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Blut im Schuh und Fell über die Ohren
Von Wolfgang Bock |
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Für Peter Kerns neues Buch muss man sich Zeit nehmen. Es beginnt beschaulich. Es ist zunächst eine Kindheitsgeschichte, die Chronik des Aufwachsens in einem Dorf in der Pfalz in der Nähe der französischen Grenze in den neunzehnhunderfünfziger und -sechziger Jahren. Bald entwickelt sich die Geschichte zu der eines Jugendlichen, der aufbegehrt gegen den Mief der Nachkriegszeit, um im dritten Teil schließlich zu einer Reflexion und Dokumentation dessen zu werden, was in den herkömmlichen Chroniken des Ortes Rodalb nicht vorkommt: Kern begibt sich auf die Suche nach den Juden und der Täter, die in seinem Dorf gelebt haben. Von diesen verzeichnet die Holocaust-Gedenkstätte in Yad Vashem immerhin 78 Personen als Opfer. Auf den Spuren der Täter kreuzt der Autor vielfach die eigene Familiengeschichte. Waren der Vater, die Tante und andere nahe und entfernte Verwandte und Freunde tiefer in den Terror der NS-Zeit verwickelt, von dem man nachher offiziell nichts mehr wissen wollte? Er deckt solche Verleugnungen auf, macht Richtigstellungen und bewegt sich so zwischen Scham und Aufklärung. Kern schreibt also eine Familienchronik, wie sie mehr oder weniger jeder der in Deutschland Nachgeborenen im Land der Täter aufweisen kann. Diese hier ist oft kleinteilig und es kommen viele Personen darin vor. Darüber hinaus wird viel Dialekt gesprochen, für den es aber auch eine Übersetzung gibt. Konstruktion und Revue Formal ist das Buch eine Sammlung von dreiundsiebzig Kurzgeschichten, die im Stil von Aphorismen betitelt sind. Im ersten Teil wird der Bannkreis des Dorfes kaum verlassen. Die Perspektive darauf ist die, die das Kind von den Eltern vermittelt bekommt. Kinder, Küche, Kirche beherrschen die halb geträumte Welt zwischen Biebermühle und Taubenberg, in der der Vater seltsam krank ist und wegen verschiedener Sanatoriumsaufenthalte kaum anwesend. Später stellt sich heraus, dass er unter Tuberkulose litt und damit auch die Kinder gefährdete. Die wurden weggeschickt. Der Vater vermittelt dem Sohn dennoch die Liebe zum Fußball, zum Boxen und wohl auch zu lakonisch-ironischen Kommentaren. Zu Beginn der Pubertät kommt der Knabe auf ein katholisches Internat. Die Erzählform erinnert hier im besten Sinne an die großen deutschen Naturalisten des 19. Jahrhundert wie Johann Peter Hebel oder Theodor Fontane. Im zweiten Teil nimmt die Geschichte dann Fahrt auf in Richtung Revolte. In der Pfalz sind amerikanische Soldaten stationiert, die nicht nur Zigaretten, Joints und die Rockmusik der Doors und von Humble Pie mitbringen (letztere allerdings aus London), sondern auch die politischen Probleme. Amerika befindet sich im Krieg mit Vietnam, die Black Panthers organisieren den Widerstand der Kriegsdienstverweigerer, die Rote-Armee-Fraktion verübt Anschläge auf Kasernen und Überfälle auf Banken auch in der Region. Der Heranwachsende politisiert sich. Sein älterer Bruder studiert bereits, er selbst schreibt Flugblätter für eine politische Zelle, die entfernt Kontakt mit späteren Terroristen hat. Die Geschichte passiert hautnah: die Entführer der Air-France-Maschine vom 27. Juni 1976 nach Entebbe waren zuvor zu politischen Unterstützung von Aktionen in die Region gekommen. Die Eltern verfolgen die Entwicklung ihres Sohnes – „lange Haare, kurzer Verstand“ – mit Sorge und Selbstzweifel. Der Vater stirbt, der Sohn zieht in eine Wohngemeinschaft in der Stadt, die ganz cool nur K-Town genannt wird. Hier trägt der Text Züge von anderen Achtundsechziger Chroniken wie Bommi Baumanns Wie alles anfing oder Frank Witzels Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969. Anders aber als Witzel, der in einen phantastischen Realismus verfällt, der Ursache und Wirkung verkehrt, verliert der