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Die Lügen hinter sich lassen

Über Deborah Feldmans Buch
»Judenfetisch«

Von Wolfgang Bock

»Denn wir sprachen aus, was sie sich nicht trauten zu sagen und dafür waren sie uns dankbar.«

On the road. Eine innere und äußere Reise nach Jerusalem
Papierjuden, Bühnenjuden, Judenfetisch – in diesem Buch geht es nicht neudeutsch politisch korrekt zu. Es handelt sich um eine Erzählung in 28 Kapiteln; diese sind allerdings nur an den Majuskeln des Satzanfangs erkennbar. Der Text besteht aus losen Erzählungen und Reflexionen, die sich wie ein geschriebener Film nacheinander abrollen – talking heads wie bei Woody Allen oder in spanischen cinepeliculas. Ein ordnender Handlungsstrang rankt sich um eine Reise der Autorin nach Israel im April 2022. Sie ist zur Jad Vashem-Zeremonie eingeladen, bei der es um das jährliche Gedenken der Holocaustopfer geht. Auf dem Ben-Gurion-Flughafen hat sie bereits Angst vor den orthodoxen Juden, denen sie dort begegnet. Sie nutzt die Szenerie, um das Verhältnis der Diaspora-Juden zu Israel zu reflektieren. Sie kommt dann in einem gemütlichen Hotel in Ostjerusalem unter, gegenüber dem Stadtteil Mea Shearim, wo die ultraorthodoxen Juden der satmarischen Gemeinschaft wohnen. Die Autorin besteht auf einem sicheren Abstand: sie floh 2008 aus einer solchen ultraorthodoxen satmarischen Sekte in New York. In ihrem Buch berichtet zugleich von ihrer Gegenwart in Berlin, von ihrer Zeit vorher in Williamsburg, dem Entkommen aus der Gemeinschaft dort und den Menschen, denen sie im freien Amerika begegnete.

Immer geht es um die Frage, wie diese mit ihrer jüdischen Herkunft, ihrer Identität, umgehen. Ihre Kommilitonin Louisa auf dem Schreibcollege beispielsweise machte sich nicht viel aus ihrem Judentum. Sie sagte: „Meine Eltern sind jüdisch.“ Was mit ihr selbst ist, darüber schwieg sie sich aus. Ihre reichen Eltern, die über eine Million Dollar in die Ausbildung ihrer Tochter als Schriftstellerin gesteckt hatten, wohnen „ein wenig so, wie man sich Susan Sontags Wohnung vorstellen würde“, hängt Deborah Feldman schelmisch an, um dann nicht weniger schalkhaft anzufügen: „Es hat sich nicht gelohnt.“ Solche spitzen Bemerkungen ad personam sind ihre Spezialität, sie kennzeichnen das Buch als Sottise oder als einen Schelmenroman. Feldman macht aus der Not ihrer Außenseiterposition im Leben die Tugend einer literarischen Waffe. Sie spricht aus, was sonst kaum jemand sich zu sagen getraut.

Aufführungen des Judentums
Auf der Gedächtniszeremonie in Jerusalem, zu der sie reist, vertritt Frau Feldman die gegenwärtigen deutschen Juden. Diese aber gibt es kaum als geborene Juden. Der überwiegende Teil der Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Berlin und im übrigen Deutschland bestehe auf der Leitungsebene (und vor dem jüngsten Zuzug der jüdischen Flüchtlinge aus der Ukraine) aus konvertierten Christen. Darüber reflektiert unsere Autorin beständig. So zum Beispiel über das liberale Rabbinerkolleg an der Universität Potsdam, das von dem umstrittenen Rabbi und konvertierten Pastorensohn Walter Homolka gegründet und bis zu dem Skandal um seinen schwulen Ehemann, der Studenten belästigt hatte, auch geleitet wurde. Deborah Feldmann gehört dagegen einer anderen Gruppe an; sie stammt aus orthodoxen Verhältnissen, vor denen sie zunächst ins liberale Amerika floh und dann nach Berlin umgezogen ist. Sie besitzt folglich ein gebrochenes Verhältnis zum traditionellen Judentum, zu Israel, aber auch zu Deutschland. Anders als ihr erstes Buch Unorthodox und vor allen Dingen die daraus entstandene Netflix-Serie unterstellen, ist sie nicht direkt aus Williamsburg nach Berlin gezogen, sondern hat mehrere Jahre alleinerziehend mit ihrem Sohn Isaak in der liberalen Gesellschaft Amerikas gelebt. Sie empfindet die hiesigen Verhältnisse nicht nur als Befreiung, wie die Filme nahelegen wollen, sondern in vielerlei Hinsicht als seltsam. Der damit zusammenhängenden Anmaßung macht sie in ihrem neuen Buch Luft:

