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Versuch der Befreiung

Dieter Liewerscheidts »Konstruktive Dekonstruktionen
«
zur deutschen Literatur von
Lessing bis Rolf Dieter Brinkmann
eröffnen neue Lesarten.

Von Lothar Struck
 

Der Titel klingt zunächst etwas kompliziert: Konstruktive Dekonstruktionen. Es ist ein dezentes Wortspiel über die vom Autor Dieter Liewerscheidt eher skeptisch betrachteten Dekonstruktivisten. In siebzehn "Studien zur deutschen Literatur" (die meisten davon in den 2010er Jahren entstanden und in diversen Publikationen veröffentlicht) liest der 1944 geborene Literaturwissenschaftler markante Werke vom 18. bis 20. Jahrhundert noch einmal, und zwar "konstruktiv". Es gilt, "Rezeptionsklischees" zu durchbrechen, vergangene Lesarten zu befragen. Im Aufsatz zu Franz Kafkas Der Proceß wird das Herangehen auch programmatisch umrissen: "Die Unvermeidlichkeit des Deutens, auch des psychoanalytischen, ist eine Konsequenz aus dem Verstehensanspruch, den eine hermeneutisch geprägte Literaturwissenschaft weiterhin aufrechterhält, wenn sie sich nicht auf Fragen der Textentstehung, des Stils, der Motiverhellung, der Intra- und Intertextualität beschränkt". Im Nachwort schreibt Liewerscheidt, dass sich ein "wirkliches Kunstwerk" erst im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte als solches herausstelle. "Je mehr analytische Bemühungen an ihm gescheitert sind" ist dann eines der Kriterien, welches hierfür ins Feld geführt wird.

Das Buch lädt ein, allzu liebgewordene Deutungen, die dem jeweiligen Werk vorauseilen, abzulegen. Dabei stellt Liewerscheidt in jeder Studie zunächst die gängigen Lesarten (und mitunter ihre "Saison") vor. Hierfür wird auf ein mehr als 150 Seiten umfassendes Literaturverzeichnis für ausgiebige Studien von Monographien und insgesamt 1074 Anmerkungen zur Verfügung gestellt. Schließlich beginnt das Neu-Lesen Liewerscheidts, zumeist als "Durchgang durch die fiktive Ereignis-Oberfläche" eines Romans, Gedichts oder Dramas. Der Fokus bleibt auf den (die) Protagonisten gerichtet. Ziel ist der theoriearme Zugang, was häufig gelingt. Liewerscheidt versteht seine Ausführungen nicht als absolute und gar einzig mögliche Gegenposition, sondern als zusätzliches Angebot, mit dem andere Deutungsfäden gegebenenfalls neu versponnen werden können.

So befragt er etwa die Ringparabel-Szene in Lessings Nathan der Weise als eine "ökonomisch fundierte Toleranzmaxime" und weniger als Utopie der Brüderlichkeit. In Schillers Kabale und Liebe lässt sich ein "Crescendo schriller und dissonanter Kraftlinien ausmachen". Goethes Iphigenie deutet Liewerscheidt als mythischen Einflüssen ausgesetzte "Selbstbehauptungskünstlerin" mit einer "prinzipienfreien Anpassungsbegabung". Zu großer Form läuft der Autor auf, wenn er bei Goethes Faust dessen Erkenntniswillen über den Beginn des Dramas hinaus als ein Zentralmotiv herausstellt. Fausts "forschende Aufgeschlossenheit" sei auch dort zu erkennen, wo man sie leicht überlese. Der Erkenntnisanspruch Fausts sei am Ende "die Quelle seiner Leiden." Das häufig als Militär- oder Befehlsdrama verstandene Stück Prinz von Homburg von Heinrich von Kleist wird als Komödie mit zum Teil "grausamer Komik" zweier ruhmsüchtiger Protagonisten – der Titelfigur und dem Antagonisten, dem Kurfürsten -  gedeutet.

