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Gehaltvolle
Philosophie in dürftiger Zeit |
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Der vor hundert Jahren in Frankfurt-Höchst geborene und 2011 gestorbene Karl Heinz Haag gehört zu den großen Unbekannten der Philosophie. Seine Metaphysik hat ihn völlig ins Abseits gebracht. Das abendländische Denken kann angeblich nur noch Geltung beanspruchen, soweit es als nachmetaphysisches auftritt. Ein Antipode dieser Dogmatik sei hier vorgestellt. Laut Haag lässt sich philosophisch nur rational denken, wenn man die Gegenstandswelt metaphysisch auffasst. Das ist die Quintessenz seines Werks und der Titel seines letzten Buchs.1 Er entfaltet seine Metaphysik im Durchgang durch die gesamte Philosophie als Darstellung und Kritik ihrer authentischen Werke, gipfelnd in denen der Moderne. Für diese ist es kennzeichnend, mit dem Erkenntnisideal der Naturwissenschaften d’accord zu sein. Welchen Status kann naturwissenschaftliche Erkenntnis aber selbst beanspruchen? Ist die mit ihr begründete, den metaphysischen Kategorien geltende tabula rasa gerechtfertigt? Sind Wesen, Ansichsein, Realgrund, Ganzes, Ontologie also sinnlose Kategorien? Physikalische Wissenschaften klären uns über einen separierten Naturzusammenhang auf und verifizieren die gefundene Gesetzmäßigkeit durch ein Experiment. Ein Naturgesetz wie die Fotosynthese regiert einen Teilprozess des Pflanzenwachstums; damit eine Pflanze erzeugt wird, braucht es mehrere solcher, von Gesetzen regierte Teilprozesse. Chemische, stickstoffbasierte Reaktionen starten den Keimprozess, das erzeugte Blattgrün absorbiert das Sonnenlicht, der als Sog wirkende Unterdruck im Pflanzeninneren zieht entgegen der Schwerkraft das die Pflanze versorgende Grundwasser nach oben. Diese Einzelprozesse müssen zweckmäßig zusammenwirken. Die Naturgesetze, denen sie gehorchen, sind notwendige Mittel der Erzeugung des Pflanzenkörpers, aber sie sind nicht das Ganze. Es braucht ein Prinzip, das sie auf ein Ganzes hin anordnet. Das zweckmäßig anordnende Prinzip lässt sich nicht selbst als ein Naturgesetz fixieren, und per Experiment demonstrieren. Es gehört einer physikalisch nicht zugänglichen Dimension der Natur an. Von ihr kann Metaphysik nur sagen, sie sei zwar empirisch nicht fassbar, aber ohne diese Dimension Natur zu denken, sei unvernünftig, irrational. Kant, auf den sich Haag hier bezieht, hat diese Schicht das Ding an sich genannt. Haag nennt sie das „metaphysische Fundament des Zusammenhangs von Mittel und Zweck“2. Ohne dieses Fundament zu philosophieren hieße, roher Materie das Vermögen zuzusprechen, sich selbst zu differenziertem Leben entfalten zu können. Kant, auf den Haag sich hier stützt, nennt dies „vernunftwidrig.“ Naturwissenschaften könnten keine Gesetzmäßigkeit fixieren, wenn ihre Gegenstände ungeordnet wären. Wäre die Natur nur ein Chaos zerstreuter Einzeldinge, wäre sie nicht nach Arten und Gattungen gegliedert, es ließe sich über sie keine experimentell belegbaren Aussagen treffen. Die Genese einer Pflanze verliefe einmal so, einmal anders. Ein Naturgesetz, das identische Abläufe für denselben Art- und Gattungszusammenhang formuliert, wäre unmöglich. Aus diesem Gedanken zieht Haag einen weiteren, seine Metaphysik stützenden logischen Schluss. Die Klassifikation der Natur, der Gattungsbegriff Pflanze beispielsweise, ist begrifflicher Art. Die Pflanze lässt sich nicht schmecken, riechen, ertasten und sehen. Aber das Wort kann nicht nur ein subjektives Zeichen sein. In den Einzeldingen, auf der Objektseite, gibt es etwas, das das Ordnen in Gattung und Art erlaubt, und woran menschliche Erkenntnis sich halten kann. Die Einzeldinge partizipieren, so Haag unter Verwendung des klassischen Begriffs, an ihrem Wesen. Kann aber etwas Sein beanspruchen, dem alle sinnlichen Qualitäten abgehen? Keinesfalls, sagt eine die Naturwissenschaften zur Philosophie aufspreizende Philosophie, und der Alltagsverstand stimmt ihr zu. Nur was per Experiment, Beobachtung und Falsifizierung, mit den üblichen naturwissenschaftlichen Verfahren also, dingfest zu machen ist, ist etwas Reales. Haag hält dagegen. Schon eine begriffliche Klassifizierung, gar die Naturgesetze, wären auf der Basis von Einzeldingen gar nicht möglich. Diese selbst weisen eine Ordnung - in der Sprache der Philosophie eine Ontologie - auf, nur diese macht sie wissenschaftlich erforschbar. Die Naturwissenschaften sind nicht omnipotent in ihrer Erklärungsmacht. Das Gesetz der Fotosynthese bringt die Pflanze nicht hervor. Die wissenschaftliche Methode erschließt mit ihren Experimenten nicht, was die Natur in ihren