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Von der Kapitalismus- zur Zivilisationskritik

Philipp Lenhard rekonstruiert mit »Café Marx« die Geschichte des
Instituts für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule.

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Der deutsche Ökonom und Soziologe Friedrich Pollock (1894-1970) gehörte zu den Mitbegründern des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt/Main, wo bereits in den 1920er Jahren eine auf Hegel, Marx und Freud aufruhende kritische Gesellschaftstheorie entstand.
Zur wissenschaftlichen Kernbelegschaft dieses Instituts zählten neben Pollock auch der Sinologe Karl August Wittfogel, der Sozialwissenschaftler und Mäzen Felix Weil sowie der Historiker Carl Grünberg als Gründungsdirektor. Teile des marxistisch geprägten Instituts waren in der Kommunistischen Partei aktiv.

Wenig später stießen zudem Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und der mit Pollock seit Jugendtagen eng befreundete Max Horkheimer hinzu. Ihr Ziel: Die Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart mittels philosophischer Reflexion, soziologischer Analysen, psychologischer Deutungen, ökonomiekritischer Methoden und literaturwissenschaftlicher Expertisen zu erforschen. Es galt hierbei eine gewisse thematische Offenheit zu wahren, doch zugleich eine verbindende Methode sowie ein theoretisches Fundament, das im Marxismus in der Lesart Hegels verortet war, zu erarbeiten. Theoriegeleitete Explorationen und politisches Engagement gingen Hand in Hand. Man wollte die Welt verstehen, um sie zu verändern.
Die Theorie, an der gearbeitet wurde, sollte auch politische Konsequenzen zeitigen.
Das Institut war insofern ein Ort der (marxistischen) Debatte mit dem Auftrag, die Quellen des Marxismus zu bergen und philosophisch auszuwerten sowie daraus eine Kritik der politischen Ökonomie der Gegenwart zu (re-)formulieren, und das hieß, den Marxismus in eine Kritische Theorie zu transformieren. Daran beteiligten sich namhafte Geistesgrößen wie Walter Benjamin, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Leo Löwenthal und einige wenige Frauen wie die Soziologin Hilde Weiss, Adornos Frau Gretel Karplus und in der Nachkriegszeit etwa die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Lenk.

Bereits Pollock promovierte über Marxens Geldtheorie, setzte sich mit Schopenhauer auseinander (der, wie Pollock selbst, nach einer Ausbildung zum Kaufmann zur Philosophie fand) und emigrierte schließlich während der NS-Herrschaft in die USA. Dort wären er und seine zweite Frau Carlota Weil auch gerne nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geblieben. Doch Horkheimer und Adorno hatten andere Pläne mit dem Institut. Wieder zurück in Deutschland traten »die Frankfurter« ihren akademischen Siegeszug an, der ganze Generationen von Geistes- und Sozialwissenschaftlern prägte. Die insbesondere durch Horkheimer inaugurierte Kritische Theorie nahm nachhaltig Einfluss auf den gesellschaftspolitischen Diskurs der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit, vor allem war sie Stichwortgeber der Studentenbewegung.

Philipp Lenhard beleuchtete schon 2019 über die Rolle Pollocks in Frankfurt hinaus auch die Zusammenarbeit mit dem Marx-Engels-Institut, Pollocks Verhältnis zu Hannah Arendt und Walter Benjamin sowie die Rolle Werner Sombarts und Rudolf Hilferdings als Gegenspieler Pollocks. 1952 erhielt der auch künstlerisch begabte Pollock in Frankfurt eine außerplanmäßige Professur und 1959 sodann eine ordentliche Professur für Volkswirtschaftslehre und Soziologie. In den 1950er Jahren entstand zudem sein in mehrere Sprachen übersetztes Hauptwerk »Automation«, das sich mit der Anwendung der Computer- und Rückkopplungstechnik in der Wirtschaft auseinandersetzt. Die mit der neuen Technik verbundenen Veränderungen bergen, so Pollock, Gefahren der Massenarbeitslosigkeit und der permanenten Überproduktion. Eine radikale Umwälzung in Wirtschaft und Gesellschaft, eine zweite industrielle Revolution, sei die Folge. 1970 starb Pollock im Tessin an einem Krebsleiden. Die Pollock-Biografie, so Lenhard, sei »eine Art Grabstein«, der Pollocks Leben, seine Gedanken, Ängste, Hoffnungen, Taten, Schwächen und Stärken für die Zukunft bewahren soll.

Nun nimmt sich Lenhard dem gesamten Institut für Sozialforschung in beeindruckender Weise an, rekonstruiert die Geschichte des Instituts von Frankfurt aus über die Genfer Zwischenstation nach New York und der Rückkehr nach Frankfurt, wo das Institut 1951 Richtfest feierte. Nach den schrecklichen Erfahrungen und Erschütterungen, die der Nationalsozialismus bedingt hatte, kam es zu einer völligen Reformulierung des Marxismus durch Adorno und Horkheimer: Die Kapitalismuskritik mündete in einer umfassenden Zivilisationskritik, die ihren Ausgang in der Dialektik der Aufklärung (1944) fand: Einer radikalen Vernunftkritik des aufklärerischen Denkens und des Siegeszugs der instrumentellen Vernunft, die sich in der Gegenwart manifestiert habe: »Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie«, heißt es an einer Stelle des Buches in kritischer Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen, die als notwendige dargestellt würden und die das Individuum »gegenüber den ökonomischen Mächten vollends« annulliere.
Ähnlich argumentiert sodann auch Jürgen Habermas in seiner Kritik an einem rein technischen Politikverständnis der damaligen Zeit, in der der Staat bloß noch als reines Machtinstrument statt als »Ausdruck demokratischer Selbstbestimmung und Verwirklichung moralischer Werte« fungiere.

Philipp Lenhard legt mit »Café Marx« nicht nur eine Institutionengeschichte vor. Er zeichnet ebenso die zahlreichen Lebensläufe der Protagonisten nach, beleuchtet die historischen Kontexte und erläutert immer wieder die wichtigsten Schriften der Kritischen Theorie. Hierbei nutzt er neben einschlägigen Büchern Archive in der ganzen Welt, um am Ende die Netzwerke des Denkens nach Marx zu veranschaulichen. Seine imposante Studie fördert abseits der bereits bekannten Aspekte viel Neues zutage. Sie schließt mit den mahnenden Worten: »… wer nach dem Holocaust und den Moskauer Prozessen ein bloßes Zurück zu Marx fordert, ohne die Verbrechen des Stalin- und Hitler-Regimes zum Angelpunkt seiner Kritik zu machen, der betreibt keine Kritische Theorie, sondern eine verbalradikal aufgeputzte Form der Verdrängung. Dagegen wird die historische Erfahrung Adornos, Horkheimers und der vielen anderen Akteure in der langen Geschichte des Café Marx bis auf Weiteres Einspruch erheben.«

Artikel online seit 22.11.24
 

Philipp Lenhard
Café Marx
Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule
C.H. Beck Verlag
34,00 €
624 S., mit 6 Abbildungen
978-3-406-81356-6

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