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Von den Affekten

In seiner Studie
»Die kalte Wut« untersucht Jürgen Große
die
Theorie und Praxis des Ressentiments

Von Lars Hartmann

 

Ressentiment und damit verbundene Affekte wie Wut, Neid und Gier, aber auch ein umfassender Gerechtigkeitssinn, aus dem heraus sich Ressentiment womöglich entwickeln kann, sind Themen nicht nur des 18. und 19. Jahrhunderts, als zunehmend die soziale Frage eine festgefügte Ordnung zum Erodieren brachte, sondern sie reichen bis ins 20. und 21. hinein: sei es im Blick auf soziale Schieflagen oder auch hinsichtlich dessen, was wir Populismus nennen. Wie weit sich Aspekte wie Gerechtigkeit und Ressentiment mischen, mag ein Zitat von Bert Brecht zeigen: »Reicher Mann und armer Mann standen da und sahʼn sich an. Da sagt der Arme bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.« Ist diese Aussage bereits Ressentiment gegen Reiche oder doch der richtige Blick auf soziale Ungerechtigkeit? Beruht die Blässe des armen Mannes auf einer Wut, die er herunterschlucken muss, woraus sich Ressentiment wie auch politische Aktion entwickeln kann, oder schlicht auf dem mit Armut einhergehenden Ernährungsmangel, so dass der arme Mann kraftlos bleiben muss? Ist politisch nicht eingehegtes Ressentiment eine der Triebfedern für gesellschaftlichen Wandel?

Ressentiment scheint ein Thema der Zeit zu sein. Es ist in unserem Sprachgebrauch meist negativ konnotiert. Ressentimentgeladene Menschen: das sind Wutbürger, aber es ist genauso jene postmoderne »Creative Class« der Anywheres in Großstädten, die global vernetzt und in Kreativ- oder Medienberufen tätig sind. Vorgeblich tolerant und weltoffen – Migranten sind ihnen in ihren Vierteln allenfalls als anonyme Menschen von Bringdiensten für veganes Sushi und nicht als Konkurrenten um Wohnraum, Schulplätze oder öffentliche Daseinsvorsorge bekannt.

Ressentiment wird insofern auch in diesem meist grünen Milieu gepflegt, nur gibt es sich subtil und tarnt sich als Kritik, wenn es darum geht, Rückständigkeit zu markieren. Ihre Wut richtet sich gegen eine vermeintlich reaktionäre und zurückgebliebene Landbevölkerung, die sich gegen Windräder vor der Haustür sträubt. Würde man auf dem Tempelhofer Feld in Berlin Windräder aufstellen, rebellierten sie. Das Babboe-Lastenrad wird sicherlich niemals von einem Wolf gerissen. Der Wolf ist ihnen ein gutes Tier. Weil sie ihm im Bötzow-Viertel niemals begegnen werden. Dem Wutbürger sind hingegen aufs Land ziehende Großstädter ein Greul, die dort ihre politische Agenda verbreiten. Und so lassen sich die Krawalllinien in den unterschiedlichsten Facetten ausbuchstabieren. Es sind die klassischen Konflikte einer segmentierten und durch soziale Medien bestimmten Gesellschaft, darin sich die immer schon in Deutschland schwelenden Konflikte verstärken.

Wie mit Ressentiment umgehen? Kann man es wegtherapieren, wie es Cynthia Fleury in ihrem 2023 erschienenes Buch »Hier liegt Bitterkeit begraben« anzunehmen scheint? Der Untertitel legt es nahe: »Über Ressentiments und ihre Heilung«. Kann Ressentiment eine produktive Energie sein, um Prozesse anzustoßen oder müssen wir mit ihm leben, auch mit den für eine Gesellschaft destruktiven Folgen?

