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»Es
geht darum, wirklich zu existieren.« |
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Der Name des französischen Philosophen Étienne Souriau (1892–1979) war lange Zeit in Vergessenheit geraten, und damit auch sein 1943 erstmals erschienener Essay »Die verschiedenen Modi der Existenz«. Isabelle Stengers, belgische Philosophin und Wissenschaftshistorikerin, sowie der 2022 verstorbene französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour haben vor einigen Jahren Souriaus Werk wiederentdeckt und den Essay in einer Neuauflage mit einer ausführlichen Einleitung versehen. Souriaus enzyklopädisches Wissen sei, so heißt es dort, stilistisch enorm anspruchsvoll und »Die verschiedenen Modi der Existenz« sei »ein schwieriges, konzentriertes und beinahe gehetztes Buch, in dem man sich schnell verlieren kann, so dicht gedrängt sind die Ereignisse des Denkens, so schwindelerregend die Perspektiven, die unaufhörlich Gefahr laufen, den Leser in die Flucht zu schlagen.« Das stimmt zwar, doch wer die Mühe nicht scheut, sich auf Souriaus Denken einzulassen, wird ganz gewiss nicht enttäuscht.
Étienne Souriau studierte zunächst an der École Normale Supérieure (ENS)
und schloss im Jahr 1925 seine Promotion ab. Er gilt als Vertreter der
philosophischen Ästhetik, die er sehr stark an anthropologische Fragen bindet.
Außerdem hat er sich als Filmwissenschaftler mit der Ästhetik des Kinos
auseinandergesetzt. »Ein Tonhaufen auf dem Bock des Bildhauers. Eine unbestreitbare,vollkommene und erfüllte dingliche Existenz. Aber keine Existenz des ästhetischen Wesens, das sich erst entfalten muss.« (Étienne Souriau) Souriau selbst aber ist, auch wenn man dies vermuten mag, weder Phänomenologie noch Existenzphilosoph im klassischen Sinne. Im Fokus seiner Aufmerksamkeit stehen die verschiedenen Modi der Existenz, die Bruno Latour später in seiner sozialtheoretischen Studie »Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen« (2014) wieder aufgreifen und behaupten wird, es bedürfe einer neuen Form der »Diplomatie«, die zwischen den einzelnen Existenzweisen vermittele. Denn schon Souriau hatte festgestellt, es gebe »fragile und inkonsistente Entitäten, die durch diese Inkonsistenz so verschieden von den Körpern sind, dass man zögern kann, ihnen irgendeine Art und Weise des Existierens zuzugestehen. Wir denken hier nicht an die Seelen …, sondern an diese Gespenster, diese Schimären, diese Morganas, welche die von der Imagination Vorgestellten sind, die Wesen der Fiktion. Gibt es für sie einen existenziellen Status?« Für Latour, aber auch für Stengers sind diese Wesen »von unserer Fürsorge abhängig.« Anknüpfungspunkt ist eine Stelle bei Souriau, in der er schreibt: »Aber man kann auch aus der Kraft der anderen heraus existieren. Es gibt bestimmte Dinge – Gedichte, Symphonien oder Heimatländer –, die aus sich selbst heraus keinen Zugang zur Existenz besitzen. Damit sie sind, muss sich der Mensch hingeben. Und andererseits kann er vielleicht in dieser Hingabe eine wirkliche Existenz finden.« Dies ist exakt der Punkt, an den auch David Lapoujade (*1964), Professor für Philosophie an der Universität Paris-I Panthéon-Sorbonne, in seinem Buch »Die minderen Existenzen« ansetzt. Denn mit Souriaus Idee, die Virtuellen zu den Modi der Existenzweisen hinzuzunehmen, ändere sich alles, meint Lapoujade: »Man kann nicht mehr an dem ursprünglichen Atomismus festhalten, demzufolge jede Existenz in sich selbst vollkommen und in ihrer Ordnung endgültig abgeschlossen ist. Mit den Virtuellen wird jede Realität unvollständig.«
Wir haben es hier also mit so etwas wie einer existenziellen Unfertigkeit zu
tun: Jede Wesenheit ist ein Prozess, ein Akt, eine permanente Veränderung, eine
Transformation oder Metamorphose. Die flüchtigen Wesen und Phänomene sind
zerbrechliche Existenzweisen und stören durch ihre Zerbrechlichkeit die Ordnung
des Realen. |
David Lapoujade |
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