Nathanael, den unglücklichen Studenten aus E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann, will Liewerscheidt aus den pathologischen und freudianischen Deutungen befreien und liest den Text als eine "Dämonengeschichte" eines "unzuverlässigen Erzählers". Grabbes Napoleon-Drama erscheint in seiner Dialektik zwischen Mythenpräsentation und -destruktion in neuer Lesart "komplex und kühn", während Mörikes Gedicht An eine Äolsharfe als "Selbstinszenierung des poetischen Geistes" mit bereits damals eher veralteten Mitteln angesehen wird. Dass einige Literaturexegeten bei Rilkes Duineser Elegien zuweilen mit dem hermeneutischen Zugang hadern und vor des Dichters Worten kapitulieren, akzeptiert Liewerscheidt nicht, sondern erklärt dies mit "dichterischen Defizite[n]", die sich in "Sprunghaftigkeit" und "Zusammenhanglosigkeit, ja Beliebigkeit" zeige. Durch künstliche Verkomplizierungen würde der "Eindruck gedanklicher Tiefe" simuliert (hier zitiert er Christa Bürger). Mit dem in den Elegien subkutan eingepflegten konservativen Kulturpessimismus Rilkes kann Liewerscheidt ebenfalls nichts anfangen.

Bei Thomas Manns Zauberberg wird der Bruch zwischen der ironisch-parodistischen Überzeichnung des auktorialen Erzählers mit dem Schluss – Hans Castorps' Einrücken als Soldat – thematisiert. Dass hier der Untergang der großbürgerlichen Epoche gezeigt wird, ist allerdings nicht originell. Interessanter ist Liewerscheidts eingangs beschriebenes Vorgehen wieder bei Kafkas Proceß. Josef K.s Geschichte wird hier als "surreales Panorama" beginnend als "gestörte Alltagsroutine" entwickelt. Der gesamte Interpretationskosmos wird zu Gunsten der Schilderung der unmittelbaren Erlebniswelt des Protagonisten hintan gestellt. Ob der Leser allerdings jemals den Roman noch einmal ohne den Bombast an Auslegungen wird rezipieren können?

Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz spaltet Liewerscheidt in einen Roman mit zwei Hauptfiguren – zum einen die Stadt Berlin als menschenzerstörender Moloch und zum anderen in die Moritat über Franz Biberkopf. Dabei werden Berliner Leitmotive in Allegorien verwandelt, die schließlich in Biberkopfs Schicksal münden, während Einzelschicksale anderer Protagonisten unter dem Rubrum "Großstadt Berlin" verortet werden. Das Kritteln am Titel des Romans kommt einem ein bisschen kleinkariert vor.

Weniger gelungen ist der Text über Joseph Roths Hiob, der in der Feststellung eines "ratlosen Autors" mit sanften Ironieformen endet. Streng ins Gericht geht Liewerscheidt mit Tauben im Gras von Wolfgang Koeppen. Nicht nur, dass er ihm mit treffenden Argumenten den Status des Großstadtromans abspricht. Er kritisiert auch eine "überbordende Rhetorik und Metaphorik", moniert das "ornamentale Dekor" mit dem Parallelen zu Joyce oder Homer gezogen werden und bezeichnet dies als "literarische Geisterbeschwörung". Koeppen habe hier zwar mit Ambitionen einen Roman der Moderne schreiben wollen, aber zu stark "erzählerische Vorkriegstraditionen" bemüht. Der Versuch der Rettung des Romans fällt schmallippig aus.

In den letzten drei Kapiteln werden die lyrischen Werke von Gottfried Benn, Peter Rühmkorf und Rolf Dieter Brinkmann analysiert. Bei Benn wird die Kanonisierung des Spätwerks ("Parlando-Lyrik") rekapituliert und die sukzessive Änderung im Tonfall der Rezeption vom Spott Rühmkorfs und Enzensbergers hin zur Kanonisierung binnen kurzer Zeit. Benns Lyrik ist, wenn man Liewerscheidt folgt, eine Melange aus "Klangrausch", forcierter Kälte und dem Jonglieren mit Fremdwörtern, verortbar zwischen "lyrischem Spitzenprodukt" und einer in Beliebigkeit abdriftenden "Botschaft vom zerbrochenen Weltbild der Moderne."