Der Publizist und Philosoph Jürgen Große hat sich mit diesem Thema in einer umfangreichen Studie beschäftigt. Er bezweifelt eine psychotherapeutische Lösung, wie sie Fleury vorschlägt. Ebenso bezweifelt er, dass wir Ressentiment durch internalisierte Besserungsgelübde in den Griff bekommen. Ressentiment ist strukturell in Gesellschaften angelegt und man kann es allenfalls in eine Analyse bringen. Große fasst diese Begriffsentwicklung derart zusammen: »Bis zu Nietzsche war in der europäischen Literatur das Ressentiment psychologisch und moralisch neutral oder kritisch beschrieben worden, nach Nietzsche galt es als verächtlich oder gar als therapiebedürftig.« (S. 74) Den Zeitgeist der letzten fünfzehn Jahre bringt Große in einer Fußnote am Ende des Buches auf den Punkt: »Keine mobile Initiative gegen rechts, kein Institut zur Populismusforschung kommt heute mehr ohne den Begriff des Ressentiments aus. Es bildet den Roh- und Nährstoff ‚postmoderner Affektökonomie‘ (Josef Vogl)« (S. 364) Dieser Entwicklung und Entgrenzung des Ressentiments geht Großes Studie nach. Sie besteht, wie bereits der Untertitel ankündigt, aus einem theoretischen und einen praktischen Teil. In ersterem liefert Große einen begriffshistorischen Durchgang, von Michel de Montaigne und den französischen Moralisten hin zu Nietzsche, Ludwig Klages, Max Scheler und vor allem Emil Cioran. Ihr Denken wurde wesentlich durch diesen Begriff bestimmt: sei es in der Analyse, sei es, dass sie von jenem Ressentiment tatkräftig Gebrauch machen.

Für eine Genealogie des Ressentiments im Theorieteil und insbesondere für die Bedeutung des Ressentiments in Denken und Handeln als untergründigem Affekt, darin Erkenntnis und Körper sich durchdringen – wir philosophieren auch mit dem Körper –, ist insbesondere Nietzsche eine zentrale Figur. Er analysierte das Ressentiment einerseits »als Urszene europäischer Werte-Dekadenz«, »doch das Projekt ihrer Überwindung barg psychologische Schwierigkeiten« (S. 49) Und dieser Zustand hält bis in die Gegenwart an. Nietzsche ist »der erste europäische Autor, der dem Ressentiment ein eigenes metaphysisches Szenario verschafft und zugleich der letzte von Rang, der sich sein eigenes Ressentiment als Bedingung intellektueller und künstlerischer Ichwerdung erfolgreich verleugnen konnte.« (S. 44)

Mit Nietzsches Analyse geraten wir in die anthropologische Krise: Seine »Lösungen für individuelles wie kulturkollektives Ressentiment […] sehen keine innere Überwindung, keine Mediatisierung vor. Das Ressentiment ist aufgrund seiner leibseelischen Fundiertheit bei Nietzsche zwar nicht kulturell, jedoch vitaliter genauso ursprünglich wie das, wogegen es sich richtet – das starke, souveräne Leben. Folglich ist es auch nicht therapeutisch auflösbar, sondern allein projektiv zu verkehren und zu verhüllen.« (S. 44) So kann man als Befund festhalten und dieser gilt insbesondere kulturpolitisch für unsere Gegenwart wie Große im letzten Kapitel zeigt, darin es um »Berufskunst und Bildungsphilistertum« und insbesondere um unsere postmoderne Moderne sowie die daran anknüpfenden Identitätspolitiken geht.

Mit der Philosophie Nietzsches und seiner »Genealogie der Moral« ereignet sich dann »die problemgeschichtliche Wende«; Ressentiment wird, so Große, zumindest in Deutschland, zum »Denunziationsbegriff« (S. 329). Nietzsches Überlegungen bilden den Ausgangspunkt für zahlreiche Reflexion im 20. Jahrhundert, prominent vor allem aus der Kultursoziologie bei Max Weber und philosophisch bei Max Scheler. Sie diskutieren Ressentiment »als ein Phänomen, worin ein Affekt sein eigenes moralisches und intellektuelles Bezugssystem erschaffen kann.« (S. 49) Zentral ist bei Weber insbesondere seine Kritik an Nietzsches Psychologismus und der These von der Umleitung psychischer Energien in kulturelle Phänomene. Die Konstruktion einer moral- und religionsschöpferischen Kraft des Ressentiments ist Weber nicht bereit zu stützen, so Große. Damit schneidet Weber den Faden zu einer psychoanalytischen Deutung des Ressentiments ab.

