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Der
Philosoph als Mitkämpfer |
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Ein sarkastisch gestimmter Rezensent könnte das vorliegende Buch mit einer Paraphrase charakterisieren: Metaphysisch denken? – Rette sich wer kann! „Metaphysik ist das Wort, vor dem jeder…wie vor einem mit der Pest Behafteten davon läuft,“ heißt es bei Hegel. Diese 14 Vorlesungen sind eine Einführung in den Deutschen Idealismus. Im Zentrum stehen Kommentar und Erläuterung zur berühmten Vorrede der Phänomenologie des Geistes. Wie dieses Buch geht auch Bulthaup vor. Er handelt von philosophischen Gestalten, die aufeinander folgen und deren Philosopheme man verstanden haben sollte, will man das Ganze der uns zugänglichen Wahrheit erfassen. Hegel zu lesen verlangt großes intellektuelles Selbstvertrauen und heute mehr denn je, ist doch das von den Universitäten gebotene Angebot - wie sich den deutschen Vorlesungsverzeichnissen entnehmen lässt - mehr als mau. Dies ist ein solches Selbstbewusstsein stützendes Buch, und es kommt zur rechten Zeit angesichts des beschämenden Zustands der Akademie. Aber wer braucht schon Metaphysik? Ein Physiker braucht Metaphysik, um die Modelle seines eigenen Fachs zu verstehen, lautet eine von Bulthaup gegebene Auskunft. Äh, wieso das? Weil der zentrale Begriff der Physik, der Begriff der Kraft, sich nicht durch Erfahrung gewinnen lässt. Er ist definiert durch eine mathematische Gleichung mit den Bewegungsgrößen Masse und Beschleunigung. Liest man solche Sätze eines naturwissenschaftlich Gebildeten, und Bulthaup war einer, denkt man über das Kantische „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können“ nochmal neu nach. Bulthaup arbeitet dem Hegelverständnis mit Beispielen zu. So etwas geht in der Regel schief, aber nicht bei ihm. Er nimmt seine Beispiele aus den der Philosophie konträren, den physikalischen Fachbereichen. Die sinnlich fassbaren Darstellungen eines Atoms, wie sie in den Chemiebüchern zu sehen sind, übertragen abstrakte mathematische Formeln in kindische Bildchen, schreibt er. Die Formeln der Chemie sind in Wahrheit unsinnliche Modelle. In der physikalischen Innenwelt lässt sich mit dem Wahrheitskriterium der Sinne gar nichts verstehen. Dieses Buch ist eine kalte Dusche für jeden Wissenschaftstheoretiker, der mit Empirismus glaubt, sein windschiefes Wahrheitsgebäude abzustützen. Wo vermeintlich Klarheit herrscht, wälzt Bulthaup die Frage, wie die mathematisch gefassten Gesetze der Naturwissenschaften auf die Natur und ihre Gegenstände bezogen sind. Seine Vorlesung widmet sich dem Unterschied zwischen Hegels Verständnis von Wissenschaft und dem gängigen, szientifischen. Hegels Begriff der Wissenschaft charakterisiert er ex negativo: „Wenn in der Darstellung der Wissenschaft vergessen wird, wie ihre Probleme zustande kamen, woraus sie eigentlich resultieren, wird die Wissenschaft selbst unbegreiflich.“ Das gilt, so Bulthaup, für die Philosophie wie für die Naturwissenschaften. Die Formeln der Physik oder der Chemie sind nicht zu verstehen, unterbleibt die Darstellung der Probleme, zu deren Lösung sie einmal entwickelt wurden. Dieses Hegelbuch ist eine wirkliche Lesehilfe, denn es exponiert dort, wo die philosophischen Lehrbücher den Leser knapp halten: Das Lehrbuch stellt beispielsweise das Ich denke, also bin ich des Descartes vor. Das cartesische Ich will den Streit schlichten zwischen den Schulen der Nominalisten und Begriffsrealisten. Den ersten gilt das einzelne Ding als das vom Denken zu erfassende Wahre, den letzteren ist das Allgemeine die Wahrheit. In den gängigen Lehrbüchern erfährt man dies nicht. Bulthaups Kommentar folgt der entgegengesetzten Logik. Dazu muss er vorgehen wie sein Gegenstand, die Phänomenologie Hegels. Die Wahrheit kommt, so heißt es in der Vorrede, nicht wie aus der Pistole geschossen. Zu ihr hin führen die Probleme, wie sie sich in der Philosophiegeschichte stellen und die gefundenen Lösungsvorschläge. Die Geschichte der Philosophie ist demnach identisch mit der Entwicklung der Wahrheit. Bulthaup