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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 














Ernst Jünger
(1895-1998)

Foto:
Werner Schwarze

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Blätterwald mit röhrendem Hirsch

Was gibt es über Ernst Jünger noch zu sagen? Welches Bild lässt sich mit seinem Namen auf die Leinwand der Gegenwart zeichnen?
Ernst Jünger in der Kritik der deutschen Presse seit 1946. Recherchiert und kommentiert

von Jürgen Nielsen-Sikora



Welches Motiv auch immer man wählt, es ist nicht leicht, das passende Format zu finden. Sympathisanten wie Widersachern sind schon vor geraumer Zeit die Farben ausgegangen, um das Grau in Grau um seine Person ein wenig aufzuhellen.

Mit der Veröffentlichung der Kriegstagebücher 1914-1918 wird nun an Jüngers Bild weitergemalt. Die Süddeutsche Zeitung widmete ihm am 22. September 2010 eine ganze Seite ihres Feuilletons und sah in ihm »einen promovierten Karl May«, dessen »schnoddriger Ton« schon mal in »Triumphgeheul« umschlage.

Karl May? Ich erinnere mich, dass keine zwei Jahre zuvor Eckhart Nickel in Jünger noch den »deutschen Bruce Chatwin« entdeckte. Dabei hatte Nickel wohl den Inselfrühling, die Atlantische Fahrt oder den Sarazenenturm im Sinn. Für die Kriegsreportagen gilt der Vergleich wohl kaum, schon wegen des Zwangs, dem Jünger bei diesen »Abenteuerreisen« ausgesetzt war. Schließlich bezeichnete ihn Alexander Pschera, Herausgeber eines Jünger-Bandes bei Matthes und Seitz, Das Abenteuerliche Herz zitierend, als einen »Komet hinter den Dächern«. Doch Jüngers Orbit schrumpft weiter zusammen und besitzt allenfalls noch den Umfang eines Saumpfads der Schwäbischen Alb. Auch der Keilrahmen, auf den all diese Portraits gezogen sind, hat inzwischen bloß noch Passbildgröße.

Der Grund ist trivial: Die Polarisierungen in der Causa Jünger gehören inzwischen der Geschichte an; die großen Pinselstriche der Erdbeeren-in-Burgunder-Kritik verblassen allmählich, der Firnis hat Risse; die Bilder dringen als Palimpsest aus der fremd gewordenen Vergangenheit zu uns durch. Und wer hat heute schon »Sehnsucht nach einer verschollenen Zeit«, wie sie den ehemaligen Wandervogel Jünger zeitlebens ergriff?

Ihm heute das Wort reden und Farbe zu bekennen hieße, einer toten, schwere Aktenschränke füllenden Debatte unnötig neuen Glanz verleihen zu wollen. Gegen ihn anzuschreiben wäre mindestens so sinnlos wie zu Lebzeiten, als sich Kritiker am Stoizismus des »Käferfreunds« die Zähne ausbissen. Ohnehin sagt jeder Artikel zu Jünger weit mehr über das Imponiergehabe der Kommentatoren aus als über Jünger selbst.

Wir müssen wohl die Waffen unserer Staffeleien niederlegen. Gegenwärtig kann einfach kein Bild von ihm der Wahrheit entsprechen. Der Duktus einer im 20. Jahrhundert stets ohne echtes Ergebnis geführten Kontroverse mag dies unterstreichen.

Bereits wenige Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erblickte die Tägliche Rundschau, eine ab Mai 1945 von der Roten Armee in der SBZ herausgegebene Zeitung, in Jünger »die Inkarnation des Kriegerischen schlechthin.« Von nichts anderem als vom Kriege wisse Jünger zu berichten; von Krieg, Schmerz und Entsetzen.

Die Einschätzung der Rundschau trifft sich mit einer Kritik von Walter Benjamin aus dem Jahre 1930, in der er nicht gelten lassen will, dass einer »vom Kriege spricht und nichts kennt als den Krieg. Wir werden«, schreibt Benjamin, »radikal auf unsere Weise fragen: Wo kommt ihr her? Und was wißt ihr vom Frieden?«

Die Rundschau sprach nun gut 15 Jahre später die Empfehlung aus, den Kriegsschriftsteller fortan zu ächten. Nur kurze Zeit später widmete sie ihm jedoch einen weiteren ausführlichen Artikel, dieses Mal Jean Schlumbergers Rede vom »geistigen Schrittmacher des Dritten Reiches« aufgreifend. Nun hieß es, Jüngers Friedensschrift sei eine »wüste Hetze« gegen die Sowjetunion, die, und das überrascht angesichts des kommunistischen Einflusses bei der Rundschau kaum, als Hauptleidtragende des Krieges betrachtet wurde. Was Jünger schließlich in seinem Wort an die Jugend Europas und die Jugend der Welt »Friede« nenne, sei nichts weiter als pure »Kriegsverherrlichung«. Das glich bereits einer Kampfansage.

