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Ein philosophisches Leben in Flammen

Gedanken über Peter Trawnys autobiographische Theorie dieses Subjekts
»Aschenplätze«

Von Michael Chighel*
 

Peter Trawnys neues Buch Aschenplätze ist ein höchst problematisches Buch. Es schafft Probleme für die Philosophie, die Philosophen bislang so nicht empfunden haben – oder die Empfindung zumindest verheimlichten. Vom Genre her gehört es zweifellos zu einer Art philosophischer Werke, wie sie etwa durch Nietzsches Ecce Homo exemplarisch geworden sind. Es ist ein Versuch, biographisch zu philosophieren. Das heißt: nicht nur ein Versuch, Philosophie in einer Weise zu betreiben, die das Leben als Rohstoff anerkennt, mit dem der lebende Philosoph sein Denken formt – eine Lebensphilosophie im Sinne Diltheys oder Heideggers. Es ist darüber hinaus ein Essay des Lebens selbst, des Lebens durch Schreiben – bio-graphisch –, und zwar so, dass die Philosophie als Rohmaterial für das Leben verdaut wird. Wenn Trawny von »dem philosophischen Leben« spricht, wagt er es, sich jenseits aller akademischen Angemessenheit und Anständigkeit mit der alten sokratischen Überzeugung zu identifizieren: dass nur ein unter dem Blick philosophischer Prüfung geführtes Leben ein wirklich lebenswertes Leben ist. Was im Umkehrschluss bedeutet: Eine Philosophie, die weniger dringlich ist als das Leben selbst, ist keine Philosophie, sondern nur »Philosophie«.

Philosophia, das muss man sich in Erinnerung rufen, ist eine Form der Liebe. Als Platon die philosophische Prosa in die europäische Literatur einführte, machte er deutlich, dass es um den höchstmöglichen Eros geht. Die wesentliche Erotik der Philosophie ist das Thema des Phaidros. Und es geht um dieses Thema in Trawnys Aschenplätzen, zu dem ich eine kurze philosophische Meditation anbieten möchte. (Es ist allerdings ein viel zu reiches Werk, um seine verschiedenen Themen in angemessener Tiefe zu behandeln.) In dieser Hinsicht könnte Aschenplätze im Übrigen einem alten Genre zugeordnet werden – nämlich dem Genre, das durch die Confessiones von Augustinus vorgebildet wurde. Auch dort sind Biographie, Philosophie und Erotik eng und unauflöslich miteinander verwoben. Und Religion! In der Tat, ganz ähnlich wie Augustinus’ Werk ist Aschenplätze vor allem ein religiöses Werk.

Ein christliches Werk? Ein antichristliches Werk wie Ecce Homo? Ein postchristliches Werk? Hier liegt das unheimlichste Geheimnis des Buches: Es ist ein jüdisches Buch. Während ich diese Rezension schreibe, steht das Buch auf Platz 3 der Bestseller in jüdischer Philosophie. Das ist kein Versehen. Immer wieder begegnet der Leser in diesem Buch einem Thema, das Trawny aus einer jüdischen Lehre entlehnt hat – mit Scheu und ängstlichem Respekt entlehnt und doch, wenn man auf die gequälte Ehrfurcht achtet, nicht nur entlehnt, sondern in sich selbst als »dieses Subjekt« einverleibt. Doch da ist noch etwas anderes, etwas Radikaleres als diese Aneignungen. Von einem geheimen Zwang getrieben, geht Trawny so weit, eine wesentliche Dimension seines Lebens – sein Liebesleben – einer zutiefst jüdischen Deutung zu unterwerfen. Genauer gesagt: einer Deutung, die sich aus der jüdischen Mystik oder der Kabbala speist. Wenn er auf die Frauen zurückblickt, die er geliebt hat – in der ganzen Bandbreite erotischer Euphorien, Zögerlichkeiten, Intimitäten, Verwicklungen, Qualen, Banalitäten, Verfehlungen, Reue, Buße – sieht Trawny seine erotische Autobiographie oder »Autotopographie« sich in der Form eines kabbalistischen Etz Chajim, des »Baums des Lebens«, konfigurieren, in dem die zehn Szefirot oder Emanationen der jüdisch-mystischen Kosmogonie verzeichnet sind. Jeder Frau, die er mit jener biblischen Erkenntnis oder Da‘at kannte – einem Wissen mit sowohl kognitiver als auch sexueller Dimension –, ordnet Trawny ein Pseudonym zu, das sich an einer Szefirah orientiert: Kochma (Weisheit), Bina (Verstehen), Chessa (Güte), Nezah (Triumph), Schechinima (Einwohnung) usw.

