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Zeuge seiner selbst

Mit seiner philosophischen Autobiografie »Aschenplätze« unternimmt
Peter Trawny den Versuch, sein Selbst beschreibend und reflektierend
zu erforschen.

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Es gibt kein' Stern, der so leuchtet
Wie das Flutlicht über'm Ascheplatz
Und was das alles mir bedeutet
Merk' ich immer erst, wenn's mich verlassen hat.
(AnnenMayKantereit, Kein Stern)

Asche allemal, erloschener Rest verzehrter Existenzen.
(Lucien Febvre, Das Gewissen des Historikers)

I
Der Erzähler in Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« lässt uns wissen, dass derjenige, der sein Leben zu schreiben und sich im Schreiben wiederzufinden vermag, ein glücklicher Mensch ist. Doch Glück ist fragil, und was ist schon ein glücklicher Mensch? Albert Camus erblickte bekanntlich auch in dem Felsblock schleppenden Sisyphos einen glücklichen Menschen.
Zudem ist das Schreiben über sich selbst auch Mühsal – verlangt es doch, sich in längst vergangene Empfindungen und Erlebnisse hineinzuversetzen, die permanent zu entgleiten drohen. Proust setzt deshalb auf die unwillkürliche Erinnerung, die mémoire involontaire, die das Kontinuum der Zeit wiederherstellen und den Erinnernden das Vergangene erneut durchleben lassen soll. »Der Versuch, aufzeichnend sich selbst und sein Leben einzuholen«, schreibt der Schweizer Philosoph Emil Angehrn zu diesem Unterfangen, »vollzieht sich im Leben und in der Zeit des Lebens, steht selbst im Wettlauf mit der Zeit.« Dieses Interesse am eigenen Sein drückt nicht zuletzt auch ein Besorgtsein um sich aus: Die Erforschung des Selbst ist der Versuch, das Subjekt, das man ist, besser zu verstehen.

II
Wer also bin ich? Peter Trawny hat sich dieser alten philosophischen Frage und dem Wagnis gestellt, sein Leben zu erzählen. Damit aber nicht genug. Er orchestriert diesen Selbst-Versuch mit philosophischen Reflexionen, die in eine Theorie dieses Subjekts münden, das da schreibend über sich Auskunft gibt. Orientieren sich die Erinnerungsstücke noch an Prousts Prinzip der Unwillkürlichkeit, so durchbrechen die begrifflichen Betrachtungen diesen Prozess immer wieder, holen das Erinnerte ein und strukturieren die Erzählung, indem sie ihr einen theoretischen Rahmen geben.

III
Alles beginnt mit der Ruhrpott-Tristesse der 1960er Jahre, nein, strenggenommen schon mit den Bunkererfahrungen der Vorfahren im Krieg. Die immer wiederkehrende Flucht in den Bunker habe eine tief in der Familie verankerte »Bunkerseele« geschaffen. Und diese Bunkerseele verwächst sich nach dem Krieg und wird das, was Pierre Bourdieu einst als Habitus bezeichnete: Lebensstil und ein Repertoire an Überzeugungen und Gewohnheiten. Die Eltern sind bemüht, ein Leben mit minimalem Risiko zu führen. Nie reisen sie in ein fremdes Land; sie lernen keine Fremdsprachen, besitzen keine Bibliothek. Der Vater verdient als Bergmann wenig Geld. Trawny wächst in einer Familie ohne Akademiker auf. Ein Interesse an den schönen Künsten und der Philosophie existiert nicht. Mit Jean-Paul Sartre könnte man vielleicht davon sprechen, dass Trawny so etwas wie der »Idiot der Familie« ist, denn er ist der Erste in seiner Familie mit einem Doktortitel und empfindet die Beschäftigung mit der Philosophie als Befreiung aus dem sozialen Milieu, dem er entstammt.

IV
Zeitlebens verspürt er ein »Verklebtsein mit seiner Herkunft«. Die Familie, so sehr er sich von ihr durch das, was er macht, auch distanziert, hat sich tief in seine Seele gebrannt. Sie hinterlässt bei ihm nicht selten das Gefühl der Leere, der Haltlosigkeit, der Unsicherheit: »Ich habe niemals die Gelassenheit gefunden, die mir im Leben Sicherheit gegeben hätte. Ich fürchte die Zukunft noch immer, und ich gehe davon aus, dass ich eines Tages absolut versagen werde … Das wird durch mein prekäres Leben zur Angst gesteigert. Ich gehe noch immer davon aus, dass ich in ein paar Monaten vollkommen pleite bin und unter der Brücke leben muss.«
Doch Trawny will kein Opfer sein. Hart geht er etwa mit der Selbstviktimisierung à la Annie Ernaux ins Gericht. Dabei kennt er die Geschichten von Demütigung und Erniedrigung selbst zuhauf – etwa die Prügel der Zigarre rauchenden ehemaligen Nazis, die als Lehrer ihre Erziehungsmethoden aus den 1930er Jahren ungestraft fortführen durften. Die Nachkriegsgeneration wird kurzgehalten, so auch Trawny, dem die Eltern einbläuen: »Was du siehst, wenn du deine Augen schließt, gehört dir.«

