Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik Impressum & Datenschutz |
|||
Home Belletristik Literatur & Betrieb Krimi Biografien, Briefe & Tagebücher Politik Geschichte Philosophie |
|||
|
|||
Gestörtes Ost-West-Verhältnis
Von Gregor Keuschnig |
|||
Es ist ein gängiges Muster: Kurz vor wichtigen Wahlen wird "der Osten" politisch wieder entdeckt. Diesmal sind es drei Landtagswahlen – Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Entwicklungen, die sich über Jahre angekündigt haben, werden plötzlich von allen Seiten im Katastrophenmodus kommentiert. Hinzu kommt, dass mit der sektenartigen Neupartei um Sahra Wagenknecht ein zusätzlicher, nicht kalkulierter Faktor aufgetaucht ist. Dachte man anfangs noch, dass hierdurch die AfD geschwächt würde, so muss man jetzt zur Kenntnis nehmen, dass sich vor allem Nichtwähler und Linke-Anhänger angesprochen fühlen. In Thüringen sagen aktuelle Umfragen voraus, dass AfD und BSW die Mehrheit der Sitze im Landtag erringen könnten. Letzteres war bei Erscheinen von Steffen Maus Ungleich vereint in dieser Form noch nicht absehbar. Im Gegensatz zu vielen zum Teil hyperventilierenden Wortmeldungen und Wählerbeschimpfungen ist es allerdings zunächst eine Wohltat, dieses Buch zu lesen, auch wenn man in einigen Punkten nicht übereinstimmt. Mau möchte "küchenpsychologische Erklärungen vermeiden" und stellt klar: "Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg." Seine These geht dahin, dass es in Ostdeutschland unabhängig lokaler Prägungen "eine Verfestigung grundlegender kultureller und sozialer Formen" (Hervorhebung Steffen Mau) gibt. Er spricht sogar von einer "Einheitlichkeitsfiktion". Mau setzt bewusst eine "Ost-West-Brille" auf, um "klarer zu sehen, wie Geschichte in Strukturen und Identitäten nachwirkt." Mau weist auf die Kränkungen zu Beginn der 1990er Jahre hin, als "die Bundesrepublik und ihr Spitzenpersonal die Rolle der Konkursverwalter" übernommen hatten und die Ostdeutschen zu "bedürftigen Empfänger[n] von Hilfe und Zuwendung" mit "nur noch begrenzte[r] Entscheidungsmacht" wurden. Ausgiebig werden diese Brüche und Verwerfungen herangezogen, die, so die These, in (Teilen) der Bevölkerung heute noch nachleben. Dabei wird klargestellt, dass dies "weder allein der DDR noch dem Einigungs- und Transformationsprozess zuzuschreiben" ist, sondern sich "aus beiden Phasen und der Verknüpfung ihrer Folgen" ergibt. Es werden Zahlen präsentiert, die Rückstände und Differenzen zu Westdeutschland aufzeigen, wie etwa Geburtenrate, Unternehmensstrukturen (es gibt kaum Großunternehmen im Osten), Tarifbindung, Organisationsgrad in politischen Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen oder auch Anteil migrantischer Bevölkerung. Ob die Tatsache, dass sich unternehmerische Selbstständigkeit in Ostdeutschland "auf den gewerblichen Bereich recht kleiner Betriebseinheiten" konzentriert, eine Schwäche darstellt, müsste man allerdings erst einmal belegen und sich gleichzeitig fragen, warum die "Alleinunternehmer" dort als "oft prekär" quantifiziert werden. Interessant die Aussage, dass es in Ostdeutschland kein "erinnerungspolitisches Äquivalent zu 1968" gegeben habe, um "den Muff und den apolitischen Privatismus der Vorgängergeneration" auszutreiben. Fast scheint mir das Gegenteil der Fall zu sein – denn die "Revolution" von 1989 war eine sehr viel grundlegendere Veränderung als das sich rasch institutionalisierende Revoluzzertum einer zu Beginn häufig in kommunistisch-sozialistischen