Im Sinne einer Durchdringung von Theorie und Praxis wird es dann bei Cioran interessant, denn dieser macht das, was auch der Verfasser dieser Rezension schätzt: nämlich das Ressentiment nicht einfach als etwas zu Überwindendes oder psychologisch zu Erklärendes zu neutralisieren, das Ressentiment also als etwas zu nehmen, das qua philosophisch-analytischer oder psychoanalytischer Methode zu beseitigen ist, sondern Cioran erforscht diesen Affekt »in einer künstlerisch-philosophischen Selbsttherapie gründlich von innen her […] und [bejaht] ihn […] als Inspirationsquelle.« (S. 74)

Ressentiment ist, so kann man den theoretischen Teil zusammenfassen, ein äquivoker Begriff, es gibt keinen einheitlichen Begriffsgrund und insofern »ist [es] aussichtslos, unter den wechselnden Sprachsystemen und alternierenden Denkmustern so etwas wie ein bleibendes Substrat des Ressentiments zu finden, seinen Ur-Affekt.« (S. 100) Was man in diesem theoretischen Kontext festhalten kann, ist die »affektive Substanz«, die in unterschiedlichen philosophischen wie auch gesellschaftspolitischen Ausfaltungen zum Einsatz kommt. Das mag als Befund zunächst dürftig erscheinen, aber gerade durch die Allgegenwart des Ressentiments in der bürgerlichen Epoche des 19. und 20. Jahrhunderts ließen sich, so Große im Fazit zum theoretischen Teil, Bürgertum und Ressentiment in einen logischen Zusammenhang bringen. Große führt eine Kritik des Bürgertums durch, die deren inneren Widersprüche herausstellt. Das Ressentiment, so seine These, resultiert aus dieser Diskrepanz: »Über stabile Repräsentationsinstanzen (Symbole, Rituale) alteuropäischen Typs, die das Moralische im Materiellen verankern, verfügt das neuzeitliche Bürgertum nach 1800 immer weniger.« (S. 102): Gestus, Habitus, die Teilhabe an Kultur erweisen sich zunehmend als brüchig. Man könnte hier, mit Reinhart Kosellecks »Kritik und Krise« von einer »Pathogenese der bürgerlichen Welt« sprechen.

Im praktischen Teil ist zunächst, ausgehend von der höfischen Gesellschaft und insbesondere dem auf Paris ausgerichteten Frankreich, die Differenz zwischen »Provinz und Zentrum« zentral, wie eines der Kapitel heißt und ebenso Aspekte wie »Besitzgier und Statusneid« und »Affektreaktion und Anarchokalkül«, die manchen Anlass zum Ressentiment geben: sei es auf der Seite von Reaktionären bzw. Konservativen wie Joseph de Maistre, sei es im Bereich künstlerischer Avantgarden. Auch bringt Große dankenswerter Weise einen inzwischen vermutlich den wenigsten noch bekannten Soziologen und Publizisten, nämlich den Österreicher Helmut Schoeck und seinen 1966 erschienenen Sammelband »Der Neid«, in Erinnerung.

Zudem schreitet Große jene Denker und Künstler ab, die dem Ressentiment entweder anheimfallen oder aber es analysieren – gerade dadurch, dass sie sich ihm vehement hingeben. Dabei darf vor allem der zynische wie mit scharfer Feder pointierende katholische Schriftsteller Léon Bloy nicht fehlen. Dieser »erblickte im Gefühlschristentum geradezu das Kainsmal der bourgeoisen Behaglichkeit.« Zur Zielscheibe Bloys wurde so nicht mehr der Liberale, wie noch bei Joseph de Maistre (»Die Abende von St. Petersburg«) und Juan Donoso Cortés (»Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus«), sondern das Ressentiment galt dem beschaulich ins Leben sich einnistendem Bürger. Signifikant vor allem diese Beobachtung Großes: »In seinen Tagebüchern läßt der reaktionäre Literat seinen Rachewünschen und -phantasien ungehemmten Lauf. Sie sind erst der Schlüssel zu einer anderen, nicht mehr bürgerlich-kapitalistischen Welt. Mit Bloys Selbstdokumentation wird die Aisthesis zur Aussage, wird die gehässige Empfindung zur politischen Erwartung.« (S. 157)

