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»Alles oxidiert.«

Alexander Pschera ist tief in Victor Hugos »Ozean« aus Notizbüchern, Skizzenheften und Manuskriptentwürfen eingetaucht.

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

I
Victor Hugo, so zitiert Walter Benjamin in seiner Passagenarbeit einen Nachruf, sei der
Mann des neunzehnten Jahrhunderts, wie Voltaire der Mann des achtzehnten Jahrhunderts war. Mit scharfem Blick hat Hugo (1802-1885) sein Jahrhundert observiert und über sechs Jahrzehnte Beobachtungen festgehalten, Notizen, Tagebuchaufzeichnungen, Abhandlungen, Aphorismen, die er in unregelmäßigen Abständen niederschrieb und die bereits am Ende des neunzehnten Jahrhunderts als „Choses vues“ publiziert wurden.

Alle zurückgelassenen Fragmente sollten seine Kinder, so Hugos Wunsch, nach dessen Tod ordnen und unter dem Titel „Ozean“ veröffentlichen. Da jedoch nicht nur drei von Hugos Kindern vor ihm selbst starben, sondern er auch seine Frau bereits 1868 beerdigen musste, blieb dieser Wunsch unerfüllt. Dennoch wurden Teile seines Nachlasses später unter dem Titel „Océan. Tas de Pierres“ (Ozean. Steinhaufen) veröffentlicht.

Alexander Pscheras Sammlung bietet nun – auf diesen Publikationen basierend – einen Querschnitt durch das nachgelassene Material „unter dem schönsten Titel, den man sich dafür denken kann.“ Die Übersetzung der knapp 1000 Druckseiten hat Pschera selbst besorgt.

II
Der Ozean gilt im Allgemeinen als ein Ort der Geheimnisse und des Unerforschlichen. Er ist Sinnbild der menschlichen Psyche wie auch Symbol des Ursprungs des Lebens – und steht nicht zuletzt für das Leben selbst mit all seinen Höhen und Tiefen. Victor Hugos eigenes Leben war in der Tat ein stetes Auf und Ab.

Seine ersten Aufzeichnungen aus dem Jahr 1825 kreisten um Shakespeare und dessen Werk, das ihn zeitlebens beschäftigte. So verfasste er noch rund vier Jahrzehnte später, im Exil, einen eigenen Band über den englischen Dramatiker, in dem es gleich zu Beginn heißt: „Es gibt Menschen, Ozeane in Wirklichkeit.“

Unter Bezugnahme auf den Ozean schreibt er weiter: „Diese Wellen; diese Ebbe und Flut; dieses furchtbare Kommen und Gehen; dieser Lärm jeder Böe; diese Lichter und Schatten … diese Ungeheuer, die man erblickt; dieses Tosen, das diese Nächte der Finsternis stört; diese Furien, diese Rasereien, diese Stürme, diese Felsen, diese Schiffbrüche, diese Flotten, die sich gegenseitig zermalmen, diese menschlichen Donner, die sich mit göttlichen Donnern vermischen, dieses Blut im Abgrund … all das kann in einem Geist existieren; und dann wird dieser Geist Genie genannt, und du hast Aischylus, du hast Jesaja, du hast Juvenal, du hast Dante, du hast Michelangelo, du hast Shakespeare; und diese Geister zu betrachten ist dasselbe, wie den Ozean zu betrachten.“ (Übers.: JNS)

Das Meer spielte aber auch in seinen Romanen eine Rolle. Im „Teufelsschiff“ (1866) etwa, in dem ein Dampfer Schiffbruch erleidet und vom tosenden Ozean an einen Felsen geschleudert wird. Im Kampf mit den Naturgewalten jedoch gewinnt der mutige Protagonist, ein Fischer, am Ende nicht jede Schlacht: Die Liebe seines Lebens bleibt ihm verwehrt.

Während der Revolution 1848 rekurrierte Hugo abermals auf den Ozean: „Mit großer Mühe durchqueren wir den menschlichen Ozean, der tosend wie ein Sturm den Platz vor dem Rathaus bedeckte.“

III
Gleich zu Beginn der Aufzeichnungen spielt auch Charles X., König von Frankreich ab 1824, eine Rolle im Leben Hugos. Infolge seiner klerikal-reaktionären Politik und seiner Bestrebungen zur Wiedereinführung der absoluten Monarchie wurde Charles 1830 im Zuge der Julirevolution gestürzt. Hugo spricht von einer starken Zeit, die schwachen Menschen ausgeliefert sei wie auch von Adlern, die eine Armee von Spatzen befehligen müssten.

