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Zorn, Trotz & Melancholie

Ein paar Abschiedsworte zum Tod von Kiev Stingl,
der uns ein launiges Poesiealbum hinterlassen hat.

Von Herbert Debes

 



Kiev Stingl 2017 ©Alexandra Beilharz

»Der Desperado unter den deutschen Undergrounddichtern«, Kiev Stingl, starb bereits am 20. Februar dieses Jahres, kurz vor seinem 81.Geburtstag. Er war ein manchmal schillernder, oft düster glimmender Solitär im deutschen Kulturbetrieb, und zu seinen besten Zeiten hatte er Flacker in der Pfote. Er war ein bisweilen unerträgliches enfant terrible abseits des poetischen mainstream, stets bereit zur provokativen Pose, seiner eigenen Unmoral folgend, zugleich aber auch mit einem stilsicheren Gespür für wirkungsvolle Poesie, begabt und überaus belesen:

»unerkannt bin ich der ein / zig moderne, der diese langeweile / als schmerzspur begreift, / der im proustschen willen zur / eifersucht rilkes geometrisches / begehren bewohnt.«

Rimbaud, Villon, Baudelaire, Appollinaire: kaum ein Vergleich, der ihm von tonangebenden Feuilletonisten, stets auf der Suche nach einem deutschen Poètes maudits, nach verlorenen Zeiten, in denen etwa der Tag mit einer Schußwunde begann, oder Wünschen noch geholfen hatte, nicht angetan worden wäre.
Kiev Stingl mischte vor allem in den 1970- und 80er Jahren als Musiker, Dichter und Schauspieler die deutsche Kulturszene erst in Hamburg, ab 1985 in Berlin auf. Sein Zorn erinnerte an Brinkmanns Aufbrausen, seine Melancholie schrammte gelegentlich Wondratscheks Larmoyanz und sein Trotz ließ Nörgele Fauser alt aussehen.
Die Tragik seines Schaffens bestand wohl darin, daß er sein Glück zur falschen Zeit am falschen Ort versuchte. Er war zu früh für den Punk und widersetzte sich den Einverleibungsstrategien der Musikindustrie, um sich dann ganz konsequent über Jahrzehnte hinweg allem zu entziehen. Seine beiden letzten nenneswerten Gedichtbände »Keiner Maria Cowboy«, 1993, »Sink skin«, 1995, erschienen im Druckhaus Galrev.

Nun im Frühjahr 2024 beim Flur Verlag posthum ein kleines, quadratisches Bändchen mit dem schönen Titel »Mein Collier um deinen Hals« erschienen. Da denkt mancher erst einmal an eine Drohung, doch es ist eine schmale Kollektion von über die Jahre hin angewehten Gedankensplittern. Die Auswahl der verstreut in Schubladen, Büchern und Manuskripten aufgefundenen Blättern und Zetteln, birgt existentielle Einsichten, sinnstiftende Sprüche, und Beobachtungen und wurde von Kiev Stingl noch selbst zusammengestellt. Er selbst nennt es »Eine lose Folge kleiner Einsichten zur Pyramide geformt«. Lesen wir es wie den milden Abschiedsgruß eines Poeten, der sich auf den Weg in ein anderes Blau gemacht hat.

»Ich bin ein verwunschenes Wesen gewesen. Gewesen?
Bin ich es nicht mehr? Ich weiß es nicht.
Draußen ziehen Schneeflöckchen am Himmel,
sehen aus wie Wolken auf Wanderschaft 
vor blauem Grund.
Ich lagere auf meinem Sofa und schaue aufs Meer.
Dankeschön, Schicksal.«

Artikel online seit 27.09.24
 





















Kiev Stingl
Mein Collier
um Deinen Hals

G
edankensplitter
Flur Verlag
64 Seiten
12,00 €
978-3-98965-200-2




 


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