politisch geschulte Autor den Realismus und die Chronik nicht aus den Augen. Im Gegenteil, im dritten Teil, in dem der Icherzähler vom Jungen zum Mann wird, wird auch mit den Jugendträumen anders umgegangen. Die Perspektive verändert sich und wird offen an die Jetztzeit herangerückt. Fünfundzwanzig Jahre nach dem Vater stirbt nun auch die Mutter. Die vergangene Zeit überbrückt der Autor mit Bildern eines historischen Daumenkinos: »Er musste doch nochmal nach KTown zurück, seiner Vergangenheit wegen. Dreißig Jahre war es her, seit er wankend aus der Fritz-Walter-Stube gekommen und mit Kopfschmerzen am nächsten Morgen nach Rhein-Main gefahren war. Seither war einiges für ihn Bedeutsames geschehen. Augusto Pinochet putschte gegen Salvador Allende und ließ 3000 Chilenen umbringen, Nixon erlebte sein Watergate und Willy Brandt musste sein Kanzleramt der Guillaume-Affäre wegen abgeben, und der Vietnam-Krieg ging zu Ende, und Franco starb im Bett, und in Stammheim brachten sich die Häftlinge um. Anwar al-Sadat schloss mit Israel das Camp-DavidAbkommen und bezahlte dafür mit seinem Leben, und die UdSSR marschierte in Afghanistan ein, und Helmut Kohl gründete die BimbesRepublik, ein deutscher Historiker erklärte Auschwitz zu einer nachgeahmten asiatischen Tat. Gorbatschow wollte erfolglos die Sowjetunion reformieren, was zu ihrem Ende führte und auch die Teilung Deutschlands in zwei Staaten beendete, und der Mob in Rostock belagerte vier Tage ein Asylheim für Flüchtlinge, warf Molotow-Cocktails, während die Polizei zusah und die Bevölkerung applaudierte. In Solingen starb eine vierköpfige türkische Familie, weil Neonazis nachts ihr Haus anzündeten, und Karadzic, Milosevic und Mladic begingen Völkermord, während eine Linke ihren Pazifismus entdeckte und gegen die Nato protestierte, welche die Massenmorde verhindern sollte; und Al Quaida bombardierte mit zwei Flugzeugen die Twin Towers und 3000 Leute kamen ums Leben. Männer und Frauen paarten sich, machten Kinder und die Kinder machten wieder Kinder.« Nicht nur die Daten der Zeitgeschichte werden so durchlaufen, sondern auch die Details der Kindheit noch einmal neu sortiert. Die vorherige Ausbreitung erweist nun ihren guten Sinn. Kern kann jetzt vor seinem eingeführten Hintergrund beschreiben, worum es ihm eigentlich geht. Mit anderen Worten, er macht den vorher geöffneten Sack nun zu. Was einem oberflächlichen Leser den Text als eine Art Rohdiamant erscheinen lässt, den man ins Romanhafte noch weiter hätte steigern können, offenbart die formale Finesse seines inneren Aufbaus. Es ist eine des komplexen Verhältnisses von Form und Inhalt als Ablösung und Verbindung. Wo Du’s nicht selber bist. Zirkelschluss, Kausalitätsprinzip, Schicksal Die Gespräche mit seinem älteren Bruder klären den Icherzähler in der Geschichte nun weiter auf. Er erfährt, dass der Vater in der Nazizeit eine Fabrik geleitet hatte, die im großen Stil Stiefel für die Wehrmacht produzierte. Im Konzentrationslager Sachsenhausen starben dafür Hunderte Häftlinge, die mit Marschgepäck die Produkte bei einem „Schuh-Läuferkommando“ erproben mussten. Mit Anklängen an Grimms Märchen vom Aschenputtel heißt das entsprechende Stück „Blut ist im Schuh“. Angesichts der Arisierungsgewinner innerhalb der Familie beschließt der Autor zusammen mit seinem Bruder die Erforschung der NS-Geschichte des Dorfes. Das Unternehmen gibt dem Buch den Titel. So kommt es zu einer neuerlichen Verschiebung von Roman, Chronik und Dokumentation. Das Resultat ist zugleich eine Weltgeschichte im einzelnen Fall, denn auch eine Dokumentation bedarf einer Metaphysik, auch wenn diese negativ ausfällt: Was anderen fern liegt, nimmt der Autor sich zu Herzen. Möglich, dass darin noch ein Stück Ethos im Christentum des früheren Messdieners liegt; immerhin zitiert das vorletzte Stück „Wundschmerz“ den schlesischen Schuster und Mystikers Angelus Silesius