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Anatomie eines Scheiterns

Christian Schweppes ernüchternde Langzeitreportage »Zeiten ohne Wende«

Von Gregor Keuschnig
 

Fast zweieinhalb Jahre beobachtete der Journalist Christian Schweppe das, was man "Zeitenwende" nannte: Die Reaktionen der deutschen Regierung auf den Überfall Russlands auf die Ukraine. Schweppe weiß, dass es vom Kanzlerstuhl der Regierungsbank zum Rednerpult sieben Schritte sind. Am 27. Februar 2022 rief Bundeskanzler Olaf Scholz eine "Zeitenwende" aus. Später erfährt man von Schweppe, dass Scholz sich mit dem Begriff der Zeitenwende selbst plagiiert hatte; er verwendete ihn bereits 2017 in einem Buch, freilich ohne Verbindung mit militärischen Fragen. An jenem Februar 2022 kündigte er eine Instandsetzung der längst marode gewordenen Bundeswehr mittels einer als Sondervermögen deklarierten Verschuldung von 100 Milliarden Euro an und versprach, zukünftig 2% des BIP für die Bundeswehr auszugeben. Die Ukraine sollte mit Waffen unterstützt werden, um sich gegen den russischen Aggressor zu wehren. Mit dieser Rede und den ersten Schritte danach brach man mit mehreren Tabus der Bundesrepublik, die spätestens seit der Vereinigung 1990 in einen geopolitischen Dämmerschlaf verfallen war. Viele Medien waren beeindruckt, einige andere zeigten sich pflichtschuldig schockiert, sahen den aggressiven Deutschen wieder aufleben.

Zeiten ohne Wende heißt das Buch von Schweppe über diese Zeit, das Anfang Oktober erschienen ist. Ein Wortspiel. Der Untertitel nimmt das im Frühjahr bei Drucklegung sich abzeichnende Resultat bereits vorweg: "Anatomie eines Scheiterns". Man liest die 350 Seiten trotzdem, in einem Rutsch, in einer Mischung aus Faszination und Widerwillen.

Schweppe schreibt eine Langzeitreportage, Stil und Ambition erinnern an Stephan Lamby. Immer wieder werden einige ausgesuchte Protagonisten besucht. Besonders häufig spricht er mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann ("Flak-Zimmermann"), jener FDP-Frau, die in hibbeliger Ungeduld und mit energischem medialen Auftreten den bei Waffenlieferungen für die Ukraine chronisch stockenden und zögernden Scholz mehrmals herausforderte. Er begleitet Daniel Andrä, zu Beginn 43, Oberstleutnant, zunächst Kommandant eines internationalen Gefechtsverbands in Litauen. Man lernt Matthias Lehna kennen, Mitte 30, einen ehemaligen Gebirgsjäger, der in Mali war. Beide werden am Ende über die Bundeswehr und den Umgang in ihr und mit ihr desillusioniert sein.

Schweppe zeichnet Portraits von Alfred Mais, Deutschlands oberstem Heeresgeneral und Ingo Gerhartz, dem "Chef" der Luftwaffe – beide könnten nicht unterschiedlicher sein. Aber auch Armin Papperger, der Vorstandsvorsitzende von Rheinmetall, wird beäugt. Er schaut dem Haushälter Tobias Waldhüter über die Schulter (dabei bekommt man interessante Einblicke in die sogenannte "Nacht der langen Messer", in der "der finale Haushalt für das neue Jahr ausgedealt" wird), begleitet den Nachrücker Nils Gründer, der "in der FDP-Arbeitsgruppe Verteidigung" arbeitet, zitiert den ehemaligen Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels und erlebt die amtierende Wehrbeauftragte Eva Högl, die zwar alles zu wissen scheint, was die Mangellage der Bundeswehr angeht, aber irgendwie wirkungslos bleibt.

