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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 













Glanz und Elend der künstlichen Paradiese

Nur selten hat ein Schriftsteller mit solcher Nüchternheit, leidenschaftslos
und souverän über den Rausch geschrieben wie Ernst Jünger zwischen
1968 und 1970 in seinem Buch Annäherungen.

Von Jürgen Nielsen-Sikora

»Der Rausch« heißt es dort, »bleibt eine der Stationen auf dem Weg zum Nullpunkt, eine flüchtige Herberge, ein buntes Zelt, das für eine einzige Nacht aufgeschlagen wird. (…) Der Nullpunkt ist auch Gefrierpunkt, und obwohl die Atome ihr Gewicht behalten, ändert sich ihre Anordnung.«

Der Rausch ist für Jünger vor allem ein Mittel, seinem Wunsch nach gesteigertem Empfindungsvermögen und Grenzerfahrungen beizukommen. Die Palette der Drogen, die Jünger eine flüchtige Herberge im Laufe seines Lebens boten, ist breit gefächert: Äther und Kokain, Opium, Haschisch, Bier und Wein, LSD, Meskalin sind einige davon, deren Konsum in den Annäherungen reflektiert wird. Die Neuauflage seines erstmals vor knapp fünfzig Jahren erschienenen Buches ist für jeden Literatur-Junkie ein Glücksfall, weil er sich an Jüngers abgeklärtem, kalkuliert sachlichem, teils elitärem Stil berauschen darf.

So wirken Jüngers Erinnerungen an den Drogenkonsum aus den 1920er, 1950er und 1960er Jahren zwar manches Mal wie entomologische Präparate, die er im grellen Schein der Schreibtischlampe vor dem Leser ausbreitet, doch sind es einzigartige Tiere, die er dort zum Vorschein bringt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Jüngers Bekanntschaft mit Drogen Geschichte hat. Vom Opium wenig angetan, hatte er in den 1920er Jahren ein Haschisch-Erlebnis, das ihn in Todesangst versetzte und dazu führte, dass er fast drei Jahrzehnte den Drogen Valet sagte, ehe er in den 1950er Jahren mit dem Verleger Ernst Klett und dem Arzt Walter Friedeking Meskalin zu sich nahm. Zur gleichen Zeit stand er in regem Kontakt mit dem Schweizer Chemiker Albert Hofmann, dem Entdecker des LSD. Beide probierten die Droge lange bevor sie in »Ruf und Verruf« kam. Jüngers »Besuch auf Godenholm« aus dem Jahre 1952 handelt von diesen LSD-Experimenten. Tod und Rausch allerdings waren zeitlebens zwei der wichtigsten Themen Jüngers. Bereits in den Stahlgewittern aus dem Jahre 1920 packte ihn selbst der Krieg »wie ein Rausch.«

Das Buch von 1970 war insofern eine konsequente Fortsetzung seiner Rausch-Studien. Dieses Mal kommen die Drogen unmittelbar zur Sprache. Ursprünglich war der Essay nur als thematischer Abstecher gedacht. In gekürzter Fassung lag er bereits 1968 vor und war dem rumänischen Autor Mircea Eliade gewidmet. Die gesamte Abhandlung erstreckte sich dann jedoch über nahezu drei Jahre. Jüngers Buch ist aber nicht nur Erfahrungsbericht, sondern poetisches Geschichtsbuch zugleich. Insbesondere zu Beginn seiner anekdotischen Erzählungen nimmt er ausführlich Bezug zu de Quincey, Baudelaire, Poe und rekurriert auf das Zeitalter des Rausches, das 19. Jahrhundert. Auch sucht er die Nähe der griechischen und römischen Götter immer wieder auf. Dionysos ist allgegenwärtig.
Schließlich ist der außergewöhnliche Raskolnikow eine der zentralen Figuren, dessen Schicksal in Jüngers Überlegungen einfließt. Im Rausch verwirft Jünger ebenso wie Raskolnikow die unvollkommene Welt. Der Rausch ist für beide eine Annäherung an eine andere, vielleicht bessere Welt. Was für Raskolnikow die Prostituierte Sonja, das ist für Jünger die Literatur: Rückkehr in die reale Welt. Für beide aber gilt auch dort, was in den Annäherungen als »höhere Existenz« gewertet wird: »Ein Werk, auch ein Mensch kann zu stark werden; wir müssen die Augen schließen oder uns abwenden. (…) Existenz in höherem Sinne bedeutet stets wiederholte Annäherung.«
Ergänzend hierzu heißt es an anderer Stelle, die Eigenart des Rausches sei »Entfernung aus der meßbaren und zählbaren Welt, und damit die Annäherung« – an den Tod: »Sterben ist schwierig, doch es gelingt. Hier wurde noch jeder zum Genie.«
Rausch und Tod stehen mithin in engem Zusammenhang. Der Rausch umkreist den Tod, bleibt aber lebendiges Abenteuer.
Rausch und Tod: Diese ungesunde Beziehung kannte bereits der Erste Weltkrieg zu Genüge. Das Kokain war an der Front groß in Mode. Es diente den Soldaten als Beruhigung, Ermunterung, Ablenkung. Die Drogen deutet Jünger dann auch als Surrogat. Doch was, so fragt er im selben Atemzug, ist auf Erden kein Surrogat?