»'Levi, sag mir mal ganz klar, ja oder nein', sagte ich ihm, als wir alleine im Treppenhaus standen. Das Licht ging immer wieder automatisch aus, sodass unsere Hände in der Nähe des Schalters blieben. 'Gibt es wirklich wieder Juden in Berlin, wie alle erzählen? Oder ist es nur eine Aufführung des Judentums, die das entstandene Loch füllen soll? Eine Performance, worin die jüdischen Figuren eigentlich nur verkleidete Deutsche sind, die sich ihre schönen Geschichten selbst erzählen?

Fundamentalisten in Jerusalem
In der Rahmenerzählung berichtet sie weiter, wie sie in Jerusalem durch Mea Shearim spazieren – sie verhüllt und im knöchellangen Kleid, ihr Freund in einem hellen Sommeranzug. Ihre Gruppe fällt auf, weil sie nebeneinander laufen; die Bewohner gehen hier hintereinander, d. h. die Männer vorn und die Frauen folgen ihnen mit gesenktem Blick. Die Gruppe gelangt aber weitgehend unbehelligt zum ehemaligen Kaiserlich-deutschen Blindenheim, 1903 erbaut von protestantischen Missionaren, in dem sich heute die religiöse Grundschule der örtlichen chassidischen Gemeinde befindet. Frau Feldman erinnert an den Besuch Kaiser Wilhelms 1898 in Jerusalem und merkt an: „Die deutsche Beziehung zu Israel ist viel älter als die moderne nationalistische uns glauben lassen will. Die aktuelle Beziehung, die von Schuld und Verantwortung geprägt ist und alles auf den Holocaust bezieht, steht hier weit im Hintergrund.“ Dagegen befinde sich Israel heute auf dem Weg in eine fundamentale Theokratie – ein Plan, der auch mithilfe der hohen Geburtenraten der orthodoxen Familien durchgesetzt werde: „Ich redete von Geburtenraten, weil die Säkularen es nicht einmal schaffen, sich in einer Generation zu ersetzen, während die Ultra-Orthodoxen sich alle zwanzig Jahre mindestens verzehnfachen.“ Das betreffe auch die säkularen Juden: „Niemand ist eine größere Hilfe der Fundamentalisten als der aufgeklärte, emanzipierte, gebildete Westler, der ihnen den roten Teppich auslegt, um aus lauter Romantik seine zukünftigen Unterdrücker zu bejubeln.“

Taube Ohren unter den Kippot in Berlin
Bringe Sie diese Dinge allerdings in Berlin vor, so stoße sie bei den deutschen Juden auf eine „harte Wand der Dementierung“: Hier erkläre man sich die Welt aus dem Holocaust heraus, für den Deutschland verantwortlich gewesen sei. Mit dieser einzigartigen Projektionsfläche, wie es sie sonst nirgendwo gebe, entstehe ein Bild von Israel als Fata Morgana. Die Verhältnisse dort dürften nicht näher betrachtet werden. Sie zeigt sie anschaulich an Figuren wie Michel Friedman, den sie für einen einfachen Kriminellen hält. An ihm werde allerdings der von ihr zitierte Judenfetisch manifest:

»Es wird kein Zufall sein, dass der beliebteste Jude dieses Landes sich immer noch auf diesen Titel berufen kann, obwohl er nachweislich sein Kokain am liebsten mit verschleppten ukrainischen Prostituierten (und das in einem Land, in dem die Prostitution legal ist!) zu sich nahm. Ein Kind von Schindler-Geretteten, der einerseits als Beweis dafür gilt, dass es auch die guten Deutschen gab, denen er sein Leben zu verdanken hat, und andererseits die antisemitische Vorstellung erfüllt, indem er diesen Deutschen auf gewisse Art bestätigt, die Juden hätte das Schicksal vielleicht nicht grundlos getroffen? […] Ich verstehe, warum man diese Juden in der Öffentlichkeit hervorhebt, um alles schlechtzureden und mies zu machen, denn sie bedienen auch einen größeren Instinkt, nämlich den traditionellen Judenbegriff weiter aufrechtzuerhalten.«

