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Das zweite Tübinger Trio

Gerd Ueding erinnert an Ernst Bloch, Walter Jens & Hans Mayer

Von Wolfram Schütte
 

Der gegenwärtig von stolzen Ignoranten allenfalls nur noch mitleidig belächelte Typus des »Bildungsbürgers« wusste noch, dass Tübingen sich »die Stadt Hegels, Hölderlins und Schellings« deshalb nannte, weil alle drei Geistesgrößen des deutschen Idealismus Ende des 18.Jahrhunderts gleichzeitig an der Universität studiert hatten & miteinander befreundet waren.

Noch weniger bekannt dürfte heute ein zweites Tübinger Trio (aus den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts) sein, als gleichzeitig in der schwäbischen Universitätsstadt der  wortgewaltige Philosoph Ernst Bloch & der Inhaber des einzigen Rhetorik-Lehrstuhls in Deutschland, Walter Jens, sowie & der emeritierte Germanist Hans Mayer - seinerzeit der  eloquenteste & bekannteste seines Faches - lebten. Alle drei zählten damals zu den prominentesten Intellektuellen der Bundesrepublik.

Der 1942 geborene Germanist Gerd Ueding, 1988 Nachfolger von Walter Jens & im Laufe seiner akademischen Karriere bei allen dreien als Mitarbeiter & Assistent tätig gewesen, hat nun zur Erinnerung an sie & die Buchhändlerin Julie Gastl, deren gleichnamige »akademische Buchhandlung« in der Altstadt Tübingens mehr als bloß stadtbekannt war, eine ebenso amüsante wie erinnerungsseelige Hommage  geschrieben.

Der Emeritus Gert Ueding ist – wie schon in seinen »Erinnerungen an Ernst Bloch« (2016) – tief in den Brunnen der Vergangenheit hinabgestiegen, um sich das »denkmögliche« geistige Gespräch zwischen den drei miteinander befreundeten Intellektuellen nicht nur zu imaginieren, sondern auch in Form einer klassischen Novelle – etwa von Tieck oder E.T.A. Hoffmann - uns als Lesevergnügen erzählerisch vor Augen zu stellen.

Ob es je in Wirklichkeit gab, was Ueding uns als »Tischgesellschaft der Julie Gastl« da im Haus der einst berühmten Tübinger Traditionsbuchhandlung auftischt, hat er mit ironischer Kunst so verklausuliert, dass es zum literarischen Spiel gehört, ihm die Flunkerei zu glauben – wie wohl es sicher »nur eine schöne Kunstfigur« ist, will sagen der liebevoll-ironische Wunschtraum des ausgepichten literarischen Kenners & Liebhabers Ueding.

Das Vergnügen, das der Erzähler (der sich an einer Stelle auch diskret ins Spiel bringt) an seiner naheliegenden literarischen Erfindung beim erinnernd-collagierenden Schreiben ohne Zweifel gehabt hat, können vor allem wohl seine älteren oder wenig jüngeren Zeitgenossen teilen, bzw. nachschmecken. Also jene, denen Bloch, Jens & Mayer (oder Hochhuth, Dürrenmatt & Reich-Ranicki bei deren Tübinger Gastauftritten) sowohl als Autoren mit geistig-literarischem Profil als auch öffentliche Personen mit ausgeprägten physiognomisch-gestischen Eigenarten bekannt, um nicht zu sagen als Zeitgenossen geläufig sind – wie z.B. die lange Haarsträhne, die Walter Jens immer wieder mit einer Kopfbewegung zurückwarf, nachdem sie ihm, beim feurigen Reden, ins Gesicht gefallen war.

Denn auch diese Tübinger Eule der Minerva erhebt sich zu ihrem Flug erst nach Einbruch der Dämmerung, in der die bundesrepublikanische Welt von Gestern heute längst versunken ist. Erst recht natürlich das hier bis in feinste persönliche Nuancen & Eigenarten erzählerisch beschworene Idyll der donnerstäglichen kulinarischen Tübinger Tischgesellschaft in der »Theologie«, dem Verkaufsraum für Geisteswissenschaften im 1.Stock der Gastlschen Buchhandlung.

Gert Ueding hat den gesprächshaften Austausch der virulenten Themen & Idiosynkrasien der drei Herren & der sanft deren mannigfachen geistigen Ausschweifungen animierenden & lenkenden Gastgeberin ebenso liebevoll wie ironisch, so kundig wie kritisch ausgemalt, und damit diese Geister-Beschwörung auch recht plastisch & lebendig werde, gelegentlich sogar Innere Monologe gewagt, übrigens durchaus gelungen.

Besonders dicht ist aber das Porträt von Walter Jens als literarische Figur, die darunter gelitten habe, dass ihr frühes literarisches Oeuvre so gut wie vergessen war, als sein Stern des öffentlichen Intellektueller, brillanten Festredners, Gruppe 47- & TV-Kritikers (Momos), PEN-Präsidenten, Pazifisten, linken Protestanten & Bibel-Übersetzers aufging. Und unterging, als sein (skandalsüchtiger) Sohn Tilman die Demenz-Erkrankung seines Vaters unter der Ägide von Walter Jens' engstem Freund Marcel Reich-Ranicki in der FAZ publik machte – was u.a. zum Zerwürfnis der Freundschaft führte (& Ueding nun postum noch die Ehefrau Inge Jens dafür rügt).

Dieses traurig-tragische Ende des Meisters der Beredsamkeit – es setzte erst rund dreißig Jahre nach den hier imaginierten Sitzungen der »Tübinger Tischgesellschaft« in den Siebziger Jahren ein – hat der Erzähler Ueding auf eine ebenso überzeugende wie erschütternde Weise angesprochen: er lässt Walter Jens selbst sich tief bewegt mit einem Bericht über die Demenz des alten Immanuel Kant beschäftigen. Dieser erzählerische Einfall besitzt magische Triftigkeit bei elegantester Diskretion. Es war einmal…

Artikel online seit 01.05.24
 

Gert Ueding
Bloch, Jens und Mayer
Die Tischgesellschaft der Julie Gastl
Alfred Kröner Verlag
Halbleinen mit Lesebändchen
255 Seiten
25,00 €
978-3-520-75303-8

 


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