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Aggression aus dem Osten seit der Römerzeit?

James Hawes spröde Einschätzung eines Landes im Herzen Europas

Von Wolfgang Bock

Der britische Liberale und Deutschlandkenner James Hawes schreibt die vorgeblich »kürzeste Geschichte Deutschlands«. Der Superlativ ist allerdings nicht vollständig gerechtfertigt, denn von einer solchen könnte man ernsthaft erst sprechen, wenn man hinter der historischen Argumentation das aktuelle politische Argument bloßlegte. Dieses ist bei Hawes nicht schwer zu übersehen. Es ist ein engagiertes Eintreten für Westdeutschland, die Westbindung und für Bonn als Hauptstadt. Das richtet sich gegen die Idee eines erzwungenen Deutschen Reiches 1871 aus Preußen und damit aus dem Osten. Das Adjektiv »kürzeste« ist also relativ. Immerhin benötigt auch Hawes 330 Seiten, um geschätzte 2500 Jahre der Entwicklung von Angeln, Sachsen, Langobarden und anderen Stämmen zu beschreiben, die wir heute als Vorfahren der Deutschen, aber auch der Engländer bezeichnen. Hawes tut das aufgeteilt in vier Abschnitte, die jeweils 500 Jahre umfassen: Cäsars und Tacitus‘ Erfindung der Germanen, der Einfluss der Römer und die Aufteilung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nach dem Tode Karls des Großen 814 spielen dabei bis heute die Hauptrollen in diesem Geschichtsbild. Dazu finden sich Infografiken, Tabellen, abgesetzte Zitate und instruktive Fotos in dem dadurch leicht zugänglichen Buch. Es ist 2018 das erste Mal erschienen und heute in der 24. Auflage zu haben. Das rechtfertigt einen Blick auf seine Erfolgsgeschichte in der Spiegel-Bestsellerliste.

Zunächst einmal ist ein Unterfangen allgemein zu loben, die deutsche Geschichte nicht den deutschen Historikern zu überlassen. Für Goethe entsteht Weltliteratur dadurch, dass man die fremden Einflüsse bereits vor einer Übersetzung in der eigenen Sprache wahrnimmt. Auch für Hegel gehört die Annahme eines fremden Standpunktes – und keinesfalls eine simple Identitätsbehauptung – notwendig zur Grundausstattung der Bildung. Der Gymnasialdirektor Hegel dachte freilich eher an die griechische und lateinische Kultur, von der aus ein Blick auf den Geist geworfen wird, der sich auch in seiner Entfremdung wiedererkennen lassen sollte. Ob das tatsächlich so ist, darüber mag man streiten; richtig ist an dem Gedanken, dass man das Fremde anerkennen muss, um durch diese Brille das Eigene besser und schärfer wahrzunehmen. Zu Zeiten wiederaufkommender identitärer Parolen ist das nicht hoch genug einzuschätzen. Das Prinzip solcher Anerkennung des Anderen zum Verständnis der eigenen Kultur gilt zudem nicht nur für Geschichtsdarstellungen. Es gilt beispielsweise auch für die übersetzte Wiederauflage der Handbücher für Besatzungssoldaten nach dem Zweiten Weltkrieg, die von deutschen Flüchtlingen in Frankreich, England oder den USA zusammengestellt worden waren.[1] Es gilt aber auch für aktuelle Reiseführer aus anderen Ländern über Deutschland, in denen für Ausländer gefährliche No-go-Areas ausgewiesen werden. Das ist kein Grund, um sich darüber lustig zu machen, wie das vor einiger Zeit in einer Serie des Deutschlandfunks geschah, in der entsprechende Werke ironisch als überzogene präsentiert wurden. Nicht nur in Ostdeutschland sind solche praktischen Ratschläge für nichtweiße Reisende Gold wert und können Leben retten.

Hawes gelingt es, die deutsche Geschichte auf wichtige Ereignisse und Strukturen zu kondensieren. Dafür nimmt er notwendige Verschiebungen der Überlieferungen vor, wie man sie zumindest im deutschen Schulunterricht kaum lernt. Durch seinen angelsächsischen Standpunkt entsteht eine heilsame Entfremdung. Diese macht zugleich auch die Einseitigkeit jeder einpoligen Perspektive deutlich. Der Nutzeffekt ist etwa derjenige, den der polyglotte deutsche Leser hat, wenn er in politischen Krisenzeiten auf ausländische Zeitungen – etwa die norwegische Aftenposten, den italienischen Corriere della Sierra oder die französische Le Monde, einschließlich ihres selbständigen außenpolitischen Ablegers Le Monde Diplomatique – zurückgreift. Hier gilt also das Argument, dass die eigene Position dadurch besser verstanden werden kann als durch die Lektüre einheimischer Zeitungen wie Welt, Zeit oder der FAZ, hinter der sich angeblich immer ein kluger Kopf verbergen soll. Wenn man schon nicht reisen kann, so kann man auf diese Weise die eigene Meinung noch einmal schärfer akzentuieren.[2]