Feldman ersetzt dagegen den immerwährenden Holocaust als Objekt ihrer Wut durch eine Verve gegen den Judenfetisch, der sich in Deutschland auf diesen gesetzt habe. Ihr Zorn gilt damit der Infamität der Gegenwart, die die Vergangenheit dazu verzweckt. Diese Kritikfigur gleich derjenigen von Amos Elon (1926-2009), dem kritischen Journalisten, der für Haaretz ebenso schrieb wie für den New Yorker und die New York Review of Books. Auch Elon verwendet den Begriff Fetischismus zur Kritik der Funktionalisierung der Heilsgeschichte der Juden im Namen der unheiligen Seiten der säkularen Politik des Staates Israel.[1] Es ist nicht unmöglich, dass Frau Feldman, die gebildet ist, den Begriff des Fetischismus bewusst oder unbewusst von Elon entlehnt.

Bühnenjuden. Von der Identität zum Identitären
Im XVII. Kapitel reflektiert Feldman über antisemitische Elemente in der Candide-Aufführung des australisch-jüdischen Regisseurs Barrie Kosky, die sie mit entsetzten Freundinnen in der Komischen Oper in Berlin im Herbst 1919 besuchte. Unverblümt traten dort Karikaturen der Ostjuden auf der Bühne auf. Die Freundinnen, die die Vorstellung früher verlassen, versuchen sich das folgendermaßen zu erklären:

»Juden, die keinen eigenen Bezug zu ihrem Judentum haben, denen bleiben nur die Bezüge der Nicht-Juden. Und die sind meistens, wenn nicht offen antisemitisch, zumindest vom Antisemitismus geprägt.«

Feldman spinnt den Gedanken eines solchen jüdischen Simulakrons weiter: „Gibt es überhaupt noch etwas am Jüdischsein, was wirklich jüdisch ist?“ Damit trifft die Autorin den Kern der Sache. Der Begriff Identität lässt sich in diesem (und wahrscheinlich auch in allen anderen Zusammenhängen) nicht sinnvoll verwenden. Der griechische Dichter Pindar und die Klassik kannten noch die Spannung von „Werde, der Du bist!“, aus der dann Friedrich Nietzsche 1888 in Ecce homo „Wie man wird, was man ist!“ macht. Da war er aber bereits vom Wahnsinn gezeichnet. Wer aber soll heute „mit sich identisch“ sein? Was soll eine „jüdische“, eine „deutsche Identität“ angesichts der Globalisierung der Kultur zu Zeiten des Internets bedeuten? Diese Frage stellt die Autorin in ihrem Buch. Hier treffen zwei verschiedene Dispositive aufeinander; das erste folgt der Vorstellung einer autonomen Volks- oder Kulturgeschichte (oder, nicht viel besser, einer selbstgewählten Identität, der das Gegenstück abhandengekommen ist), das zweite bemüht sich um die ökonomischen Grundlagen derselben. Der kulturelle Diskurs und der ökonomische passen nicht zusammen: Je mehr die Welt aufgrund der kapitalistischen Ökonomie vergesellschaftet wird, je mehr die einzelnen kulturellen Einheiten ihre vermeintliche Autonomie aufgeben, umso hartnäckiger hält sich die Rede von der jüdischen, deutschen und was auch immer Identität. Anhand der Juden und ihrer Diaspora zeigt sich das Absurde einer Identität als Entität; es handelt sich vielmehr um eine Kategorie der vorletzten Dinge, um Mittel also, nicht um Zwecke. Auf die vereinheitlichende und zugleich trennende Zentrifuge des Kapitalismus hatte bereits der Fascismus in Italien, Spanien und Deutschland mit seiner Vorstellung der Rassen reagiert. Heute kommt es im Namen solcher Identitäten zu einer erneuten Wiederkehr völkischer Motive und rassistischer Sichtweisen, wenn behauptet wird, mitten in dem verschlingenden Strudel der weltweiten Ökonomie gebe es ein festes Land aus ethnischen Inseln. Deborah Feldmann hat das erkannt und geht dagegen an, sie verwendet aber dennoch eine soziologistische Sprache, mit der man diese Vorgänge nicht wirklich verstehen kann. Immerhin aber stellt sie in ihrem Text einen autonomen Kulturbegriff infrage.[2]