Hier liegt zweifellos das problematischste Problem dieses Textes. Geht Trawny, indem er so weit geht, nicht zu weit? Psychoanalytische und feministische Dekonstruktionen dieses ganzen Themas lassen sich leicht antizipieren. Dieses Subjekt, Peter Trawny, hat es in seinem Liebesleben nie »auf die Reihe gekriegt«. Dieses Subjekt erlebt Frauen als psychische Projektionen seines Peter-Pan-Syndroms. Frauen steigen niemals von erotisch-romantischen Objekten zu vollständigen Subjekten auf. Und so weiter. Eine psychoanalytische Lesart der Autobiographie, die die tragischen Tangos, Walzer und Ringelrein dieses Subjekts problematisiert, liegt nahe. Dieses Subjekt streckt bereitwillig den Hals hin und opfert sich in einem Ritual öffentlicher, publizierter Beichte – wie alle großen Biographien von Augustinus bis Prousts À la recherche du temps perdu. Was auch immer die Literatur durch solche hermeneutischen Menschenopferakte an Moloch gewinnen mag – ich schlage vor, diesen Text auf eine jüdischere Weise zu lesen.

Zuallererst heißt das, diesen Beitrag zur philosophischen Autobiographie auf eine platonischere Weise zu lesen. Die unerhörte Weisheit des Phaidros liegt in der These, dass die sexuelle Erotik eine niedere, fleischliche Form eines höheren, wahreren Eros jenseits des Fleisches sei. Freud hat mit Nachdruck zu zeigen versucht, dass die grundlegende Ableitung in entgegengesetzter Richtung verläuft: Die Wahrheit des Eros liegt im Fleisch, und die Kultur ist das Unbehagen, das aus dem illusorischen, selbsttäuschenden Versuch entsteht, den Eros aus dem Fleisch herauszureißen und in höhere seelische Sphären zu erheben. Dies ist freilich nicht der Ort für Gegenbeweise. Es muss genügen, die Möglichkeit zu erwägen, dass Freuds tragisches Menschenbild zumindest fraglich ist. Die jüdische Lehre hat sich jedenfalls stets auf die Seite der platonischen Weisheit geschlagen. Der Mensch ist kein Tier mit engelhaften Sublimierungen. Der Mensch ist ein Engel mit tierischen Gewichten.