idealen gefangenen Protestschickeria. Merkwürdig die Aussage, Bärbel Bohley sei kein ostdeutsches Pendant zu Rudi Dutschke gewesen. Warum sollte sie auch, fragt man sich, denn am Sozialismus hatte Bohley nun wirklich kein Interesse. Mau widerlegt seine These allerdings fast schon selber, in dem er darauf hinweist, dass es eine "Überschichtung der ostdeutschen Gesellschaft durch westdeutsches Führungspersonal" gab (die Kolonialisierungs-These lehnt er allerdings strikt ab). So "wurden die alten Eliten abgeräumt, und zwar nicht nur die Angehörigen der Eltern- und Großelterngenerationen, die zur Nomenklatura gezählt hatten, sondern auch zahlreiche Mitglieder der nachgeordneten Funktionsgruppen". Im Gegensatz zu Westdeutschland in den 60ern fanden sich demnach also kaum noch "belastete" Figuren, sieht man einmal von IMs ab. Hier moniert Mau das "Selbstverständnis der Westdeutschen als erinnerungspolitische ›Weltmeister‹, in dem jeder Stasi-Verdacht "einem Schuldspruch gleich" kam. (Womöglich ist in der Rede um das Moralweltmeistertum ein griffigerer Schlüssel für das West-Ost-Verhältnis zu finden, als man gemeinhin denkt.) Maus Kernargument von einer ostdeutschen Identität, die in ihren Eigenheiten zu akzeptieren sei, wird schlüssig ausgeführt, aber allzu lange verharrt er in den Problemstellungen der Vereinigungszeit, etwa wenn er beklagt. "Wir sind immer noch auf der Suche nach angemessenen Verstehensweisen, die die DDR nicht verharmlosen, die aber auch in den Alltagsdeutungen bestehen können." Zum einen stellt sich die Frage, wer dieses "wir" ist und zum anderen gibt er an anderer Stelle zu, dass sich die Identität(en) "von den alten Anhaftungen gelöst und…mit neuen Inhalten gefüllt" hätten. Dass es heute noch Ostdeutsche mit "Anerkennungsdefiziten" gibt, dürfte sicher sein, aber die Frage wäre, wie es nach mehr als drei Jahrzehnten dazu kommt, dass diese Defizite noch brisant sind. Hat sich doch inzwischen die Welt weitergedreht. So gab es beispielsweise 2014f. eine weitgehend unkontrollierte Masseneinwanderung. Gravierender noch dürften die Verwerfungen während der Covid-Pandemie und den bisweilen übergriffigen und weniger virologisch notwendigen denn politisch motivierten Maßnahmen sein. Wer auch nur leise Kritik äußerte, wurde sofort diffamiert. Ein ehemaliger hoher Repräsentant des Staates reanimierte sogar den ursprünglich ironisch gemeinten Begriff "Dunkeldeutschland" für den Osten. Eventuelle Auswirkungen der Vorgehensweisen in der Pandemie und der damit einhergehende Vertrauensverlust in Politik und Medien werden nur in einem Halbsatz erwähnt. Wie auch immer, der im Buch einmal genannte "Osttrotz" zeigt sich in einer politischen Radikalisierung Ostdeutschlands – diesmal allerdings auf der rechten Seite. Die Linke mit ihren diversen Nachfolgeparteien findet kaum noch statt. Mau widmet sich diesem Thema sehr ausführlich, sieht in der AfD (unterschiedslos, d h. ohne die Landesverbände zu analysieren) eine große Gefahr für die Demokratie. In der Not schlägt er sogar vor, die CDU als fast einzig verbliebene rechtsstaatliche, im Parlament nennenswert vertretene Kraft möge ihren Unvereinbarkeitsbeschluss in Bezug auf eine Landeskoalition mit der Linken überdenken. Gleichzeitig wird auf die "Brandmauer" rekurriert, also die Unvereinbarkeit von Koalitionen zwischen CDU und AfD (wobei ein Planspiel kurz entwickelt wird, wonach die AfD Juniorpartner einer CDU-geführten Regierung wäre). Erstaunlich die Chuzpe, einer unabhängigen Partei