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Ein Engel, der das Leben auf der Erde beobachtet |
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I In den Gassen findet man Weine mit dem schönen Namen »Jamais pas soif«, und nicht weniger anmutig ist die Presqu'île de Perharidy, die man in einer knappen Stunde zu Fuß erreicht. Mit dem Boot lohnt sich die kurze Überfahrt zur Ile de Batz mit der rauen Felsküste, ein paar wenigen kleinen Stränden und Bauernhöfen. Mit dem Rad lässt sich die Insel in zwei bis drei Stunden abfahren. Vom Hafen aus kommt man rasch zum Jardin Georges Delaselle. Am 1. November 2023 hat ein Sturm mit Windgeschwindigkeiten von 195km/h mehrere Dutzend Bäume, teils jahrhundertealt, zerstört. Man hat hier eine Art Memorial für die toten Bäume errichtet. Ebenfalls nur wenige Kilometer entfernt liegt Dossen Plage, wo ein weitläufiger, fast menschenleerer Strand wartet. Auf dem Meer schippern kleine Boote. Man fühlt sich an Flauberts/Du Camps Reisetagebuch erinnert: »In leidenschaftlicher, regloser, schweigender Betrachtung versunken glichen wir in unserer Barke jenen fahrenden Rittern, die der Sturm in den geheimnisvollen Wohnsitz der Geister und Nymphen geführt hat. Dort hinten im tiefen Dunkel öffnet sich vielleicht das diamantene Tor, das in die perlmuttglänzenden Reiche der Zauberinnen führt; gewiss bläst gleich hinter uns der mit Schellen behängte Zwerg in sein Horn aus Elfenbein, und bald kommen die grässlichen Ungeheuer, die uns den Eingang verwehren sollen, und spucken mit rasselndem Schuppenpanzer Feuer …«
II Seine Reisnotizen aber beginnen viel früher, schon in den 1960er, als er in der peruanischen Ruinenstadt Machu Picchu unterwegs ist, finden sich unter anderem die folgenden wundervollen Zeilen: »Wir stürzen weiter abwärts, steile Hänge schaukeln am Himmel über dem Zug, der wilde Fluss fällt jetzt in den tiefen Dschungel hinab, mit riesigen ineinander verschlungenen Bananenstauden und wilden Weinreben, Affen lugen zwischen großen Blättern hervor, der Fluss strömt immer schneller hindurch, der Zug pfeift und heult, während er vorwärts saust, das rauschende Wasser umspült seine Räder.« Aus den 1960er Jahren stammt auch eine Notiz über Saint Tropez, wo sich so viele Touristen tummeln, dass Ferlinghetti eine Bleibe für die Nacht erst nach langer Suche findet: »Die ganze Nacht öffnen und schließen sich die Türen im Hotel, trippeln Füße, gehen englische Mädchen mit dreisprachigen Latinos & Hunnen ins Bett, hoch über den Dächern Radios & Beat-Gitarren, unter den Giebeln gedämpftes Lachen, in der Dusche lässt sich jemand vögeln, Katzen miauen wie jeunes filles, die in der Dämmerung entjungfert werden.« 1968 dann ist er in Paris, Boulevard Saint Germain, Ecke Saint Michel. Dort »spielte wild durcheinander eine Band aus drei Geigern, jeder mit seiner eigenen Büchse vor sich. Die schrillen Musikfetzen fielen über die verschnörkelten Tore und wickelten sich darum wie gerissene Geigensaiten oder Gummibänder, um sich gleich darauf im anschwellenden Kirmeslärm der Straße aufzulösen, und direkt hinter den schmiedeeisernen Toren saßen drei stumme Greife mit steinernen Flügeln reglos im Dunkeln.«
III In seinen Erinnerungen kehrt er in den 1990ern auch in sein Geburtshaus zurück, 106 Saratoga Avenue, Yonkers. Im Süden grenzt Yonkers an New York City. Es ist eine auf vielen Hügeln gelegene Stadt im Westchester County. Auf Google Maps taucht ein mintgrünes, freistehendes Holzhaus auf, 1915 gebaut, insgesamt 6 Räume. Eine ruhige, doch arme Wohngegend. Baufällig sei das Haus inzwischen, schreibt Ferlinghetti, es habe eine »hässliche Asbestverkleidung«. In der Nähe gibt es einen Park: »Vermutlich haben die Kids«, erinnert er sich, »in diesem grünen Park mit seinem abgetretenen Baseballfeld und seinem uralten, verrosteten Gitter hinter dem Schlagraum gespielt. Ich höre, wie der Striker den Ball schlägt … und wie mein Bruder zur ersten Base rannte und vierzig Jahre später in Baltimore landete.«
IV
Zeitlebens förderte Ferlinghetti, selbst nicht nur Verleger, sondern auch
Dichter und Maler, die Beatlyrik. Doch in Ferlinghettis Lyrik schwingt noch mehr mit. Begleitet werden seine Zeilen stets von Literatur- und Zeitkritik: »Zum einen wandte sich Ferlinghetti gegen die versnobte akademische Dichtung, deren gelehrte Geheimbündelei das breite Publikum mit Kalkül außen vor gelassen hatte … Zum anderen übte er sich als Zivilisationskritiker in der Tradition Thoreaus und Whitmans. Unverstellte Verständigung sei in der lauten, kapitalistisch durchgetakteten, von der medialen Informationsflut überforderten modernen Gesellschaft nicht mehr möglich«, schrieb Frank Schäfer in seinem Nachruf auf Ferlinghetti 2021 in der ZEIT. Dass sie doch noch möglich ist, zeigt Ferlinghetti in den wunderschönen Travelogues, in denen er nicht zuletzt auch auf die Suche nach seinen eigenen Wurzeln geht. Im Berlin-Journal von 2004 heißt es ein wenig melancholisch: »Ich fühle mich wie einer der Engel in Wim Wenders Der Himmel über Berlin … Ich bin zurückhaltend wie ein Engel, der das Leben auf der Erde beobachtet, und wie kann es sein, dass ich früher daran beteiligt war, gütiger Gott, ich sehe mich in einem anderen Land, in einem anderen Jahrhundert hier vorbeigehen, mit demselben Ausdruck von Verlangen, und da ich nie träume, könnte ich noch immer davonfliegen und sie wahr machen.« Der Engel, der das Leben auf der Erde über so lange Zeit beobachtete, verstarb im Februar 2021 in San Francisco.
Artikel online seit 24.10.24 |
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