V
Er leidet zudem daran, dass er Einzelkind ist und spürt den erhöhten Druck, den Erwartungen der Eltern gerecht zu werden. Die fehlende soziale Interaktion mit gleichaltrigen Geschwistern, das belegen wissenschaftliche Studien, sorgen für ein leicht erhöhtes Risiko, an psychischen Problemen zu erkranken. Trawny schreibt: »Die Geschwisterlosigkeit ist eine unaufhebbare Einsamkeit, die eines Tages in Trostlosigkeit umschlagen wird.«

Darüber hinaus verspürt er regelmäßig das Gefühl, etwas Besonderes getan oder gedacht zu haben, »ohne dafür gerecht beurteilt worden zu sein.« Er fühlt sich unzulänglich, glaubt, so jedenfalls kann man seine Ausführungen interpretieren, es nicht gut genug gemacht zu haben.

VI
Trawny lebt ein Leben, das die Eltern nicht verstehen, es niemals werden verstehen können. Und dieses Unverständnis wiederholt sich tragischerweise in dem Philosophen Trawny, dessen Denken und Schreiben die Institution der Universität nicht recht und angemessen verstehen will. Er fasst nie wirklich Fuß in den Universitäten, eine ordentliche Professur bleibt ihm verwehrt, auch wenn er Zwischenstationen und Aufenthalte in Kyoto, Shanghai und Stockholm, in Brasilien und Russland sowie schließlich in Wuppertal vorweisen kann.
Aufmerksamkeit erregt jedoch seine Arbeit als Mitherausgeber der Gesamtausgabe der Werke Martin Heideggers. Trawny ediert die so genannten »Schwarzen Hefte«, jene Denktagebücher, die Heidegger seit den 1930er Jahren bis zu seinem Tod verfasst hatte und deren Inhalte aufgrund antisemitischer Aussagen eine öffentliche Kontroverse nach sich zogen.

VII
Trawnys Erinnerungsarbeit betrifft jedoch nicht nur familiäre Strukturen und die Schauplätze philosophischer Auseinandersetzungen. Im Fokus stehen nicht zuletzt Frauen, Sex, Alkohol und der eigene Körper inklusive einem Abschnitt zu seinem Penis, zur Erektion und Ejakulation.
Beziehungen, die er eingeht, zerbrechen regelmäßig. Er fühlt sich zeitlebens heimatlos: »Ich selbst habe den Ort niemals als Verwurzelung erfahren.« Da ist immer nur der Bunker des Selbst, der aus den Geschichten der eigenen Familie in ihm wächst: »Es gibt in mir eine Zerstörung, die ich nicht heilen oder auch nur beherrschen kann.«

VIII
Der Titel des Buches bezieht sich auf die kieselrote, granulare Schlacke, die die alten Fußballplätze bedeckt. Die Tragschicht ist meist ein Schotter-Splitt-Sand-Gemisch. Im Sommer, bei länger anhaltender Trockenheit, wird der Platz dann zu einer Staubwüste. Man glaubt, sich inmitten der Dreharbeiten zu einem der Dune-Filme zu befinden. Im Herbst und Winter hingegen ist der Platz oft matschig. Das Spiel gleicht dann eher der Schlacht von Azincourt in Kenneth Branaghs Shakespeare-Verfilmung »Henry V.« (1989). Zu welcher Jahreszeit auch immer ein Spieler über den Belag schlittert: Blutige Knie sind garantiert. Manche Wunden trägt man ein Leben lang mit sich.
Auch Trawny zeigt seine Wunden. Aber er findet Trost: In der jüdischen Kabbala, in dem Sturm-und-Drang-Dichter Karl Philipp Moritz´ und dessen psychologischem Roman »Anton Reiser«, auch bei Hölderlin, Nietzsche, Heidegger und Celan sucht er Zuflucht. Am Ende seiner philosophischen Autobiografie fragt er sich: »Bin ich ein Zeuge meiner selbst?

IX
Peter Trawny hat ein gnadenlos offenes, mutiges Buch geschrieben – einen philosophischen Text, um sich seiner selbst gewahr zu werden. Dieses Unterfangen kostet Kraft, Entschlossenheit und Überwindung. Denn der Schreibende liefert sich mitsamt seinen Intimitäten den Lesenden aus. Sein Leben erzählen, sagt Emil Angehrn, sei jedoch keine äußere Zutat zum Leben, sondern »inneres Moment einer Lebensform.« Menschen leben so, »dass sie sich ihr Leben erzählen.« Das bin ich, so bin ich. Doch erst dann, wenn ich über mein Leben schreibe, mich erinnere, wer ich war und wie ich zu dem geworden bin, der ich jetzt bin, werde ich zum Zeugen meiner selbst. Peter Trawny ist dies eindrucksvoll geglückt. Deshalb müssen wir uns, bei aller Melancholie, die das Buch durchzieht, den Zeugen Peter Trawny als glücklichen Menschen vorstellen.

Artikel online seit 09.06.25
 

Peter Trawny
Aschenplätze
Eine Theorie dieses Subjekts
Matthes & Seitz, Berlin
410 Seiten
28,00 €
978-3-7518-0414-1

Leseprobe & Infos


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