Ende der 1830er Jahre klingt er nachdenklicher: „Die Boulevards sind menschenleer. Nur die Regimenter sind noch da, die hier und da biwakieren. Auf dem Rückweg verliere ich mich in den kleinen Straßen des Marais. Alles ist still und düster. In der alten Rue du Temple ist es dunkel wie in einem Ofen. Die Laternen wurden zerschlagen.“
Im Jahre 1840 wurde er sodann Zeuge, wie Napoleons Leichnam in den Invalidendom, einen Kuppelbau im 7. Pariser Arrondissement und Teil der Anlage des Hôtel des Invalides, überführt, und die einstige Kirche zur letzten Ruhestätte des Kaisers wurde.

Immer wieder sprach sich Hugo gegen die Todesstrafe aus und diskutiert dies in dem vorliegenden Band anhand eines berühmt gewordenen Falles. Im Juli 1846, während eines Nationalfeiertags, erschien König Louis-Philippe, umgeben von seiner Familie, auf dem Balkon seines Palastes, um das Signal für die öffentlichen Feierlichkeiten zu geben. In kurzem Abstand folgten zwei Schüsse aufeinander. Der Schütze, Joseph Henry, ein Hersteller von Phantasieobjekten aus Stahl, erklärte, er könne sich nicht selbst töten, deshalb habe er nach einem Mittel gesucht, damit er getötet werde, und er fügte hinzu, er habe deshalb eine hohe Persönlichkeit erschießen müssen. Die Schüsse verfehlten ihr Ziel. Es war nicht das erste Attentat auf Louis-Philippe. Henry hingegen wurde nach kontroverser Debatte zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt. 

Aber auch das Schachspiel nimmt Hugo in seinen Notizen zur Kenntnis und referiert über die Partien zwischen Alexander McDonnell und Louis Charles Mahe des la Bourdonnais, deren Züge von einem Zuschauer aufgezeichnet wurden und somit zur Entstehung der modernen Schachtheorie beitrugen.

IV
Die blutigen Straßenschlachten, die politische Unruhe und die Welthandelskrise trübten auch Hugos Blick. Dann brach auch noch die Cholera in Europa aus, und im August 1850 starb Balzac: „Leider geht alles dahin, alles verdunkelt sich, alles bricht zusammen. Manchmal bin ich zutiefst traurig. Alles oxidiert.“

Die bewegenden Jahre fanden ihren Höhepunkt im Staatsstreich von Louis Napoleon, der die Nationalversammlung im Dezember 1851 auflöste und Oppositionelle verhaften ließ. Victor Hugo ging ins Exil.
Über die Zeit des Zweiten Kaiserreichs urteilte Siegfried Kracauer einst: „Selbstvergesslich lebte die Gesellschaft … über die Leichen und Ruinen hinweg … Die Lust dieser Gesellschaft waren Feste, die Trunkenheit schenkten, den Augenblick aus dem Zusammenhang hoben und die Agitation der Sozialisten, Republikaner und Studenten übertönten.“

Hugo arrangierte sich im Exil und reiste in den 1860er durch Deutschland entlang des Rheins (vielleicht inspiriert durch Heines Reflexionen und Gedichte).
Nach der Abdankung von Napoleon III. kehrte er noch während des Deutsch-Französischen Krieges aus dem Exil zurück und verfasste seinen „Aufruf an die Deutschen“. Selbstkritisch fragte er sich: „Wer bin ich? Allein bin ich niemand. Mit einem Grundsatz bin ich alles. Ich bin die Zivilisation, ich bin der Fortschritt, ich bin die Französische Revolution, ich bin die soziale Revolution.“
Wie viel Arbeit Alexander Pschera in diesen wundervollen Band gesteckt hat, lässt sich kaum ermessen.


Artikel online seit 15.02.24
 

Victor Hugo,
Alexander Pschera (Hg.)
Ozean
Dinge, die ich gesehen habe
Übersetzt von Alexander Pschera
Matthes & Seitz, Berlin
978 Seiten, Mit flexiblem Leinenband
48,00 €
978-3-7518-0916-0
 


 

 


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