Aber Aschenplätze ist mehr als ein platonischer Text. Indem Trawny die Geschichte seines erotischen Lebens im Rahmen des kabbalistischen Lebensbaumes gestaltet, legt er öffentlich, wenn schon kein jüdisches Bekenntnis, dann doch das Geheimnis und Wesen eines solchen ab. Mit dem Auge philosophischer Rück- und Innenschau wagt er es, in seiner komplizierten und oft schmerzhaften erotischen Geschichte ein tiefes unbewusstes Streben nach göttlichem Leben zu erkennen. Jede erotische Verstrickung erscheint als göttliche Emanation, eine Szefirah, und somit als Verbindung zum Göttlichen. Es gibt viel Qual in diesen erotischen Verwicklungen. So muss es auch sein. Denn jede einzelne Szefirah ist nur eine Manifestation des Göttlichen. In jeder hingebungsvollen Leidenschaft zu einer Szefirah liegt das Geheimnis eines Götzendienstes. Wie Maimonides erklärte, ist Götzendienst keine törichte Hingabe an Profanes, sondern eine Hingabe an einen echten, wahrhaft göttlichen Aspekt Gottes selbst – eine Hingabe, die im Innersten nach jener einen, vollen Form der Hingabe strebt, die sich über alle Aspekte erhebt und das ganze göttliche Du umarmt. Daraus folgt, dass die Biographie eines jeden von uns, der kein Zaddik (Gerechter) ist, unvermeidlich eine Geschichte des Ringens ist, sich aus einem solchen götzendienerischen Begehren zu lösen. Die große Mehrheit von uns würde diesen inneren Kampf freilich nie öffentlich bekennen. Solche Akte des Bekenntnisses wagen nur außergewöhnliche Individuen, die sich für jene seltene und schwierige Schnittstelle zwischen Wahrheit und Redlichkeit interessieren. Am seltensten erscheint ein solcher Mensch unter den Philosophen – jenen, deren hypertrophes Interesse an Wahrheit, ihr Anliegen für Redlichkeit atrophisch und, wenn möglich, chirurgisch entfernen lässt.

Aschenplätze ist ein jüdisches Werk tiefster Ordnung. Es genügt Trawny nicht, von Gott zu sprechen. Er spricht von HaSchem. Nicht der Gott der Philosophen also, sondern der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Und es genügt ihm nicht, von HaSchem zu sprechen – er findet es notwendig, den heiligen Namen zu segnen. »Alle Aschen sind verweht. Und in dem reinsten Begehren vergeht jeder Schmerz, baruch HaSchem.« Und auch hier wird der wilde Haufen der Skeptiker und Gebildeten unter ihren Verächtern der Religion ihre helle Freude haben. Spricht da ein Deutscher? - Ein Jude? Ein Judenfreund? Ein Möchtegern-Jude? Welche Art von »Beziehung« zu HaSchem bildet sich dieser judäo-germanische Mischling eigentlich ein?

»Deine Fluten rauschen daher, daß hier eine Tiefe und da eine Tiefe brausen.« (Ps 42,7)

In einer herzzerreißenden Passage über die Einsamkeit des Philosophen schreibt Trawny: »Fraglich noch, ob die Philosophie vereinsamt oder der Einsame philosophiert. Die Frage täuscht. Denn nur der erfährt die Philosophie als einen Ort der Einsamkeit, der sich schon von Anfang an distanziert hat.« Wenn die Philosophie im Staunen beginnt, wie Platon und Aristoteles lehrten, dann beginnt sie nicht minder in tiefer Einsamkeit. Und solange der Philosoph nie über die griechische Schriftlichkeit der ionischen Ursprünge der Philosophie hinausgeht, erlaubt sich diese Einsamkeit nie, das ewige Du anzusprechen – jenseits des absoluten Es, das Philosophen das All nennen. Der seltene Durchbruch ins Hebräische beginnt in dem Moment, in dem der Philosoph die Tiefe in sich sagen hört: »Doch wahrscheinlich wird jemand fehlen. Jemand fehlt immer. Du fehlst.«

Artikel online seit 09.06.25
 

Peter Trawny
Aschenplätze
Eine Theorie dieses Subjekts
Matthes & Seitz, Berlin
410 Seiten
28,00 €
978-3-7518-0414-1

Leseprobe & Infos


* Michael Chighel ist Philosoph und Dekan des Ashkenaziums, einer Graduiertenschule für Jüdische Studien in Budapest.

Aschkenas
in der deutsch-jüdischen Apokalypse
Aus dem Englischen übersetzt von Peter Trawny
​Klostermann Rote Reihe 160
296 Seiten, 29,80 €
ISBN 978-3-465-04649-3

 


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