Manche Treffen wirken wie pflichtschuldige Protokolle, weil sie keinerlei Erkenntnisgewinn liefern. Etwa bei Agnieszka Brugger, die überzeugt ist, dass die Bundeswehr im "Ernstfall" besser funktionieren würde, als manche Schlagzeile vermuten lasse. Dass es nicht "Ernstfall" heißt, wissen beide anscheinend nicht, was ein bisschen peinlich ist, wenn man sich gleichzeitig darüber amüsiert, dass Verteidigungsministerin wie Bundeskanzler von "Luftabwehr" (statt Flugabwehr oder Luftverteidigung) sprechen. Er scheint auch Brugger zuzustimmen, die meint, dass die "Zeitenwende" zu sehr von Männern dominiert würde. Eine merkwürdige Feststellung, schließlich ist zu diesem Zeitpunkt Christine Lambrecht Verteidigungsministerin, Eva Högl Wehrbeauftragte, Annalena Baerbock ist omnipräsent und sieht sich auch schon einmal mit Russland im Krieg und Strack-Zimmermann beherrscht die innenpolitischen Schlagzeilen.

Zunächst jedoch dringt Schweppe tief in die Beschaffungs- und Ausrüstungssituation der Bundeswehr ein. Da ist vor allem die Dysfunktionalität des "Bundesamts für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr" aus Koblenz, dieser Monsterbehörde, die Ausschreibungen formuliert, die für Hersteller bisweilen technisch unerfüllbar sind, wie er an einer Beschaffung von Schlauchbooten zeigt. Schweppe berichtet von den "deutschen Sonderwegen" bei Rüstungskäufen ("Goldrand" genannt) und der Verstrickung "in einer Vielzahl sperriger bis absurder Normen." Dabei geht es um essentielle Dinge, wie fehlende Munition (die Verpflichtung einer Mindestreserve wird schon länger nicht mehr eingehalten). Man hat weder abhörsichere Funkgeräte noch Drohnen. Flugzeuge sind nicht einsatzbereit, die Bundeswehr ist nachtblind und winteruntauglich; sogar Unterwäsche fehlt. Deutschland ist wehrlos.

Das alles soll sich nun ändern. Hat man sich jedoch erst einmal in die Lage der Bundeswehr eingelesen, dann schwindet rasch die Hoffnung auf nachhaltige Besserung. Besonders mit der Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, deren Wirken (es ist eher ein Nicht-Wirken) Schweppe nun in allen Details ausbreitet, eine Chronologie des Versagens. Lambrecht ist eine Partei-Linke in der SPD, hatte mit Bundeswehr keinerlei Berührungspunkte. Sie wollte Innenministerin werden. Im Koalitionsvertrag gibt es anderthalb Seiten zur Bundeswehr mit ambitionslosen Gemeinplätzen. Zunächst gibt es allerdings einen kleinen Fortschritt: Lambrecht verfügt, "dass alles unterhalb von 5000 Euro künftig ohne Ausschreibung beschafft werden darf." Immerhin. Aber rasch mehren sich Stimmen der Inkompetenz der Ministerin. Sie benötigt Übersetzungen vom Englische ins Deutsche, kennt die Dienstgrade nicht, liest sich nur lückenhaft in die Akten ein und will sich mit der Lieferung der 5000 Helme an die Ukraine zu Beginn des Krieges profilieren. Der Arbeitsstil der Ministerin wird kritisiert; sie blockiert Entscheidungen. Abgeschlossen wurden bis Ende 2022 zehn Verträge für große Rüstungsvorhaben. Und: "Mit dem 1. Januar 2023 wird bekannt, was bislang als Summe schon konkret abgeflossen ist aus dem Sondervermögen des Kanzlers – genau null Euro."

Empfehlenswert wäre es gewesen, wenn Schweppe die beiden unterschiedlichen Komponenten, aus denen diese "Zeitenwende" zusammengesetzt ist, besser voneinander getrennt hätte. Zum einen hatte Scholz damit eine "Wende" hin zu einer besseren, wie der spätere Verteidigungsminister Pistorius es nannte, "kriegstüchtigen" Ausrüstung der Bundeswehr nach Jahrzehnten der Vernachlässigung angekündigt, inklusive dauerhaft besserer Finanzierung (2%-Ziel). Zum anderen handelte es sich um die Zusage, der angegriffenen Ukraine sowohl mit Material wie auch finanziell zu helfen, um sich gegen die Angriffe Russlands militärisch zu verteidigen.