Neue Großmannsphantasien. Antinomien des Philosemitismus
Die letzten Kapitel – die immer kürzer werden, je mehr es dem Ende des Buches entgegen geht – sind erneut den Verwerfungen der deutschen Konvertiten gewidmet. Es geht um den Skandal um Gomulka, um seine Reden und Phantasien von der zukünftigen Führerschaft seiner Stipendiaten oder um andere Zusammenkünfte in Berlin, die von den zum Judentum konvertierten vormaligen Christen nun im Stil einer Mafia als Karrieresprungbrett verwendet werden. Hier argumentiert Feldmann ähnlich wie Norman Finkenstein in seinem umstrittenen Buch über die Holocaustindustrie.[3] Auch das XXIV. Kapitel handelt in diesem Sinne nur von einer vermeintlich „innerjüdischen Angelegenheit“, nämlich einer Bar-Mizwa-Feier. Die Synagoge in der Pestalozzistraße in Berlin wird ebenfalls von einem konvertierten Rabbiner geleitet. Die Zeremonie dauert drei Stunden und am Ende scheint der Autorin durchaus eine annehmbare Version von Religion auf. Diese wird dann aber jäh von Großmannsphantasien konterkariert:

Der Rabbiner sagt nun das letzte Gebet auf […] und ich nicke zu seinen Worten und denke mir, so ist Religion eigentlich gar nicht so schlecht, wenn es nur immer so wäre, könnte es wirklich was Gutes bedeuten, und dann dürfte auch jeder dabei sein, Jude, Nicht-Jude, was macht es aus, Hauptsache Frieden auf der Welt, und dann beendet der Rabbiner sein Gebet mit dem Satz: O Herr, mache, dass alle Bewohner der Welt einsehen, dass Israels Gott ist König.
Mit anderen Worten, hier wird im Namen der Religion die Suprematie der Juden über alle Völker proklamiert. Das ist Fundamentalismus, bei dem es gleich ist, ob er von moslemischer, christlicher oder jüdischer Seite verkündet wird.

Gegen den Fundamentalismus: die Aufklärung
Das alles ist klug und hintersinnig erzählt, mit melancholischem Witz und Geistesblitzen. Feldmann gewährt ihren Lesern aber auch einen erschreckenden Einblick in die Retorte der neuen jüdischen Moral in Deutschland, die es ohne ihre Umgebung nicht gäbe. Auch daraus gibt es keinen anderen Ausweg als den der Aufklärung.

[1] Vgl. Amos Elon, Nachrichten aus Jerusalem. Reportagen aus vier Jahrzehnten, Frankfurt am Main: Eichborn 1995, S. 19.

[2] „Hat sich an diesem Abend zum ersten Mal bei mir die Theorie kristallisiert, dass der Großteil dessen, was in der Außenwelt über das Judentum zu finden ist, durchdrungen ist von einer Kultur, die den Judenhass längst tief in sich verinnerlicht hat? Dass Juden von Nicht-Juden in dieser Sache kaum voneinander zu unterscheiden sind, weil sie ohnehin von derselben Kultur geprägt werden? Wie weit ging das zurück? Zu welchem Zeitpunkt hätten sich jüdische Ideen noch von anderen, fremdbestimmten Blicken unterscheiden lassen? Gibt es überhaupt noch etwas am Jüdischsein, was wirklich jüdisch ist?“ (S. 196)

[3] Vgl. Norman G. Finkelstein, Die Holocaust-Industrie: Wie das Leid der Juden ausgebeutet wird, München: Piper 2000.

Artikel online seit 13.05.24
 

Deborah Feldman
Judenfetisch
Luchterhand
272 Seiten
24,00 €
978-3-630-87751-8

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