Wenn aber alles zum Surrogat wird auf dieser Welt, so bleibt die Frage offen: Surrogat für was? Der Rausch ist insofern intensivierte Suche nach dem Eigentlichen: »Wir hatten die Schuhe ausgezogen; es war ein Ausflug, zu dem man weder Stab noch Stiefel, weder Rad noch Flügel braucht. Der Hausherr (Hofmann) brannte ein Räucherstäbchen an. Der Rauch stieg auf, ein Seidenfaden, dessen Grau sich in ein feinstes Blau verwandelte. Zunächst erhob er sich senkrecht in der fast unbewegten Luft. Doch dann begann er zu zittern, sich zu drehen und zu kräuseln zum schwerelosen Figurenspiel. Er wollte zeigen, was der Tanz bedeutet und was er bieten kann.«

An dieser Stelle wohnt dem beginnenden Rausch noch ein gewisser Glanz inne. Doch das Elend des Drogenkonsums wird sogleich mitgeliefert: »Es wurde kälter. Nicht nur die Nüstern wurden gefühllos, der Mund, der Gaumen auch. Zuweilen biss ich auf die Lippen wie ein Pferd, das an der Kandare kaut. Ich ging zum Spiegel; die Pupillen waren groß wie Nachtfalteraugen; dunkel und weit geöffnet vom Alkaloid. Das Gesicht war starr, gefroren wie auf einer Kurierfahrt jenseits des Polarkreises. (…) Die Nachtschattengesichter glichen Gespenstermasken mit dunklem, in den Stoff geschnittenem Visier. (…) Sonst saß ich im Sessel, die Hände auf der Lehne, während Stunde um Stunde verrann. (…) Visionen von widerlichem Ungeziefer, das sich auf und unter der Haut einnistet. Es ist nicht zu vertreiben, selbst wenn der Betroffene es mit Messer und Schere herauszuschneiden sucht. Wäre es wirklich, würde ihm leichter beizukommen sein.«

Jünger hat nie das Schicksal eines Hans Fallada, eines William Burroughs oder Jörg Fausers teilen müssen. Er stand selten in Gefahr, wirklich drogensüchtig zu werden. Seine Drogenexzesse waren ihm vielmehr im Voraus verbrauchte, geliehene Zeit. Sucht hingegen erinnere an Suchen und sei, so Jünger, etymologisch verwandt mit »krank sein«. Weder suchte Jünger, noch war er drogenkrank. Er fand auch ohne Suche – und der Rausch half ihm ein wenig dabei – eine eigene Sprache für ganz persönliche Erlebnisse. So war ihm das »wahre Glück« auch »grundlos; es kommt wie eine Welle, die uns überrascht. Wir kennen die Ursache nicht. Vielleicht stürzte in der Ferne ein Meteor ins Meer. Vielleicht standen auch nur die Gestirne günstig; es ist die Art Glück, die immer seltener wird.«

Mit diesem Hinweis gibt er am Ende des Buches einen Ausblick auf die kommende Gesellschaft, in dem sich deutlich zeigt, dass Drogen und Rausch einerseits und Kultur andererseits im Interdependenzverhältnis stehen: »Die Gesellschaft wird in zunehmendem Maße nicht nur vater-, sondern elternlos. Der Staat, der 'tausendschuppige Drache', verwandelt sich in einen pädagogischen Giganten und stampft Schulen aus dem Boden, die von Fabriken immer weniger zu unterscheiden sind. Die Ausbeutung verlagert sich und wird intensiver; wie früher die Muskelkraft, so wird heute das Großhirn monopolisiert.«
Dass Jünger hierin einen Hinweis auf eine neue Dimension des Drogenkonsums und eine andere Qualität des Rausches heraufscheinen sah, dürfte unstrittig sein. Und wer dieser Tage die Diskussionen über Ecstasy und Spice verfolgt, wird in den Worten einen tieferen Sinn erblicken können.

Wenig Sinn allerdings hat das von Volker Weidermann lieblos verfasste Vorwort. Wer sich an dem Buch berauschen will, an einem schönen Buch, optisch und inhaltlich, sollte Weidermanns Worte außer Acht lassen. Dann gibt uns das Buch einen erhellenden Einblick in Glanz und Elend der künstlichen Paradiese von Ernst Jünger. In der Tat muss man sich an Jüngers Annäherungen auch berauschen wollen. Man darf den Text nicht einfach nur lesen, denn: Leser ist »kein günstiges Prädikat in den Personalbogen.«
 

Ernst Jünger  
Annäherungen
Klett-Cotta
Leineneinband, Lesebändchen
456 Seiten
24.90 €
ISBN 978-3-608-93841-8


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