Und weiter heißt es im Blick auf jene Politisierung des Affekts, freilich im Privatdiskurs einer literarischen Notizhaftigkeit, deren Medium das Tagebuch ist: »Bloy erhebt die Schadenfreude zum publizistischen Kunstmittel, wenn er den Tod von weltverbessernden Widersachern wie etwa Emile Zola feiern kann.« (S. 158) Im öffentlichen politischen Diskurs, durch den Strukturwandel der Öffentlichkeit, wo Medien wie Zeitungen und Bücher eine Basis für Information boten, existierte bereits seit dem 18. Jahrhundert und dann gesteigert im 19. und 20. Jahrhundert das Ressentiment eines halb ästhetischen, halb politischen Furors, wie wir ihn von unserer Gegenwart her gut kennen. Bedauerlich nebenbei, dass Große auf jene neurechtsreaktionäre Publizistik eines Michael Klonovsky und Matthias Matussek nicht weiter eingeht. Und auch im Blick auf de Maistres »Abende in St. Petersburg« ist es schade, dass Große an diese Linie nicht auch eine weitere Figur des Ressentiments anbindet, nämlich jene bereits vom Titel her auf de Maistres referenzierende »Tristesse Droite. Die Abende von Schnellroda«. Dieser Bezug ergäbe für eine kritische Analyse gerade auch im Blick auf die ressentimentgeladenen Traditionslinien neurechten Denkens von Götz Kubitschek und Erik Lehnert wichtige Aspekte. Dies wäre im praktischen Teil ein lohnenswerter Abstecher gewesen.

Ebenso bedauerlich, dass Karl Kraus nicht erwähnt wird. Gerade mit Kraus haben wir eine Form von essayistischer wie journalistischer Prosa, darin mittels Polemik nicht einfach banales Ressentiment sich Ausdruck verschafft, sondern in aufgeladener Sprache geschieht die Kritik an einer ramponierten Kultur. So pointierte es Kraus 1899 im Auftaktartikel zu seiner »Fackel«: »Das politische Programm dieser Zeitung scheint somit dürftig; kein tönendes ‚Was wir bringen‘, aber ein ehrliches ‚Was wir umbringen‘ hat sie sich als Leitwort gewählt.« Auch im Blick auf den Medienwandel liefert solche mit Ressentiment versetzte Kritik eine spannende Linie: haben doch die Aufsteigerung in den digitalen Massenmedien mit ihrer reziproken Kommunikation dazu geführt, dass ein in geringer Dosierung akzeptables Maß an Ressentiment, welches etwa in der Gesellschaftskritik bei Kraus, Eckhardt Henscheid, Wolfgang Pohrt und Wiglaf Droste seinen produktiven Ort hatte, sich oftmals wie bei Klonovsky in ungezügelten Hass verwandelte.

Ausführlich wiederum werden von Große unter der Überschrift »Naturstolz und Kulturleid« die verschiedenen Ausprägungen des Feminismus abgehandelt: Gleichheitsfeminismus wie auch Differenzfeminismus bilden hier die zentralen Pole. Dazu gehört das Ausspielen von Gefühl gegen Vernunft sowie die Natur- Kultur-Differenz zugunsten einer essentialisierten Natur. Diese Wendung zur Natur wird sich mit den 1980er Jahren und dem Einzug der French Theory auf teils fatale Weise ändern und in den bloßen Kulturalismus umschlagen. Insbesondere nimmt Große hier die »linguistische Theoretisierung« der Geschlechterfrage in den sogenannten »Gender-Studies« in den Blick (S. 208 f.) Eine milieubeschränkte Bewegung, die biologische Fakten wie die Binarität des biologischen Geschlechts (Mann/Frau) in Sprache und Sprechakte aufzulösen trachtet.

Tief ist diese ressentimentgetriebene Stoßrichtung eines akademischen, intersektionalen Feminismus in die Gesellschaft eingedrungen und hat sich insbesondere über den zumeist linksliberalen Journalismus und einen linksidentitären Kulturbetrieb das verschafft, was man kulturelle Hegemonie nennt. Große bezieht sich hier auf Camille Pagilas Kritik an solchen Auswüchsen: dass dieser Genderfeminismus »für seine soziale Wirksamkeit eine väterliche Autorität,« nämlich »den Staat, beanspruchen würde.« (S. 209) Aktuell gut zu sehen, an dem in vielen Teilen problematischen »Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag«. Daraus ergibt sich ein »Doppelgefühl für Machtberufenheit und Machtbedrohtheit«, das typisch ist für einen von den Kritikerinnen dieser Gender-Bewegung als »Allmachtsfeminismus« bezeichneten Umschlag. Teile dieses intersektionalen Milieus generieren sich, in taktischen Schachzügen und wie es gerade zur entsprechenden politischen Rolle passt, übers Changieren zwischen Macht- und Opferstatus.