in diesem Sinne. Nach dem Gespräch mit seinem Bruder über die Verstrickung des Vaters im italienischen Restaurant ist dem Erzähler jedenfalls der Schlaf geraubt. Denn die Verfolgung der NS-Aktivitäten im Dorf führt ihn oft genug in die eigene Familie: »In der auf den Garibaldi-Abend folgenden Nacht konnte der Mann nicht schlafen. Er grübelte über Franz von Sickingens Kausalitätsprinzip nach. Der Vater zeugte ein Kind, weil er sich nochmal verheiratete; er verheiratete sich nochmal, weil er die erste Frau verloren hatte; er hatte die erste Frau verloren, weil eine Bombe fiel; die Bombe fiel, weil Hitler mit England im Krieg war; Hitler konnte England den Krieg aufzwingen, weil er der Reichskanzler war. Verdankte der Mann seine Existenz letztendlich einem Hitler? Und wer hat sich den Führer auserkoren, hat ihn gewählt? Doch Leute wie sein Vater. Zirkelschluss, Kausalitätsprinzip, Schicksal? Der Mann fand keine Lösung.« Geschichtswerkstatt Nun begibt sich der Erzähler weiter auf die Spur der Zeugnisse der zwölf Jahre des „Tausendjährigen Reichs“, die bis heute fortwirken. Der Text gerät darunter selbst zu einer Dokumentation. Er findet einen weiteren Chronisten, der ihn dort mit Dokumenten versorgt, wo der Bruder die Mitarbeit immer mehr einstellt. Auch die Schwester hilft. Und so schreibt Kern die Geschichte der jüdischen Bürger seines Dorfes und ihrer Peiniger. Diese ist eine der Vertreibung und der Arisierung. Das Sägewerk der Bruder Ludwig und Gustav Samuel wird von den arischen Prokuristen übernommen, in deren Händen es sich bis heute befindet; die Synagoge und das große jüdische Wohnhaus mit dem Laden der Familien Bär und Metzger vom NS-Bürgermeister des Dorfes – für einen Appel und ein Ei, die dann noch nicht einmal ausgezahlt werden – einem Gastwirt überlassen, der der Partei angehört. Aus dem Dorf stammt auch Joseph Bürckel, Gauleiter, später Verantwortlicher für die Angliederung Österreichs und Chef von Arthur Seyß-Inquart und Adolf Eichmann. Vor Ort organisiert der Bürgermeister Eugen Willenbacher die Deportation. Während in den offiziellen Chroniken des Dorfes bis heute lobend von der NS-Mustersiedlung die Rede ist, berichtet Kern von der Familie Bloch oder dem Zionisten und Arzt Julius Moses, einem Freund Theodor Herzls, der die Hygieneversorgung in Palästina organisiert. Er verfolgt auch die Karriere seines Lehrers, die in der NS-Zeit mit der prügelnden Durchsetzung des Hitlergrußes beginnt und die diesen in den sechziger Jahren dennoch auf den Direktorposten der Schule bringt, wo er weiterhin Ohrfeigen verteilt. Mit neuen Augen wird auch auf die Biebermühle geschaut. Hier waren in den 1940er Jahren Arbeitslager von Ukrainern untergebracht, die den Bauern halfen und Luftschutzbunker bauten. Vor den Bombardements der Alliierten fanden sie dort aber keinen Schutz: »Auf diesem Friedhof liegen 500 ukrainische Tote. In den in die pfälzischen Berge getriebenen Bunkeranlagen konnten die Zwangsarbeiter und ihre Familien keinen Schutz finden; beim Bau dieser Anlagen waren sie gleichwohl eingesetzt worden.«
Das Schicksal der
Zwangsarbeiter folgt mithin dem alten Emblem vom Adler, der vom Pfeil getroffen
wird, welcher am Ende seine eigenen Federn trägt. Dieses Buch ist für Dich Kern schreibt eine deutsche Familiengeschichte aus der Perspektive der Kinder, die zugleich eine der Täter und der Opfer ist. Dass diese nicht durchgängig einem Roman oder einer zugespitzten Fiktion folgt, hat ihren guten Grund. Das Punktum der Lektüre, wie Roland Barthes es nennt, wenn ein Leser persönlich von einem Bild oder einer Geschichte betroffen wird, durchschlägt die formalen literarischen Kategorien. Dazu kann man sich als Leser, zumal wenn man zur selben Generation wie der Autor gehört, nicht neutral verhalten. Man gerät bei der Lektüre in die Affektion und wird zwischen Nähe und Distanz hin und her geschleudert. … und wenn ihr das nicht tut, so werdet ihr alle erschlagen Eine der eindrücklichsten Geschichten des Buches schildert, wie der Erzähler zusammen mit seiner Frau das Elsass besucht, um den Spuren der Großmutter zu folgen. Die französische Wirtin ihrer Pension rät dem deutschen Ehepaar dazu, das nahegelegene Konzentrationslager Struthof zu besichtigen: „Ihr müsst einmal nach Natzweiler fahren, damit ihr seht, was die Deutschen getan haben.