelte sich, wenn Beruf und Leidenschaft sich verquicken, eine völlig neue Küche. Faszinierend, allerdings fürs Alltagsbewusstsein zugleich befremdlich, wird das Kochen dekonstruiert. Doch ob mit oder ohne Molekularküche: Essen heißt immer auch komponieren, dekonstruieren und Regeln brechen, um geschmacklich Neues zu entdecken. Eis mit Basilikum und Chili? Geht Rotwein zu Fisch?

Wie sich Gesellschaft auch in der Küche niederschlägt, zeigt sich, so Cohen, am Begriff der Transparenz, der in den 1980er und Anfang der 1990er Jahren insbesondere in der Soziologie zum Durchbruch kam. »Das Abgründige der Transparenz war […] noch weitgehend ungekannt«, und der berühmte Koch Ferran Adrià etwa verwandelte in seinem berühmten Restaurant »El Bulli« an der Costa Brava die bisher undurchsichtige Teigschicht der Ravioli, die deren Inneres verbarg, in eine »transparente Oblatenhülle«, so Cohen. Solche Konstellation ist keine zufällige, sie ist auf entgegenkommende Bedingungen angewiesen. Mit Schwung und Leichtigkeit führt uns Cohen in solche Details und Zusammenhänge ein, und manche Anekdote ist mehr als »nur« eine im geistreichen Ton erzählte Geschichte: es blitzt die gesellschaftliche Tendenz durch.

Freilich darf in einem solchen Buch und gerade bei Ute Cohen – im Rausch der Sinne und der Sinnlichkeit – die Verbindung von Erotik und Essen nicht fehlen: denn das Gefühl der Lust ist hier wie dort das zentrale Moment. Diese Verquickung manifestiert sich bereits in den Aphrodisiaka, die jene körperliche Erregung steigern oder überhaupt erst initiieren sollen. Solche Gastroerotik reicht bis ins Skurrile hinein: so erfahren wir, dass es in London eine Edelkonditorei namens »Bompas & Parr« gibt, die für sogenannte »splosh partys« (sensation play with food) Torten und andere Nahrungsmittel herstellt, in die sich poverliebte Briten hineinsetzen können. Auch solche Seltsamkeiten streift Cohens Buch und damit schließt sich gewissermaßen ein Kreis von jener römischen Dekadenz eines »Satyricon« hin zu unserer Gegenwart.

Doch es geht zum Ende des Buches zugleich über solche Dekadenz hinaus. Denn Kulinarik hat etwas mit Bildung als einer Form von Erfahrung zu tun. Das fängt mit dem »Geschmack der Kindheit« an, dem Cohen mit dem Untertitel »Märchenhafte Süße« ein eigenes Kapitel widmet: vom Brausepulver bis hin zu einem knackigen roten fränkischen Apfel. Dass uns an solchen Erinnerungen etwas aufgeht: die Art, wie wir als Kinder unsere Welt wahrgenommen haben. Geschmack hat mit unserer ganz eigenen Vita zu tun – auch dies führt uns dieses Buch in anschaulicher Weise vor. »Die Kulinarik ist ein Hort utopischen Schmeckens und Denkens.« Die ästhetische Erfahrung führt ganz unmittelbar über unseren Geschmackssinn und sie ist zugleich niemals ganz unmittelbar, sondern unterliegt den verschiedenen Vermittlungen, wie uns Cohens Buch auf eine anregende und kluge Weise vermittelt. Der »Geschmack der Kindheit« ist zugleich eine »kulinarische Geschichte der Freiheit«:

»Dem Geschmack der Kindheit wohnt nicht nur ein romantisches Sehnen inne, sondern auch ein emanzipatorisches Potential. Er erinnert uns daran, dass wir uns befreien können von Konsumzwängen, dass wir in der Lage sind, unserer eigenen Stimme, dem Eigensinn unserer Papillen zu folgen.«

Geschmack hat in seinen verschiedenen Ausprägungen ein soziales wie auch ein individuelles Moment, das Ute Cohen in unterschiedlichen Konstellationen pointiert und in immer neuen, teils witzigen Anläufen entfaltet. Dabei geht es ihr in diesen Darstellungen immer auch um jene Lustmomente, die sich beim Lesen entfalten: eine Lust am Text, diese beschriebenen Sachen selber einmal auszukosten und die eigenen Sinne zu intensivieren und zu trainieren: Wann waren wir zuletzt in einem guten Restaurant in Paris oder Wien? Wann haben wir zuletzt in der eigenen Küche Kulinarisches gewagt, dass es in dieser Form noch nicht gibt? »Der Geschmack der Freiheit« wird geprägt von jener essayistischen Form, wie es – im besten Falle – eine geistreiche Konversation bei Tisch haben kann, darin manches Thema mit Witz oder mit Scharfsinn gestreift wird. Und genau diese umfassende Bildung, die uns einen Überblick auf all die Facetten von Genuss, Lust, Geschmack und Kulinarik verschafft, macht das Buch lesenswert. Es ist keine gelehrige Abhandlung in Kulturgeschichte, sondern Cohen lädt die Leser ein, selber auszuprobieren. Denn genau das ist praktizierte Freiheit, jener Geist der Freiheit, den auch ihr Schreiben beflügelt.

»Der Geschmack der Freiheit« ist ein kenntnisreich geschriebenes Buch über Küche, Kochen, Kulinarik und Essen sowie eine mit Esprit geschriebene Geschichte des Restaurants. Vor allem aber kommt es ohne die in diesen Zeiten üblichen Belehrungen aus, was man nun darf und was nicht. Die Geschichte der Kulinarik hat immer auch etwas mit unserer eigenen Freiheit zu tun, in ihr manifestiert sich zugleich die Utopie von Freiheit. Deshalb eben »Der Geschmack der Freiheit«: sie geht in sinnlicher Weise über den Gaumen. Zugleich ist es, wie Cohen schreibt, die »versöhnliche Kraft eines Mahls«, die die »Rückkehr zur Basis der Gemeinschaftsbildung« ermöglicht und die »Debatten erden und mit Eifer ausgetragenen Diskussionen die ideologische Sprengkraft nehmen« kann.

Artikel online seit 16.12.24

Ute Cohen
Der Geschmack der Freiheit
Eine Geschichte der Kulinarik
Originalausgabe
Geb. Format 13,5 × 21,5 cm
272 Seiten
24,00 €
978-3-15-011479-7

Leseprobe & Infos


 

 


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