Besonders der letzte Punkt, Art und Umfang der Waffenlieferungen, standen besonders stark im Fokus der Öffentlichkeit. Und hier stockte es bereits sehr früh. Zum einen, und das behandelt Schweppe sehr gut, weil die Kommandeure die ohnehin sehr mäßige Ausrüstung der Bundeswehr nicht noch zusätzlich dezimiert sehen wollten und nicht zu Unrecht lange Lieferzeitungen für Ersatzlieferungen kalkulierten. Und zum anderen weil Scholz in nahezu starrem Blick auf das Handeln der Biden-Regierung fixiert war.

Schweppe neigt dazu, für den desaströsen Zustand der Bundeswehr die Verteidigungsminister der Vergangenheit nebst der damals amtierenden Ministerin Lambrecht alleine verantwortlich zu machen. Er vergisst, dass Minister nichts ohne das Einverständnis des Kanzlers, von 2005 bis 2021 der Kanzlerin, tun. Zu lange träumte die Bundesrepublik "ihren geruhsamen Friedenstraum". Selbst im Auslandseinsatz in Afghanistan wurde sie von den Medien als Helfer für den Bau von Brunnen vor Ort dargestellt.    

Schweppe berichtet auch von den Lobbytätigkeiten der Rüstungsindustrie wie Lockheed, Airbus und, allen voran, Rheinmetall. Jeder will ein Stück vom großen Kuchen. Er führt Telefonate mit NGOs, die in hyperventilierendem Stil sofort von einer Remilitarisierung Deutschlands und "Hochrüstung" schwadronieren. Ausführlich wird über ein Abendessen im Reichstag, organisiert von Lockheed, erzählt. Glaubt er, dass man deutsche Abgeordnete tatsächlich mit einem Dinner bestechen kann? Immerhin entdeckt er inmitten dieses Herumstocherns einen veritablen Skandal, der merkwürdigerweise bisher nicht groß thematisiert wurde. Es geht um Dirk Niebel, ehemaliger Bundesminister von 2009 bis 2013, danach bei Rheinmetall, heute im Lobbyregister als Vertreter einer Beratungsgesellschaft eingetragen, die sich u. a. mit "Verteidigung" beschäftigt. Einer der Söhne von Niebel arbeitet ausgerechnet im Abgeordnetenbüro von Florian Toncar (FDP). Der ist Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und über seinen Schreibtisch gehen "alle neuen Rüstungsgeschäfte der Bundesregierung, die einen Wert von 25 Millionen Euro überschreiten." Ein Schelm, wer Böses dabei denkt?

Zäh laufen die ersten Beschaffungen an. Und es gibt Rückschläge. Der größte ist eine Schildbürgergeschichte. Man hatte "für 1,3 Milliarden Euro neue Funkgeräte bestellt – nur passen sie leider nicht in die 34.000 Fahrzeuge, die man damit umrüsten wollte". Passiert bei Lambrecht, ausbaden musste es der neue Minister Pistorius. Abermals versagt die Koordination der Beschaffungsstellen. Abgeordneten brennt die Sicherung durch. Die sicherheitspolitische Sprecherin der Grünen, Sinna Nanni, fordert das, was Politiker immer dann wollen, wenn sie überfordert sind: einen Sonderbericht. Und sie tobt: "Wenn die noch mal Geld von mir haben wollen, sollten die das besser tun." Als wäre es ihr Geld, dass da gegeben wurde.

Nachdem ihm die Bundeswehr keine Perspektive nebst Beförderung geboten hat, orientierte sich Daniel Andrä anderweitig und wechselte auf Zeit in das Büro von Friedrich Merz. Auch Mathias Lehna hat am Ende die Bundeswehr verlassen und arbeitet in der Ukraine für eine deutsche Firma, die Drohnen herstellt. Lehna mache jetzt seine eigene Zeitenwende, schreibt Schweppe. Die Botschaft ist deutlich: Die besten Leute verlassen den bewegungslosen Tanker –  neuer Verteidigungsminister Pistorius hin oder her. Indirekt passt dazu auch die Meldung von Ende 2002, dass Strack-Zimmermann 2024 nach Brüssel wechseln will. Nachdem Schweppe und sie vorher einen durchaus vertrauen Umgang pflegten, erstaunt die lapidare Begründung doch ein wenig: "'Das Leben ist ein Dauerlauf!', sagt die Abgeordnete zu solchen Fragen." Ein schwaches Statement verglichen mit dem, was sie ansonsten so hinausposaunt. Sie klagt über den Stress, aber ihr Büro hat genug Zeit, Klagen an Leute zu formulieren, die sie beschimpft haben. Auch das bezahlt der Steuerzahler.