Ratschläge hinsichtlich ihrer Koalitionspräferenzen erteilen zu wollen. Das kleinste Bröckeln der "Brandmauer" im kommunalen Bereich wird denn auch pflichtschuldigst beklagt. Parallelen kommen einem in den Sinn, als in den 1990er-Jahren SPD und Grüne sich in Ländern von der PDS respektive der Linken dulden ließen bzw. später in Koalitionen eintrat. Die damalige "Rote-Socken-Kampagne" der Union wurde (zu Recht) als lächerlich verworfen. Ähnliches auf dem Gebiet AfD (und auch BSW) scheint heute für die Union zur Staatsräson zu gehören. Auch die Tatsache, dass viele Funktionsträger auf kommunaler Ebene parteilos sind, gefällt Mau nicht, da gerade diese Positionen Einfallstore für rechte Populisten sein könnten. Nicht nur hier scheint er dem Wähler wenig zu vertrauen. Wie der chronischen Unterversorgung der demokratischen Parteien beizukommen ist, weiss er aber auch nicht. Die Ablehnung des Autors gegen eine irgendwie geartete Machtbeteiligung der AfD auf Länderebene ist eindeutig. Groß ebenso die Sorge nach der "Veralltäglichung" der AfD, beispielsweise durch Mitarbeiter in der Freiwilligen Feuerwehr oder Schützen- oder Kulturvereinen. Wobei sich die Frage stellt, ob man demnächst Ausschlusskriterien festlegen soll zum Beispiel im Schützen- oder Kleingartenverein. Ob diese Form der "Blasenbildung", eine politische Ghettoisierung, vorteilhaft für das Zusammenleben ist, kann man mindestens anzweifeln. Im Gegensatz zu vielen anderen Beobachtern, die mit (unproduktiven) Wählerbeschimpfungen und -pathologisierungen ihrer Wut freien Lauf lassen und damit das Gegenteil dessen bewirken, was beabsichtigt ist, muss man Steffen Mau zu Gute halten, das er wenigstens Versuche unternimmt, die Problemlage zu lösen. Einiges wirkt allerdings eher aus dem Besteckkasten der sozialistischen Jugend, wie etwa eine Erhöhung der Erbschaftsteuer, die Besteuerung von Vermögen, die Einführung einer "Art Lastenabgabe" oder eines "›Soli 2.0‹", um, wie es etwas despektierlich heißt, "den Vermögensaufbau der ostdeutschen Habenichtse" zu unterstützen. Von einem existierenden Länderfinanzausgleich übrigens keine Rede. Interessant allerdings der Vorschlag, den Osten (oder Teile davon) zu einem "Labor der Partizipation" (Hervorhebung S. M.) zu gestalten und plebiszitäre Elemente für politische Entscheidungen vorzuschlagen. Auch hier ist seine Argumentation nicht immer stringent. Einerseits heißt er Demonstrationen und Proteste auf der Straße gut (wenn sie bspw. gegen "Rechts" sind), andererseits warnt er vor ihnen. Immerhin rückt er damit von der Aussage einer "Veränderungsmüdigkeit" der Ostdeutschen ab, die, so wird zwischenzeitlich nahegelegt, immer noch am Transformationsprozess der Einheit zu leiden hätten. Maus Idee: Man etabliere Bürgerräte, "über Losverfahren oder eine Beteiligungslotterie zufällig zusammengesetzte und heterogene Gruppe[n] von Bürgerinnen und Bürgern", die sich "über politische Fragen intensiv austauschen und zu einer gemeinsamen Position finden". Verwiesen wird auf das "Eingaben- und Beschwerdebriefwesen" in der DDR, das häufig genutzt wurde und teilweise erfolgreich war. Als Vorbild (aber keinesfalls als Folie) dient unter anderem der 2021 implementierte Bürgerrat zu "Deutschlands Rolle in der Welt". Liest man die Resultate nach, so sind die Resultate gespickt von allgemein gehaltenen Phrasen und Absichtserklärungen, wie sie sich in politischen Parteiprogrammen zuhauf finden lassen. Natürlich ist jeder für Frieden, fairen Freihandel, globale Menschenrechte