Am bereits 1992 entstandenen Text zu Peter Rühmkorf kann man deutlich erkennen, dass das Gesamtwerk des Autors noch nicht vorlag (Rühmkorf verstarb 2006). Der Abstand fehlt. Liewerscheidt zitiert das Gedicht Schnellimbiß als Charakteristikum für Rühmkorfs Lyrik,  findet eine von "resignativer Schnoddrigkeit" durchdrungene "kabarettistisch aufgezogene Solonummer", durchaus im Selbstportrait-Gestus (mit gewisser Alterskoketterie) und "heruntergewürgte[r] Verachtung des Unterhaltungsmolochs Publikum", irgendwo zwischen Ringelnatz und Benn.

Der abschließende Text zu Rolf Dieter Brinkmanns Lyrik ist neu und wurde in diesem Buch erstmals publiziert. Brinkmann gelte zwar als Galionsfigur seiner Generation, sei jedoch nach seinem Unfalltod 1975 zunächst vergessen worden, bevor 2005 eine erneute Welle von literarturwissenschaftlichen Texten erschienen waren. Es beginnt mit Brinkmanns Idealvorstellung vom literarischen Schreiben, einer Art "Poetik der Vergegenwärtigung" (Joachim Jacob), die den Leser zu "intensiven, unvermittelten Sinneswahrnehmungen" führen soll. Dieses Prinzip kollidiert, wenn man Liewerscheidt richtig deutet, mit Brinkmanns früher "Pop-Phase", in die er immer wieder einmal zurück zu fallen schien. Ausführlich beschäftigt sich der Autor mit den autoaggressiven Phasen Brinkmanns, die er als Abkehrprozess von McLuhans euphorisch konnotierten Medien-Utopien hin zu Neil Postmans Dystopie einer durch Kommerz und Show verdorbenen Medienlandschaft deutet. Brinkmann und seine Lyrik wird geschildert als "eingeklemmt…zwischen zwei unerfüllbaren poetologischen Positionen". Das Urteil fällt zunächst drastisch aus: "Die Möglichkeit eines zeitgemäßen Gedichts erschien entweder von Brinkmanns programmatischer Selbstüberforderung oder seiner sprachskeptischen bis -feindlichen Selbstverneinung stranguliert zu werden." Dennoch entdeckt Liewerscheidt als "seltene Ausnahme" in zwei abgedruckten kleinen Gedichten geglückte Augenblicke, nennt sie "Triumphe des Ästhetischen". Der Text endet mit einer ambivalenten Analyse des Gedichts Rolltreppen im August. Liewerscheidt ist hier allerdings eher gehalten, Inhaltliches nachzuerzählen. Er belässt es beim Urteil einer "fragilen Schlüssigkeit" des "Rolltreppen-Projekts", wobei man bei dem Begriff "Projekt" stutzt.

Die "Studien zur deutschen Literatur" von Dieter Liewerscheidt sind häufig im besten Sinne Erfrischungen für Leser – und die, die es werden wollen. Besonders überzeugen die Ausführungen zum Faust, dem Prinz von Homburg und – so sehr es auch schmerzt – zu Koeppens Tauben im Gras. Auch in Bezug auf Brinkmann verspürt man wieder neue Leselust. Getrübt werden die Erfrischungen durch immer wieder eingestreute Germanistentermini wie "Polyptoton", "Epizeuxis" oder auch "Epipher" (insbesondere im Brinkmann-Text braucht der Leser eine Machete und ein gutes Wörterbuch). Dennoch: Ein weiteres Buch mit Aufsätzen zu anderen Werken würde ich sehr gerne lesen wollen.

Artikel online seit 08.01.25
 

Dieter Liewerscheidt
Konstruktive Dekonstruktionen
Studien zur deutschen Literatur
xs Verlag
Taschenbuch
520 Seiten
32,00 
978-3-944503-25-7

 


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