Das längste Kapitel – fast ein eigenständiges Buch – widmet sich dem Aspekt »Berufskunst und Bildungsphilistertum«, mithin der klassischen Antinomie von Kunst und Bürger, samt ihren politischen Verstrickungen: jener ästhetisch avancierten Antibürgerlichkeit einer Avantgarde, die vom Ressentiment gegen den Bürger lebt und ihn zugleich als Objekt und monetäre Quelle doch braucht. Insbesondere seit dem 18. Jahrhundert wird das Ressentiment in der Literatur in verschiedenen Ausfaltungen bedeutsam: es bildet einen »psychoenergetischen Wert« und motiviert damit eine spezifische Form des polemischen wie auch aggressiven Schreibens, aber es dient ebenso zur Absetzung gegen das saturierte und teils auch kleingeistige Bürgertum, um die feinen Unterschiede zu markieren. Zugleich eignet es sich dazu »als poetisch Beschriebenes« in die Literatur gebracht zu werden.

Was die literarische Moderne und das Paris des 19. Jahrhunderts als Ort der Avantgarde betrifft, ist hier vor allem Baudelaire eine Referenzfigur: »Ressentiment und Haß sind nicht nur in Baudelaires Gedichten häufig beschworene und benannte Affekte, häufiger noch als bei Flaubert; sie sind diesem Dichter auch Medien künstlerischer Selbstverständigung. In seinen intimen Tagebüchern Mein entblößtes Herz erkennt Baudelaire den Zerstörungswunsch als künstlerischen Primäreffekt in einer verbürgerlichten Welt, der sogar der eigentlichen Kunstproduktion vorausgehen kann.« (S. 254)

In diesem letzten Kapitel geht es vor allem um eine Gesellschaftsdiagnose der BRD im Blick auf eine an der USA orientierten Kultur der Massenmedien wie des Pop (S. 297). Mit dem Fall der Mauer dann war es vor allem eine Phase erheblicher Umbrüche und Transformationsprozesse westlicher Gesellschaften. Yuppies und Bobos (bourgeois und bohémien), dazu eine Digitalmoderne und die daraus sich seit Ende der 1990er Jahre herausbildende »kreative Klasse« von Werbeagentur bis hin zum Internetjournalismus. Große zitiert hier David Brooks‘ »Die Bobos. Der Lebensstil einer neuen Elite«: »Berufe mit dem höchsten Prestige sind solche, in denen künstlerischer Ausdruck und dicke Knete miteinander verbunden sind.« (S. 306) Große pointiert diese Entwicklung von den Ausläufern der späten 1960er Jahre hin zur Digitalmoderne treffend – wobei er hier, freilich in vollem Bewusstsein, durchaus dem Ressentiment frönt, indem er polemisch zuspitzt: »Ganz und gar nicht scheint ein ‚Marsch durch die Institutionen‘, vielmehr ein Einmarsch in diese mit anschließendem Dauerwohnrecht stattgefunden zu haben.« Hier befinden wir uns inmitten einer Kritik der identitätspolitischen Linken samt den zahlreichen Hermeneutiken des Verdachts und der Verdächtigungen:

»Ressentimentempfindungen und Ressentimentverdächtigungen kulminieren nicht zufällig in der sogenannten Identitätspolitik. In ihr begegnen einander vernunft- und gefühlsbetonte Sozialutopien, zudem egalitär-reformierende und individualistisch-revoltierende Strategien, wenn es befürchtete oder erfahrene Verletzungen zu kompensieren gilt.« (S. 333)

Fazit

Großes Buch analysiert ein breites Spektrum: Von der philosophischen Grundierung des Ressentimentsbegriffs bis hin zu politischen und ästhetischen Diskursen einer staatskritischen décadence der ästhetischen Moderne, linksrevolutionärem Impetus, Konservativer Revolution, der Counter Culture der »68er« bis hin zu den woken, identitätspolitischen Strömungen der Gegenwart. Am Ende des Buches schließt sich der Kreis, beginnend mit »Montaignes flirrend-vielsinnigem Szenario des Ressentiments.« (S. 326) Und so wie auch Montaignes Analyse »einer brutalen oder unzweckmäßigen, jedoch emotionslogisch gesehen ‚kalten‘, ja unmotivierten oder unzweckmäßigen Wut […] nicht unmittelbar auf Lösungen hin entworfen« war (S. 326 f.), so will auch dieses Buch keine Therapie für aggressionsfreie Kommunikation liefern, sondern es skizziert manchmal sinnvolle, oft aber auch absurde Kontexte, Situationen, Lebenswelten und philosophische Theorien, darin Ressentiment auf unterschiedliche Weisen Diskurs und Gesellschaft bestimmt – von ästhetischen wie auch politischen Avantgarden über Protestbewegungen bis hin zum »Bürgertum ohne Bürger« und identitätspolitisch durchwirkte Bobos versus Wutbürger.