vertritt einen emphatischen Wahrheitsbegriff. Das allein genügt, um in der heutigen philosophischen Landschaft sich unmöglich zu machen. Wie der Hegelsche Geist dem transzendentalen Ich der Kantischen Philosophie entschlüpft, führt dieses Buch aus. Solche Termini, wie die Sprache des Deutschen Idealismus überhaupt, kommen dem unbefangenen Leser so verständlich vor wie Merseburger Zaubersprüche. Mit der Alltagssprache hat der Deutsche Idealismus die Verbindung gekappt; die kritischen Theoretiker wiesen auf diese Zäsur hin. Einer hat den Vergleich mit dem Rotwelsch gezogen. Bulthaup übersetzt die Hegelsche Ganovensprache, und er macht dies ohne die Anmaßung, es könne vollständig gelingen. Daher spricht er von „Untersuchungen“. Aus seinen Untersuchungen resultiert natürlich kein Unterrichtsstoff für die philosophische Klippschule. Der Hochschullehrer macht es seinen Zuhörern mit der im Wintersemester 1980 gehaltenen Vorlesung nicht ganz leicht. Zu Beginn der zwölften Vorlesung geht Bulthaup auf die Vorhaltung ein, man könne bei dem gebotenen Schwierigkeitsgrad nicht von einer Einleitung in die Philosophie sprechen. Der Gescholtene antwortet dem Studenten gar nicht beleidigt; er spricht ihn als Kommilitone an, (als Mitkämpfer, wie er übersetzt). Er versteht sich und seine Zuhörer als Verbündete in Abwehr einer Universität, deren „Ausbildung heute durchgängig als Anleitung zur Verblödung zu erkennen ist.“ Solche eingestreuten Bemerkungen und wunderbare aphoristische Stellen dienen vermutlich dem Atemholen, hat doch die Beschäftigung mit dem Hegelschen Stoff etwas Atemberaubendes. „Ein Standpunkt ist ein Gesichtskreis mit dem Radius Null,“ heißt es in einer Vorlesung; dies entspräche dem von Hegel dargestellten Bewusstsein, das sich auf sich selbst beschränkt. Oder über die Bewegung des Begriffs: Das sei kein im Hörsaal herumfahrender Bumerang. „Wenn Sie“, spricht er seine Hörer an, „versuchen, auch nur zehn vernünftig zusammenhängende Sätze zu schreiben, wissen Sie, welche intellektuelle Schinderei das ist.“ Man liest das Produkt der Bulthaupschen Schinderei und hat viel davon. Denn die Hegelkritik spart es nicht aus. Auch Hegel verkörpert eine Gestalt der Philosophie, die verstanden und negiert werden muss, damit es den Fortschritt in der Philosophie geben kann. Wieder expliziert der Autor diesen Gedanken an der Naturwissenschaft. Ihre Gegenstände sind keine Gedankendinge. Das Wasserstoffatom hat es schon gegeben, bevor es eine Atomtheorie gab. Wäre es anders, wäre die Theorie der Grund der Materie. Dass das Sein sich nicht dem Denken verdankt, ist ein Anti-Idealismus, den Bulthaup sich nicht abhandeln lässt. Die Körper sind keine Gedankendinge, sie sind wahrlich nicht so, wie es im Hegelschen Buche steht. Nun könnte man mit dieser „Grundlage eines jeden Idealismus“ ganz schnell fertig werden, ablehnend wie die zeitgenössische analytische Philosophie, aufsaugend wie der sich ganz radikal gebende Dekonstruktivismus. Das ist Bulthaups Sache nicht. Gegen den reflexhaften Verriss und die unkritische Affirmation setzt er ganz traditionell die Lektüre des Textes. Er hat nicht einmal Hemmungen, das der mittelalterlichen Scholastik entlehnte Verfahren der „lectio“ und der „disputatio“ anzuwenden. Den nach dem Wissenschaftsjournalismus schielenden heutigen Philosophen müssten sich alle Haare zu Berg stellen. Hegel zu lesen, heißt, die Aufführung eines Zaubertricks zu erleben. Wohl ist wahr: Den Gegenstand und das Denken zu unterscheiden, ist eine Leistung des Denkens; in das Denken fällt die Differenz. Es ist also erkenntnistheoretisch das Erste, aber dies bringt das ontologisch Erste, die materielle Gegenstandswelt, nicht zum Verschwinden. Bulthaup unterschlägt nicht den faulen Zauber des vermeintlichen Verschwindens. Am Ende der Vorlesungsreihe ist Adornos Nicht-Identisches thematisch, die gedankliche Anstrengung, die innere und äußere Natur gegen die ökonomische Gewalt zu retten. Aber erst kommt die Darstellung des Hegelschen Systembegriffs; dann erst geht es zur Kritik. Hegels Philosophie ist selbst eine Gestalt des Geistes, die negiert und begriffen sein will. Mit dem Dasein ist Hegel nicht fertig geworden; der Geist kann sich die Materie nicht restlos assimilieren. Bei Bulthaup führt dies zu dem „Versuch einer Andeutung einer materialistischen Kritik an dem Klassizismus des Hegel’schen Wissenschafts- und Bildungsbegriffs.