Nachträglich bemerkt man noch einmal den Ruck, der die Beteiligten in der Zeitenwende-Komponente Bundeswehr kurzzeitig erfasste, als Boris Pistorius Verteidigungsminister wurde. Euphorisiert wie er war, sagte er eine neue Brigade von rund 5000 Mann in Litauen zu, die bis 2027 stationiert sein soll. Nur wie das funktionieren soll – das weiß niemand. Später schildert Schweppe, wie Pistorius mit Kürzungen von Haushaltszusagen für das Verteidigungsressort zurechtgestutzt und gedemütigt wurde und mit welchen Tricks man das 2%-Ziel herbeimogelt.

Immer wieder zögert Scholz bei der Bewaffnung der Ukraine. Schließlich geht um Taurus, eine, wie es scheint, unverzichtbare Waffe der Bundeswehr, mit der zielgesteuert beispielsweise die Kertsch-Brücke auf der Krim, eine wichtige Nachschublinie des russischen Militärs, zerstört werden könnte. Irgendwann steht Scholz' Entscheidung. Unter wechselnden Begründungen wird Taurus nicht geliefert. Gezeigt werden die parlamentarischen Tricks der Opposition, mit der man Grüne und FDP zwingen wollte, gegen die Betonfraktion der SPD zu stimmen. Das Ergebnis: Man ergab sich in Koalitionsdisziplin. Bei einem zweiten Versuch blieb als einzige Strack-Zimmermann bei ihrer Linie und stimmte gegen ihre Regierung. So ernst kann es dann doch nicht sein, denkt sich der Bürger.

Man kann vieles an diesem Buch kritisieren. Etwa diese Teletubby-Sprache, in der es "Oberbefehlshabende", "Steuerzahlende", "Bewerbende" und "Hinweisgebende" gibt. Gravierender einige Ungenauigkeiten, etwa wenn die Zahl der Soldaten der Bundeswehr von 1990 mit 2023 verglichen wird ohne zu erwähnen, dass 1990 noch die Wehrpflicht galt. Die Feststellung, dass man gemäß Artikel 5 der NATO-Charta verpflichtet sei, "Angreifer zurückzudrängen", ist in dieser Absolutheit unpräzise. Absurd ist der Schluss, Deutschland müsse "unabhängiger von Frankreich und den USA werden", wenn es um Waffensysteme geht. Dabei erklärt Schweppe schön, dass die USA die nukleare Teilhabe Deutschlands an amerikanische Ausrüstung koppelt. Wollte man diese Abhängigkeit abschütteln, bliebe nur Frankreich, ein Land, dass sich in der Vergangenheit immer wieder Auszeiten von der NATO gegönnt hatte (von einer eventuellen Präsidentin Le Pen gar nicht zu reden). Bündnisse schaffen stets Abhängigkeiten, die Kehrseite des Zusammengehens.

All diese Einwände sind Kleinigkeiten im Vergleich zum größten Fehler dieses Buches: Erst am Ende, als über die Entwicklungen des Frühjahrs 2024 berichtet wird und sich längst abzeichnet, dass die Zeitenwende eine Farce war, kommt Schweppe auf die Moskau-Connection der SPD zu sprechen. Erst jetzt fallen die Namen Jens Plötner, Wolfgang Schmidt und Ralf Stegner. Erst jetzt werden die Verstrickungen von Manuela Schwesig und ihrer NordStream-Pseudostiftung angedeutet, die bis heute in den Leitmedien aus welchen Gründen auch immer nie in den Fokus gerückt wurden. Stattdessen arbeitete man sich an der Jammergestalt Gerhard Schröder ab.

Besonders hervorzuheben die unzählbaren Eskapaden des Bordesholmer Schmierenkomödianten Ralf Stegner, der als von Beginn an als nützlicher Idiot der Russland-Freunde in diesen Talkshow-Verblödungsmanegen immer wieder Salzwasser in den ohnehin sich stetig verdünnenden Zeitenwende-Wein träufelte. Diejenigen SPD-Abgeordneten in der Fraktion, die Scholz intensiv zu stetigen Waffenlieferungen für die Ukraine und verbesserter Ausrüstung der Bundeswehr aufforderten, wurden derweil von der grauen Eminenz, dem Fraktionsvorsitzenden Mützenich, sukzessive an den Rand gedrängt. Mützenich ist es auch, der den Verteidigungsminister gelegentlich maßregelt.