»Dieses oft selbstbewußt ausgestellte, weil moralpolitisch rationalisierte Ressentiment ruft seinerseits die ressentimentale Reaktion progressiv-emanzipatorisch oder auch regressiv-bewahrend argumentierender Widersacher hervor. Die dabei einander unterstellten Affekte sind weder sublimierbar noch überwindbar.« (S. 334)

An dieser detail- und materialreichen Studie wird niemand, der eine profunde Analyse zum Begriff des Ressentiments lesen möchte, vorbeikommen. Manche Passage hätte ich mir kürzer gewünscht, das Buch zieht sich zuweilen, gerade im zweiten Teil. Aber hier ist es wie mit einem umfangreichen Lexikonartikel: man nimmt die Teile, die interessieren. Die Kapitel lassen sich, je nach Neigung, gut auch separat lesen.

Bücher sind zwar nicht primär dafür gedacht, Wünsche des Lesers zu erfüllen. Aber bei einem drängenden Thema wie dem Antisemitismus und den sich dort herausbildenden Ressentiments gegen Juden – sei es von rechtsextremer, sei es von linksextremer oder migrantisch-muslimischer Seite her – hätte es im praktischen Teil dazu unbedingt eines eigenen Kapitels bedurft, selbst wenn man bedenkt, dass der 7. Oktober nicht mehr ins Buch einfließen konnte. Die Abhandlung über Antisemitismus auf nicht einmal zweieinhalb Seiten in einem Unterkapitel ist zu wenig.

Gewünscht hätte ich mir zudem, gerade was den mit dem Ressentiment verwandten Begriff der Idiosynkrasie betrifft, ein Kapitel zu Adornos Philosophie, die sich ganz wesentlich aus einer auch affektiven Ebene speist. Gerade bei Adorno, im Changieren zwischen den »Minima Moralia« als einem nichtsystematischen philosophischen Denken, darin es über subjektive Regungen und daran andockende Affekte läuft, und der »Negativen Dialektik« als ausgefeilter Philosophie und dem darin forcierten mikrologischen Blick kommt das Ressentiment als Möglichkeit kritischen Philosophierens, wie schon bei Karl Kraus, zu seiner Ehre: Unter dem Brennglas, als vergrößerte Kleinigkeiten kann am Detail qua Affekt das Ganze aufgehen. Insbesondere die »Meditationen zur Metaphysik« am Ende der »Negativen Dialektik« zeugen davon.

Dennoch: das Buch liefert im theoretischen wie im praktischen Teil eine profunde und vor allem materialreiche Studie zu einem Begriff, der im Zuge von Systemdenken, Universalismus und kommunikativer Rationalität weitgehend aus der Philosophie verdrängt wurde. Gerade unter der politischen Perspektive hinsichtlich einer aufgeheizten Gegenwart und um einen sinnvollen Umgang mit Ressentiments zu finden – auch im Sinne politischer Phronesis. Große schließt seine Analyse mit diesem Fazit: »Bereits der Ressentimentvorwurf als solcher ist sozial tödlich: zumindest besagt er eine innere Unwahrhaftigkeit seines Adressaten. Die Einheit heutigen Ressentimentempfindens besteht darin, daß man im Gegenüber genau das erblickt und erkannt, was man in sich selbst nicht zu fühlen und zu leiden wagt.« (S. 334)

Mit solchem Eingeständnis wäre bereits viel gewonnen. Ressentiment ist nicht wegtherapierbar, sondern es kommt auf einen reflektierten und zugleich auch reflexiven Gebrauch an.


Artikel online seit 24.09.24
 

Jürgen Große
Die kalte Wut
Theorie und Praxis des Ressentiments
Büchner Verlag
Marburg 2024
384 Seiten
39,– €
978-3-96317-375-2

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