Die Grundthese Hawes ist also folgende: Das eigentliche Deutschland lässt sich für ihn auf das von den Römern zivilisierte Gebiet zwischen den Flüssen Rhein und Elbe und südlich davon bis nach Österreich zurückführen. Damit folgt er der Teilung West- und Mitteleuropas nach dem Tode Karls des Großen im Jahre 845. Die Entwicklung dieser Kernlande Deutschlands sieht Hawes immer dann gefährdet, wenn das slawische Gebiet jenseits der Elbe, also die eroberte Region bis zur Oder und Neiße und noch weiter, zum Zentrum Deutschlands erklärt werden soll. Mit anderen Worten, es ist das preußische Kerngebiet, das im Mittelalter vom Deutschen Orden und später von den Junkern kolonialisiert wurde. Es besteht im Wesentlichen aus einer Mischkultur von herrschenden Deutschen und unterdrückten Slawen. Von hier aus gebe es immer die Tendenz, sich weiter nach Russland hin auszubreiten und dabei den Rayon und Polen aufzuschlucken. Indem die preußischen Könige auch auf die katholischen westdeutschen Lande übergriffen, gerieten diese Preußen gegenüber in die Hinterhand. Das katholische, ehemals römisch besetzte Deutschland hält Hawes für aufgeklärter und damit für liberaler als die militaristischen Protestanten im Osten. Bereits das Kapitel über die Reformation, über Luthers endemischen Antisemitismus, über seine eklatante Vernunftfeindschaft und seinen brutalen Opportunismus gegenüber den Fürsten gegen die Bauern, gerät in dem Buch lesenswert. Diese Kritik ist für eine englische Sicht erstaunlich, sind doch Deutschland und England im 19. Jahrhundert auch über ihre Herrscherfamilien eng verbunden. Friedrich III. heiratet 1858 die englische Prinzessin Viktoria, die älteste Tochter der britischen Königin. Die preußischen Könige – und nach der Proklamation des Deutschen Reiches 1871 in Versailles nun auch die deutschen Kaiser – sind überdies genauso Herr über die Preußische Protestantische Kirche wie seit Heinrich VIII. die Queen und nach ihr alle weiteren Könige über die Anglikanische. Bei Hawes scheint von dieser Verbindung nur eine Hassliebe übrig geblieben zu sein.

Das ostelbische Preußen ist danach nicht nur ein von Junkern beherrschtes Land mit slawischen Ortsnamen. Es bildet neben dem landwirtschaftlichen auch das militärische Rückgrat der Offiziere aus der preußischen Junkerklasse. Hier entwickelt sich nicht nur die Grundlage des Militarismus des Kaiserreichs und der Weimarer Republik: Insbesondere fallen dort aufgrund der 2000-jährigen Vorgeschichte dann auch die Kerngedanken der Faschisten auf den fruchtbarsten Boden. Der Holocaust und der Ostfeldzug erscheinen als Erfüllungsversuch der ostelbischen Phantasien nach Vernichtung der jüdischen und slawischen Konkurrenten. Das ist nicht ganz falsch. Aber die deutschen Faschisten sind Kinder der Moderne, sie besitzen auch mit dem fränkischen Nürnberg die »Stadt des Parteitags« und dem bayrischen München ihre »Hauptstadt der Bewegung«. Hitler stammt aus Österreich und Goebbels aus dem Rheinland: Die Faschisten sind unverkennbar auch im Süden und im Westen zu Hause. Der unverzagte Hawes aber präsentiert Statistiken für seine These, wonach vornehmlich die Protestanten zwischen Elbe und Oder Hitler an die Macht gewählt hätten.

Dieses Erklärungsdispositiv ist immerhin interessant. Es ist einseitig, aber darin liegt vielleicht gerade seine Fruchtbarkeit. Damit lässt sich eben nicht nur die Besonderheit des Faschismus und die Anfälligkeit für Totalitarismus der Menschen auf die Lande Preußens östlich der Elbe verschieben. Sondern auch die spezifische Mentalität der Ostdeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg und hauptsächlich auch nach der Wiedervereinigung 1990. Dieses Erklärungsmuster – einer Schuld der Preußen, Slawen und Junker in dem besonderen Ensemble der sie umgebenden östlichen Länder – löst die anderen Erklärungsversuche der Mentalität der Ostdeutschen ab, wonach diese durch den russischen Einfluss der rund 45 Jahre währenden Deutschen Demokratischen Republik geprägt sind.