“ Das steht ziemlich am Ende der Vorlesungsreihe. Die zurückhaltende Formulierung verrät das Problem, das sich stellt, wollte einer den Idealismus mit dem Materialismus kontern. (Marx hat dies keineswegs getan, sei in Klammern vermerkt). Ob Bulthaup diesen Versuch unternimmt, werden die hoffentlich bald publizierten Folgevorlesungen zeigen. Peter Bulthaup entstammt mit Günther Mensching und Karl Heinz Haag der zweiten Generation kritischer Theoretiker. Man hat ihnen das Label ‚Epigone‘ verpasst. Ehemals Autoren bei Suhrkamp, konnten sie nach dem von 1968 ausgelösten Theorieboom von Glück sagen, wenn sie in kleinen Häusern noch publizieren konnten. Haag wird eine Metaphysik schreiben, in der er den „geläuterten Wesensbegriff“ entfaltet, den die Negative Dialektik Adornos gefordert hat. Mensching wird zeigen, dass kritische Theorie auf dem falschen Bein Hurra schreit, wenn sie in nominalistischer Weise das Nichtidentische mit dem begrifflich nicht zu fassenden Besonderen identifiziert. Und was Bulthaup für die fortentwickelte kritische Theorie geleistet hat, zeigt dieses Buch. Dem Verlag ist für den Wagemut zu danken, dieses wenig marktgängige Produkt publiziert zu haben. Die drei Genannten sind dem zeitgenössischen Feuilleton weitgehend unbekannt. Ihre Abwesenheit in den Zeitungsspalten als Urteil über die Unwahrheit ihrer Metaphysik zu verstehen, wäre ein Witz im Sinne von Karl Kraus. Der heutige Wissenschaftsjournalismus rezensiert in der Regel nur Autoren, die approbiert sind und Starruhm erlangt haben. Ist er liberal ausgerichtet, ist er stolz, in der Habermaschen Sprachpragmatik eine elaborierte Gesellschaftstheorie zu besitzen, welche die fundamentale Kritik der Gesellschaft ersparen hilft; in den Stolz mischt sich die Erleichterung. Für die Sprachpragmatik ist der Gegenstandsbereich Natur nicht vorhanden; ihr sind nur Ego und Alter Ego ein Thema. Damit ist sie späte Erbin Hegels, für den das Ansichsein der Natur ein restloses Für uns ist. So gerät aber aus dem Blick, was die modernen Gesellschaften fundamental belastet: die ihrer Ökonomie geschuldete Verheerung der Ökosysteme. Ob Metaphysik verzichtbar ist oder ein vernunftgeleiteter Naturumgang Metaphysik voraussetzt, ob das nachmetaphysische Denken Wahrheit beanspruchen kann, ist eine Frage, zu der man in den Redaktionen der ZEIT, der Süddeutschen und der FAZ gar nicht erst vordringt. Ist Philosophie nicht überhaupt verzichtbar? Adorno hat ihr das Verstummen prophezeit. Ja, sie verstummt, aber indem sie auf sehr große Lautstärke dreht. Heute ist jeder Unternehmensberater auch noch Philosoph, und Talkshow wie Podcast schmücken sich mit ihm, wie man sich mit einer Gucci-Handtasche oder einer Hermès-Krawatte schmückt. Das lauthalse Verstummen könnte Resignation nahelegen. Bulthaup zitiert am Ende seiner Vorlesungen aus Adornos gleichnamigen Aufsatz: „Was triftig gedacht wurde, muss woanders, von anderen gedacht werden: dies Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken.“ Bulthaup zitiert und stellt das Zitat zugleich in Frage, indem er von einer Durchhalteparole spricht.
Man könnte
gegenhalten und auf das Internet verweisen. Hier finden sich die gedanklichen
Müllabladeplätze, aber daneben Seiten, auf denen Autoren wie Bulthaup ihre
Rezeption finden können und ihrem Werk Gerechtigkeit widerfahren kann.
Materialgerechtigkeit, um genau zu sein. Denn wirklicher Philosophie eignet
etwas Artifizielles, sie gleicht einem Kunstwerk. Das Internet als Hebamme und
List der Vernunft? Wer hätte das gedacht! „Der lebendige Geist, der in einer
Philosophie wohnt, verlangt, um sich zu enthüllen durch einen verwandten Geist
geboren zu werden.“ Hegels Lob für gute Websites. |
Peter Bulthaup
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