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Wider die Empörung

Tim Henning fragt nach der Vereinbarkeit von zwei scheinbar konträren Gegenstandsbereichen: Der Freiheit und Autonomie der Wissenschaft und der Legitimation moralischer Kritik.

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Können moralische Einwände ein Rechtfertigungsgrund sein, um wissenschaftlich gewonnene Ergebnisse zurückzuweisen? Läuft dies nicht auf eine Einschränkung des wissenschaftlichen Diskurses durch die Moral hinaus?
Zur Beantwortung der Frage ist es geboten zu klären, was konkret mit
»moralischen Gründen« gemeint ist. Damit einher geht die Frage nach einer Koinzidenz von Moralkriterien und wissenschaftlicher Geltung, die grundsätzlich durch eine diskursive Prüfung der Thesen erbracht wird. Kritikpunkt in diesem Zusammenhang sind etwa unzureichende Belege, die Nicht-Überprüfbarkeit von Hypothesen, fragwürdige Quellen und epistemisch-methodische Unschärfe. Solche Methoden sind moralisch fahrlässig und insofern kritikwürdig. Die Rechtmäßigkeit der Methode ist somit auch eine Frage der Moral.

Es dauert allerdings rund 200 Seiten, bis Henning zu dieser Erkenntnis durchstößt. Bis dahin erfolgen zahlreiche Ausflüge in die analytische Sprachphilosophie und einige Allgemeinplätze der Wissenschaftstheorie.
Vor allem aber ist meines Erachtens der Ausgangspunkt unglücklich gewählt, denn das Buch beginnt mit Aspekten des Moralismus und der öffentlichen moralische Empörung, die – wenig überraschend – nicht als moralische Gründe taugen.

Mit diesem Kniff holt Henning zwar die Öffentlichkeit ab, in der daran anschließenden Debatte aber wird ihm kaum noch jemand folgen können, der kein Philosophiestudium abgeschlossen hat. Deshalb stellt sich die Frage: Wozu dieser Umweg über die Macht der Empörten, die Fallstricke des naturalistischen Fehlschlusses und diverse Kosten-Nutzen-Analysen? Warum kein Absatz zu modernen Klassikern der Praktischen Philosophie, etwa der Diskursethik, die diese Problematik schon x-mal diskutiert hat – nicht zuletzt auch jene Beispiele einer empörten Öffentlichkeit, die sich bei den folgenden, im Buch besprochenen Thesen gemeldet hat?

(1)  »Schwarze Menschen haben genetisch bedingt durchschnittlich einen geringeren IQ.« (Jensen/Herrnstein/Murray)

(2)  »Der Begriff der Frau trifft nur auf biologisch weibliche Erwachsene zu.« (Kathleen Stock)

(3)  »Neugeborene mit schweren Behinderungen haben keine Interessen, die ihre Tötung absolut verbieten.«
(Peter Singer)

Die daran anschließende öffentliche Entrüstung weist Henning zurück und zeigt, dass eine legitime moralische Kritik dennoch möglich ist, wenn sie sich auf epistemische Grundannahmen und diskursive Rechtfertigungspraktiken bezieht. Sein Fazit: »Die Wissenschaftsfreiheit … schützt nicht jedwede Meinung, nur weil sie irgendjemand hat. Vielmehr beruht sie auf der Überzeugung, dass die Äußerungen einiger Menschen von besonderem Interesse sind, weil sie in einer Weise qualifiziert sind, die diesen Äußerungen einen besonders hohen epistemischen Wert verleiht.«
Das freilich ist ein Punkt, den die Empörten dieser Welt vermutlich nie verstehen werden.


Artikel online seit 14.09.24
 

Tim Henning
Wissenschaftsfreiheit und Moral
Suhrkamp Wissenschaft
319 Seiten
30,00 €
978-3-518-58810-9

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