Hawes These klingt allerdings auch nach neuerlicher Schuldabwehr, diesmal verschoben auf die Römerzeit und die Elbe als Grenze der westlichen Zivilisation: Jenseits hausen die Barbaren! Anstatt sich an seine eigene Nase zu fassen, wird der Griff wieder auf etwas anderes verschoben. Die Hand weist nun also auf die angebliche Geschichte, die Schuld sei an der Misere. Als wenn unbequemere Erklärungen wie die von Helmut Kohls Bulimie (Joseph von Westfalen) dem Osten gegenüber, das Umspringen mit den Ostdeutschen durch die Treuhand und ihre Nachfolger bis heute oder die besondere autoritäre Gestimmtheit, die durch die Leipziger Sozialpychologen um Oliver Decker beständig untersucht wird, nicht näher lägen![3]

Und hier haben wir möglicherweise das aktuelle politische Argument vorliegen, das damit eine Selbstkritik der Westdeutschen verhindert und das sich bei Hawes nur historisch ummantelt. Entsprechend wird nach den sich unmissverständlich ankündigenden desaströsen Wahlergebnissen bei den Landtagswahlen im Herbst 2024 in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zugunsten der AfD und des BSW James Hawes zu einem gefragten Interviewpartner der großen deutschen Zeitungen. Er wiederholt seine These, der man positiv nicht folgen muss, zumal er sie nun zugespitzt zu Parolen wie: »Die AfD wird sich nie bundesweit durchsetzen!« Damit sind wir wieder bei dem bekannten Bescheidwissen der deutschen Zeitungsredakteure angelangt.[4] Das muss man also nicht glauben. Die genaue Lektüre seines Buches zeigt freilich auch etwas anderes: Sie hilft dabei, die selbstgewissen nationalistischen Eigenbekundungen der deutschen Historiker in Zweifel zu ziehen. Falls Hawes recht hätte, so hätten auch andere Historiker recht. Einen ähnlichen Prozess kann man bei den Germanisten erleben, wo die kleineren Mitglieder des Internationalen Germanistenverbandes aus Ländern wie der Schweiz oder aus Uruguay den deutschen Germanisten das Recht auf die endgültige Fassung der deutschen Sprache streitig machen. Mit anderen Worten: auch hier entsteht eine Verschiedenheit gegen ein identitäres Denken.

Für Hawes Buch gilt also prinzipiell das brechtsche »Lob des Zweiflers«, auch wenn man nicht jede Wendung des Autors nachvollziehen muss. Ein Kollege, der ein Interview mit dem Autor lass, bemerkte dazu skeptisch: »Eine interessante Perspektive, aber nimmt er Rücksicht auf die ökonomischen Verhältnisse?« Das tut der Liberale Hawes freilich nicht. Das muss aber nicht bedeuten, dass man aus seinem Buch nichts lernen könnte.

[1] Vgl. Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944: Zweisprachige Ausgabe (Englisch/Deutsch) (Köln: KiWi 2014 (Instructions for British Servicemen in Germany 1944) und Pocket Guide to Germany – Handbuch für amerikanische Soldaten in Deutschland 1944, München: Riva 2015. Die Neuvereröffentlichungen scheinen aber gleichfalls unter relativierenden Motiven zu erfolgen, die ins identitäre Milieu herüberspielt.

[2] Dem würde auch Joris-Karl Huysmans Romanfigur Des Esseintes zustimmen, der ungern reist: Gegen alle (1884), übersetzt von Caroline Vollmann. Haffmans/Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2007.

[3] Joseph von Westfalen, Von deutscher Bulimie. Diagnose einer Fressgier. Vergebliche Streitschrift gegen die deutsche Einheit, München: Knesebeck & Schuler 1990; Oliver Decker, Johannes Kiess, Ayline Heller, Elmar Brähler (Hg.) Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen – alte Reaktionen? / Leipziger Autoritarismus Studie 2022, vgl.: Die dunklen Ressourcen der deutschen Gesellschaft, von Peter Kern, .

[4] Z. B. Tickt der Osten politisch einfach anders? Der britische Germanist James Hawes sieht eine weit vor 1945 zurückreichende Teilung Deutschlands – und rät dennoch zu Zuversicht. Süddeutsche Zeitung, 20. 09. 2024.

Artikel online seit 04.11.24
 

James Hawes
Die kürzeste Geschichte Deutschlands
Aus dem Englischen von Stephan Pauli
Ullstein Taschenbuch
13,99 €
9783548060439


 

 


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