Zurück zum Buch. Schweppe hat im Frühjahr 2024 nun endlich einen Termin mit Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt. Es ist der Höhepunkt dieser Reportage, weil es gelingt, die kumpelhafte Fassade Schmidts und den Bluff dieses Luftschlosses "Zeitenwende" zugleich bloßzulegen. Es wird deutlich, dass die "gesamte Zeitenwendepolitik der Frühphase unter die zentrale Annahme gestellt [wurde], dass der Krieg nicht lange dauern würde und es danach keinen Bedarf mehr für Aufrüstung [sic!] gäbe". Schmidt macht klar, dass "Zeitenwende" kein politisches Programm war, sondern lediglich eine Zustandsaufnahme im Februar 2022. Schweppe schließt daraus richtigerweise: "Wenn es offiziell kein Programm gewesen ist – dann kann später auch niemand kritisieren, dass so wenig umgesetzt wurde." Nein, ein Russlandfreund sei er nicht, betont Schmidt – wobei es  eigentlich einer Distanzierung nicht bedürfe, wenn es so wäre. Und man erfährt, dass "die Nicht-Lieferung etwa von Taurus an deutschem Geheimwissen liege." Ein gerne verwendeter Passus, wenn es keine stichhaltigen Argumente gibt.

In der Realität des Herbstes 2024 angekommen zeigt sich, dass die Zeitenwende-Nummer mit den Versprechungen an die Bundeswehr-Soldaten und den Solidaritätsbekundungen gegenüber der Ukraine nicht mehr als ein privater Affekt des Bundeskanzlers war, ein temporärer Furor, undurchdacht und am Ende deshalb halbherzig. Das erklärt nachträglich, warum kaum jemand im politischen Berlin davon eingeweiht war. Eine vorherige Aussprache etwa in der SPD-Fraktion hätte niemals zu einer Mehrheit geführt. Scholz bemerkte wohl recht schnell, dass er die Lage falsch eingeschätzt hatte und bekam Angst vor seiner eigenen Courage. Scholz trat immer häufiger auf die Bremse, verkaufte seine Entschlusslosigkeit als "Besonnenheit". Man warf einem Schiffbrüchigen auf dem offenen Meer, der drohte zu ertrinken, laufend neue Rettungsringe zu, verweigerte jedoch seine Bergung aus Angst, sich nass zu machen.

Der überraschende Erfolg der vulgärpazifistischen Bewegung von Sahra Wagenknecht hat in den letzten Monaten zu der finalen Wende der Zeitenwende geführt. Die Zusage an die Ukraine, irgendwann NATO-Mitglied zu werden, wird stillschweigend einkassiert zu Gunsten einer Überlegung eines neutralen Status. Die großen Worte werden eingeholt. Die SPD legte sich einen neuen Generalsekretär zu, der u. a. Schröder rehabilitieren möchte. Und während ich das schreibe, ist die Ampel-Koalition zerbrochen, weil Scholz seinen Finanzminister vor die Tür gesetzt hat. Ausgerechnet die Ukraine-Finanzierung wird von Scholz als Grund angeführt. Das ist an Verlogenheit kaum zu überbieten.

Auf den ersten Blick scheinen die Ereignisse, über die in Zeiten ohne Wende berichtet werden, überholt zu sein. Aber das wäre zu kurz gegriffen. Christian Schweppe liefert einen konzisen und zugleich ernüchternden Einblick in den politischen Betrieb, der mit der Lösung fachlicher Probleme zu oft überfordert zu sein scheint und stattdessen lieber Umfragestimmungen folgt. Hinzu kommt die überbordende Bürokratie, die rasches Handeln nicht mehr ermöglicht. Das lässt à la longue nichts Gutes hoffen.

Artikel online seit 10.11.24
 

Christian Schweppe
Zeiten ohne Wende
Anatomie eines Scheiterns
C.H. Beck
351 Seiten
26,00 €
978-3-406-82177-6
Leseprobe & Infos
 

 

 


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