oder eine funktionsfähige UN. Dem Wunschkonzert waren keine Grenzen gesetzt, was sich beispielsweise in der Asylpolitik zeigte. Markant war, dass Deutschland vielfach "Vorreiter" sein sollte, also eine belehrende Rolle in der Welt einzunehmen habe. Vielleicht war aber nur die Außenpolitik als Spielfeld für einen Bürgerrat falsch. Mau plädiert denn auch für lokale Zusammenkünfte, die beispielsweise über die Verwendung der Milliarden Euro, die "für den Kohleausstieg nach Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg fließen sollen", beschließen oder mindestens mitbeschließen könnten. Oder über die Ansiedlung einer Großfabrik. Bleibt nicht nur die Frage, wer die Vorauswahl der Teilnehmer bestimmt (wenn sie ausgelost werden, muss jemand einen Lostopf auffüllen), sondern am Ende auch nach der Verbindlichkeit der gefällten Beschlüsse (sofern sich diese nicht in Allgemeinplätzen erschöpfen sollen). Vor "Beteiligungsillusionen" wird prophylaktisch schon mal ausdrücklich gewarnt und auch Vorbehalte formuliert, weil damit womöglich das repräsentative Modell ausgehöhlt werden könnte. "Was wir brauchen, sind Ertüchtigungsmaßnahmen der Demokratie – zur Abwehr von Allmählichkeitsschäden", also Entwicklungen, "die über einen längeren Zeitraum unbemerkt entstehen und die sich schleichend zu einem großen Problem auswachsen", so Steffen Mau. Man kann diesem Wunsch gut zustimmen. Aber wie wäre es zunächst einmal das politische Porzellan, das in den letzten Jahren zerschlagen wurde, aufzusammeln und eine Art Kintsugi zu versuchen, jenseits von Beschimpfungen, Unterstellungen und Rechthabereien? Sicherlich, "der Populismus" ist eine Gefahr (übrigens nicht nur von rechts), aber er ist eben "eine Krankheit, die von einem neuen (liberalen) Verständnis der Demokratie hervorgebracht wird", wie dies Philip Manow unlängst auf den Punkt brachte. Man kann das beklagen oder denunzieren – oder man könnte Politikentwürfe entwerfen und erklären, Fehler der Vergangenheit aufarbeiten und, wenn möglich, korrigieren.
Sicherlich kann und muss man vor einer Gefahr einer Regierungsübernahme durch
AfD und/oder BSW warnen. Folgt man den Medien, geht es nur noch darum, wer nach
der Wahl mit wem koalieren kann und wer nicht;
einige publizistische Texte verfallen in Hysterie. Sachthemen verschwinden
vollkommen aus dem Blick. Wie wäre es, sich einmal dezidiert mit dem Herumirren
der gegenwärtigen "Ampel"-Regierung zu beschäftigen, beispielsweise in der
Energiepolitik, aber auch in der Diskussion um Ukraine-Hilfen. Nicht jedem
leuchtet sofort ein, dass die geopolitische Notwendigkeit, die Ukraine im Kampf
gegen den russischen Aggressor zu unterstützen, Priorität hat.
Hubertus Knabe hat dazu unlängst eine Erklärungsmöglichkeit angeboten, die sich
jenseits der Unterstellungsparanoia der gängigen Experten bewegt, die
skeptischen Wählern sofort Russophilie unterstellen. Und was ist mit den
steigenden Strom- und Energiepreisen, dem dysfunktionalen öffentlichen
Nahverkehr, der erodierenden Sicherheit im öffentlichen Raum, den maroden
Schulen und Behörden, einem nicht funktionierenden städtischen Wohnungsmarkt und
der zunehmend zu beobachtenden unausgewogenen Berichterstattung in
öffentlich-rechtlichen Medien? Sicher, all dies sind keine ostdeutschen
Spezifika. Aber sie beeinflussen am Ende einer (auf vielen Ebenen gescheiterten)
Bundes-Legislatur auch Landtagswahlen. Von all dem liest man in diesem
eigentlich sehr klugen Buch leider nichts. Schade. |
Steffen Mau
|
||
|
|||