Schaffensakten leitet. Auch die Gentechnologie, die Haag noch gar nicht vor Augen hatte, ändert daran nichts. Sie reproduziert, was sie vorfindet, sie produziert es nicht. Der Eingriff in die genetische Keimbahn setzt die menschliche Zelle voraus. Wird menschliche Natur wie alle Natur aber als wesenlos gedacht, ist ihrer völligen Verfügbarkeit keine Grenzen gesetzt. Nun maßt sich Haag seinerseits kein omnipotentes Wissen an. Worin jedes Naturding sein Wesen hat, das es seiner Gattung und Art zuordnet und zugleich als Individuelles entstehen lässt, bleibt menschlicher Erkenntnis verschlossen. Haags Metaphysik ist eine negative, sie wiederbelebt nicht die sich von Platon fortschreibende Ontologie. Deren Grundirrtum sieht er darin, die empirische Welt aus einer Hierarchie der Ideen hervorgehen zu lassen. Was sich dem abstrahierenden menschlichen Verstand verdankt, kann nicht zum Wesen der Einzeldinge erklärt werden. Der real existierende Holunder im Garten ist nicht bloß der Schatten einer Idee. Die Selbstgenügsamkeit innerakademischer Debatten war Haags Sache nicht. Er zielt auf eine Veränderung der Gesellschaft. Er zeigt, wie sehr eine als wesenlos ausgegebene Natur Passform aufweist für eine Ökonomie, die die äußere und die menschliche Natur als bloßen Rohstoff der Kapitalverwertung ansieht. Sie sei zur „Brandschatzung“ freigegeben. Natur als wesenhaft zu begreifen, ist für ihn „von höchster Wichtigkeit nicht nur für das Schicksal der Philosophie, sondern hat intensivste Bedeutung…für das Schicksal der Menschheit.“3 Seine negative Metaphysik bleibt das Positive schuldig. Sie weiß, Naturwissenschaften bieten eine relative Erkenntnis ihres Gegenstands, keine absolute. Sie bilden den historischen Stand der Auseinandersetzung der Gesellschaft mit der Natur ab. Davon lässt sich nicht abstrahieren. Eine überhistorische, ewige, das Wesen der Natur wiedergebende Philosophie reimt sich auf Scharlatanerie. Haag intendiert keine dogmatische Wesensschau. Die von Kant der Vernunft gezogene Grenze des Erkennbaren ist nicht statisch, sondern verschiebt sich gemäß dem fortschreitenden gesellschaftlichen Lernprozess. Aber dieser Lernprozess endet nicht bei der totalen Erkenntnis der Natur. Die Natur an sich lässt sich nicht affirmativ bestimmen. Nachmetaphysisches Denken folgert daraus: Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Haag zieht daraus einen theologischen Schluss. Er behauptet nicht weniger als „daß es einen Gott gibt. Diese Gewissheit ist erreichbar – in logischer Strenge.“4 Das Prinzip, das die nach ihren Gesetzmäßigkeiten verlaufenden Naturprozesse so organisiert, dass jeweils ein zweckmäßiges Naturgebilde entsteht und in ihrem Zusammenwirken ein geordnetes Universum, kann, so Haag, nur ein göttliches, allmächtiges sein. Wenn ein solches determinierendes Prinzip ausgeschlossen ist, bleibt als logische Alternative Indeterminismus, also der Zufall. Der das Universum in seinem Werden und Bestehen verursachende Zufall erfreut sich ja einer ziemlich guten Presse. Haag weist solcher Pressemeldung ihren Denkfehler nach. Sich auf rein physikalisch Fassbares bei der Naturauffassung zu beschränken, spricht dem Zufall eine unglaubliche Bedeutung zu. Er nimmt, so Haag, dann gleichsam selbst die Stelle Gottes ein Haag rehabilitiert Theologie, indem er zeigt, dass für das Sein und das Werden konkreter Naturdinge naturwissenschaftliche Welterklärung nicht hinreicht. Er gibt nicht vor, der von ihm als allmächtig bezeichneten göttlichen Vernunft in die Karten zu schauen. Seine Denkbewegung ist eine negative; sie negiert, was ein Alltagsatheismus sich selbst einredet: Anorganische, rohe Materie, die sich einmal Knall auf Fall bewegt hat, konstituiert aus sich selbst heraus lebendige Organismen, die per Versuch und Irrtum die Evolution in Gang bringen; dann entwickelt sich noch die Krone der Schöpfung und unser Bewusstsein von der ganzen Geschichte. Haag hat seinen Gottesbegriff kosmologisch entwickelt. Es ist keine gegen den kantianischen Geist verstoßende Theologie. Er hält an der Begrenzung des menschlichen Intellekts fest; davon lässt er sich kein Jota abhandeln. Jede Theologie, die sich im Besitz des göttlichen kosmologischen Plans wähnt, lehnt Haag ab. Und auch deren Gegenteil lehnt er ab, eine moderne, existentialistische Theologie, die aus lauter Resignation vor den allzuständigen Naturwissenschaften, ins Irrationale flüchtet, in die Haltung: Ich glaube, weil es absurd ist.
Metaphysik als Forderung
rationaler Weltauffassung, Frankfurt a. M., 2005 |
Kritische
Theorie und das Erbe der Metaphysik |
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