“ Kern erzählt von den bestialischen medizinischen Experimenten, die auch dort an jüdischen Häftlingen durchgeführt wurden. Im Bericht über die anschließende Heimfahrt schießen alle Motive des Buchs noch einmal in einem weiteren Märchen zusammen. »Der Mann saß am Steuer, die rechtsrheinische Autobahn hatte er hinter der Kehler Rheinbrücke erreicht. Seine Frau schlief. Es fiel ihm ein, was er über den Tod im Konzentrationslager Sachsenhausen und das Schuhläuferkommando gelesen hatte. Er dachte an das, was er gerade gesehen hatte. Das Kürzel SS kam ihm in den Sinn, und der Rhythmus von „USA, SA, SS“. Und er dachte an die Schallplatte seiner Kindheit, den Gestiefelten Kater, dessen Dialoge er immer noch auswendig wusste: „Was kann ich mit dem Kater anfangen? Ich lass mir ein Paar Pelzhandschuhe aus seinem Fell machen, dann ist's vorbei“, sagte der dritte Müllersohn. „Hör, fing der Kater an, der alles verstanden hatte, du brauchst mich nicht zu töten, um ein Paar schlechte Handschuhe aus meinem Pelz zu kriegen; lass mir nur ein Paar Stiefel machen, dass ich ausgehen und mich unter den Leuten sehen lassen kann, dann soll dir bald geholfen sein.“ War die A-Seite zu Ende, musste die 45er-Polydor-Platte vorsichtig umgedreht und der meist lose, gelochte, dreieckige, auf den Stift des Plattentellers passende Steg wieder eingesetzt werden. Grimms Märchen ging weiter: „Da kam der Kater an einen prächtigen Wald, da standen mehr als dreihundert Leute, fällten die großen Eichen und machten Holz. „Wem ist der Wald, ihr Leute?“ – Die Leute im Chor: „Dem Zauberer.“ – „Hört, jetzt wird gleich der König vorbeifahren, wenn er wissen will, wem der Wald gehört, so antwortet: dem Grafen; und wenn ihr das nicht tut, so werdet ihr alle erschlagen.« Das Märchen verbindet die Atmosphäre der Schuhmacherwerkstatt mit der des Hochwalds hin zu einer bedrohlichen familiären Urszene. Die Drohungen im Märchen sind unverhohlen: „[…] und wenn ihr das nicht tut, so werdet ihr alle erschlagen.“ So drückt sich die Geschichte des Ödipus nicht nur in Kerns Familie aus. Diese Schallplatte hatte auch der Kritiker als Kind zu Hause. Und so mehren sich die erstaunlich übereinstimmenden Details. Das KZ-Struthof hatte auch er besucht und er weiß überdies von den Verbindungen zur anatomischen Fakultät der 1941 von der SS gegründeten Universität Straßburg. Und er kennt auch die späteren Karrieren der dort praktizierenden Anatomen, Psychologen und Parapsychologen und ihre Schüler in der Bundesrepublik. Kerns Buch, das in seinem Dorf beginnt, geht in seiner Bedeutung weit über die regionale Aufklärung über die Verhältnisse in der Pfalz und das Breisgau hinaus. Es überschreitet auch die Genregrenzen von Dorfchronik, Dokument der eigenen Rebellion, von zeitgeschichtlichem Zeugnis und Roman. Kern ist meisterlich darin, die große Geschichte und ihre Verhältnisse auf die familiären und persönlichen Beziehungen herunterzubrechen. Der Roman und die Chronik greifen auf diese Weise nach dem Leser und packen ihn dort am Schlafittchen, wo er es – im Lehnsessel zurückgelehnt – am wenigsten erwartet: bei der Verstrickung der eigenen Geschichte in die Nazi-Barbarei. War nicht auch der eigene Großvater ein Schuhmachermeister und in der SA gewesen? Hatte nicht der Vater zusammen mit Niklas Luhmann begeistert in der Hitlerjugend gedient?
Das Fell über die Ohren. Die eigene Haut und die Heuchelei |
Peter Kern
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