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Epitaphe kritischer Theorie

Zu Jörg Späters vielstimmiger Erzählung
»Adornos Erben«

Von Wolfgang Bock

Statt des Urbilds das Abbild
Der Historiker Jörg Später schreibt eine Geschichte des Nachlebens der ersten Generation Kritischer Theorie in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis1990. Später ist selbst ein Spätgeborener. Als er 1966 zur Welt kommt, überlebt ihn Adorno, dessen unorganisches Weiterleben im Mittelpunkt seiner Rekonstruktion steht, gerade noch drei Jahre. Und als Max Horkheimer 1973 zu Grabe getragen wird, ist der Chronist ganze sieben Jahre alt. Er muss sich also in den Archiven und Korrespondenzen umtun und sich erzählen lassen, er ist kein Zeitzeuge. Die Berichtenden, die er konsultiert, geben ihm viele Details preis, die er seinerseits gerne wiedergibt. Im Gegensatz zu Alexander Demirovic, der vor 25 Jahren eine intellektuelle Biografie des Nachlebens Adornos und der BRD herausgebracht hatte, liest sich Späters Geschichte wie eine Mischung aus Wilhelm Weischedel Philosophischer Hintertreppe („Philosophen menschlich!“) und Florian Illies („unterm Bett!“) Intimgeschichte der Avantgarde1913.[1] Es geht auch bei Später um aufgelöste Ehen, eifersüchtige Ehemänner und verstorbene Kinder – noch mehr aber um Grabreden. Es entsteht dabei eine Sittengeschichte der Frankfurter Theorie nach 1949. Das macht das Buch lesbar, die Theorie wird aber auch handzahm, weil sie auf ein menschliches Maß, gleichsam als versüßtes Getränk entspannt im Kaffeehaus konsumierbar gemacht wird.

Eine neuerliche biografische Mode. Oder: Es brummt im Kaffeehaus
Diese Stimmung darf man dem Autor nicht allein anlasten. Sie hat mit einer literarischen Umgebung und damit auch mit einer Seite der „Institution Literatur“ (Peter Bürger) zu tun, die sich für die Privatgeschichten der Vorzeigephilosophen der Bundesrepublik auch aus fiskalischer Selbsterhaltung interessiert. Illies hatte mit seinem Buch über die ästhetische Avantgarde vor dem Ersten Weltkrieg einen Bestsellermaßstab gesetzt, den der Betrieb fortan nicht mehr ignorieren kann. Ihm folgt, flankiert von Rüdiger Safranskis endemischen Biografien, eine ganze Reihe von Büchern über Atmosphären: Sommer in Ostende, Adorno in Neapel, Das Café der trunkenen Philosophen oder kurz Café Marx, letzteres von Friedrich Pollocks streitbarem Biografen Philipp Lenhart. Und auch Später hatte zuvor eine Biografie über Siegfried Kracauer verfasst.[2] Aus diesen Büchern, aus denen vor allem diejenigen von Lenhard herausstechen, kann man viel lernen, sie ergänzen mit biografischen und stimmungsvollen Details die Nachgeschichte der Frankfurter Theorie in der Bundesrepublik. Später aber plündert für seinen Text die Arbeiten von Eva-Maria Ziege und Walter Faber, ohne sie explizit zu nennen. Sie und ihre Mitstreiter hatten den Auszug und die Diaspora der Frankfurter Theorie an anderen Orten in Deutschland bereits sehr viel früher nachverfolgt.[3]

Playtime und Wiedergutmachungen im Adorno-Orbit
Der Historiker teilt sein gut 800 Seiten starkes Vorhaben in vier Abschnitte. Die Einleitung gilt der Rückbesinnung der Konstitution der kritischen Theorie in Deutschland, der Gründung des Instituts für Sozialforschung 1923, der Entwicklung an der Frankfurter Universität und der Migration nach Amerika. Der erste Teil setzt dann 1949 an und reicht bis 1969, dem Todesjahr Adornos. Hier werden die Schüler und Assistenten und die schwierige Restitution der Frankfurter in Frankfurt beschrieben. Der Fokus liegt stärker auf Adorno als auf Horkheimer und Pollock, den eigentlichen Protagonisten der Frankfurter Schule. Im zweiten Teil („Die Schule entlässt ihre Kinder“) geht es um die bekannten Diadochenkämpfe in der Nachfolge. Hier wird, was die Ausrichtung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt betrifft, Jürgen Habermas nach Umwegen über Starnberg das Rennen machen. Wie in dem letzten Film Playtime des französischen Komikers Jacques Tati von 1967, der seine Figur des Monsieur Hulot dort aufgehen lässt in viele verschiedene Hulots, so verbreiten sich auch die kritischen Theoretiker über die Bundesrepublik – oft genug auch als Adornodarsteller. Später forscht den Zweigen dieses Auszugs nach, der nach Berlin, Hannover, Hamburg, Bremen und erstaunlicherweise oft genug in das kleine norddeutsche Lüneburg führt. Dort spielt Hermann Schweppenhäuser, der nach Rainer Köhne chronologisch zweite Assistent Adornos, eine besondere Rolle, die auch in Späters Buch prominent weitergetragen wird. Im dritten Teil („Kritische Theorie im Handgemenge“ – auch das ein Lieblingsausdruck Schweppenhäusers) berichtet über die Versuche kritischer Theoretiker in der Bundesrepublik der 1980er und 1990er Jahre, sich politisch einzumischen. Hier kommt das Verhältnis von Alexander Kluge und Oskar Negt zur Sprache, die feministischen Initiativen von Helge Pross, Regina Becker Schmidt und Silvia Bovenschen und auch Figuren wie Rolf Tiedemann oder Karl-Heinz Haag werden genannt: der eine beschäftigt sich mit Walter Benjamin, der andere mit der liegengelassenen Frage der negativen Metaphysik. Das Verhältnis zum Erbe in Frankfurt auf der Adorno-Konferenz 1983 und die verschiedenen Nachfolgekonferenzen wie 1984 in Hamburg wird weiterverfolgt. Das Ende bildet dann das wachsende Interesse an Auschwitz und den Antisemitismus. Später verfolgt hier den Werdegang der Jüdischen Gruppe von Detlev Claussen (der aber gar nicht dazugehörte), Dan Diner oder Micha Brumlik unter diesen Vorzeichen. Sein Buch endet 1990, es steckt mit dem letzten Thema auch die Zeit danach ab.

Ein gespenstischer Rahmen:
Zwölf Jünger(innen) des (Nicht)Wiederauferstandenen
Dennoch dreht sich alles um Adorno, an den, wenn auch ironisch versteckt, oft genug theologische Maßstäbe angelegt werden: er sei nach seinem Tode nicht nach drei Tagen wieder auferstanden, Später untersucht zwölf Schülerinnen und Schüler des Bewunderten. Nicht umsonst geht es um Beerdigungen und Lebensgeschichten; die Hauptquellen des Buches bilden Briefe und Gespräche. Hier soll noch das Leben leben und erzählen. Er sagt: „Die Frankfurter Schule ist eine historische Gestalt mit einem philosophisch-politischen Kern.“ Und nicht umgekehrt. Ist hier also in dieser „Ideengeschichte“ doch mehr Illies und der schnöde Geist des Bestsellers drin als Später zugeben will?

Mortifikation
Filmerzählung ist vielleicht die beste Beschreibung dessen, was Später vorlegt. Der Film tötet den Lebensstrom seiner Objekte ab, um sie als Scheinhaftes wiederzubeleben, ganz so, wie Siegfried Kracauers es im 16. Kapitel seines Filmbuches schreibt.[4] Es geht in Späters Buch hauptsächlich um Beerdigungen, Grabreden, Verhalten auf und an Begräbnissen. Das Buch ist damit ein Epitaph, Zeugnis eines gespenstischen Weiterlebens im Zeichen einer Mortifikation.

[1] Alex Demirovic, Der nonkonformistische Intellektuelle: Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999; Wilhelm Weischedel, Die philosophische Hintertreppe: 32 große Philosophen in Alltag und Denken, München: Nymphenburger 1973; Florian Illies, 1913: Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Fischer 2014.

[2] Volker Weidemann, Ostende: 1936, Sommer der Freundschaft, Köln: K&W 2014; Martin Mittelmeier, Adorno in Neapel: Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt, Berlin: btb 2015; Philipp Lenhart, Café Marx. Das Institut für Sozialforschung von den Anfängen bis zur Frankfurter Schule, München: C. H. Beck 2024 und ders., Friedrich Pollock: Die graue Eminenz der Frankfurter Schule, Berlin: Suhrkamp 2019. Jörg Später, Siegfried Kracauer: Eine Biographie. Berlin: Suhrkamp 2016. Zu Martynkewicz vgl. https://www.glanzundelend.de/Red23/M-O/wolfgang_martynkewicz_das_cafe_der_trunkenen_philosophen.htm.

[3] Richard Faber, Eva-Maria Ziege (Hg.), Das Feld der Frankfurter Kultur- und Sozialwissenschaften nach 1945, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008.

[4] Siegfried Kracauer,Theorie des Films(1960),Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978

Artikel online seit 17.09.24
 

Jörg Später
Adornos Erben
Eine Geschichte aus der Bundesrepublik
Suhrkamp
760 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen
40,00 €
978-3-518-43177-1

Leseprobe & Infos


 

 


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