Worum ging es? — Jüngers so genannte Friedensschrift aus dem Jahre 1943 teilt sich in zwei Abschnitte. Der erste, »Die Saat« genannt und mit einem Zitat des niederländischen Rationalisten Baruch de Spinoza beginnend, erklärt den Zweiten Weltkrieg zum ersten allgemeinen »Werk der Menschheit«. Gleich am Anfang heißt es ein wenig kryptisch: »Die hohen Meister, die ihn [den Krieg] aus dem Chaos stiften, müssen nicht nur die alten Bauten prüfen und verbessern, sondern auch neue schaffen, die sie überhöhend vereinigen.« Der Krieg, so Jünger weiter, müsse »für alle Frucht bringen.« Er lässt den Leser über das, was diese Frucht ist, unaufgeklärt. Was auch immer sie sein mag, sie könne jedenfalls nur dort gedeihen, wo der Mensch für andere lebe, stürbe und Opfer brächte.

Der Zweite Weltkrieg schien dazu prädestiniert, denn er galt ihm als »Schauspiel«, »Männerkampfe« und »Überfluss an wunderbaren Taten.« Was uns heute der Konsum, das war Jünger der Kampf: inneres Erlebnis. Jünger dazu: In diesem »Bruderkriege« oder auch »zweiten Gang des großen Kampfes« werde »ein neuer Sinn der Erde ausgetragen.«

Das sind ohne jeden Zweifel eine schwer verdauliche Menge euphemistischer Bilder für das Grauen des Krieges. Sie setzen sich im anschließenden zweiten Teil der rund 50 Druckseiten umfassenden Schrift fort. In dem »Die Frucht« genannten Fortsetzungskapitel mahnt er an, der Krieg müsse von Allen gewonnen werden: Neue Ordnung, neues Leben solle dieser »Einigungskrieg« hervorbringen.

Purer Zynismus angesichts der Millionen Toten? Zumindest für die Tägliche Rundschau war der Essay das Werk eines ausgemachten Militaristen. Sie brandmarkte die »zum Himmel stinkende innere Verfaulung eines ins Bestialische entarteten Intellekts«. Deutliche Worte, die offensichtlich weniger auf Literaturkritik als vielmehr auf seine politische Gesinnung abzielten. Ein »finsterer Dilettant«, ein »Fäulnisheroe« und »geistiger Wegbereiter der schändlichsten Epoche« sei er, so die Zeitung weiter.

Solche Tiraden reihten sich nahtlos ein in den schon früher geäußerten Verdacht, Jünger sei so etwas wie der »Rousseau der NSDAP« gewesen. Die Kritik an ihm betrat im Grunde nie wirklich das Feld der Literatur und blieb zumindest im Feuilleton in der Regel schlechte Moralphilosophie und Politische Theorie für Dummies.

Jünger wurde diese Last, die er schon in jungen Jahren zu tragen hatte, zeitlebens nicht mehr los — auch dort nicht, wo ihm die Kritik wohlgesonnen war. So zum Beispiel an Weihnachten 1947 in der Zeit, die wesentlich milder in ihrem Urteil mit ihm umging. Sie sah in Jünger lediglich einen »Vabanque-Spieler«, der als Philosoph ohne Antwort auf die wesentlichen Grundfragen der Gegenwart bliebe.

Doch was waren letztlich die »wesentlichen Grundfragen« der Zeit und wer war dieser Mann, von dem alle Antworten erwarteten und der sich partout weigerte, welche zu geben, wirklich? — Dichter hießen ihn die Einen, einen politisch Verirrten die Anderen, Philosoph war er den Dritten. War er vielleicht nichts von alledem?

Auch die 1948 von Eugen Gerstenmaier und anderen ins Leben gerufene Zeitung Christ und Welt, deren Chefredakteur ab 1954 der ehemalige Herausgeber der NS-Propagandazeitschrift Signal, Giselher Wirsing, wurde, widmete sich Ende 1949 dem Weg und der Wirkung Jüngers ohne klar erkennbare Aussage. Vielmehr diagnostizierte die Zeitung eine Schwierigkeit, die »Gestalt Jüngers biografisch deutend zu erfassen.«

Die Diskussion der Folgejahre entzündete sich nicht zuletzt an ebendieser Schwierigkeit, Jünger in den Kontext der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichten einzuordnen.

Über das Für und Wider Ernst Jüngers dachte die SPD-nahe Hannoversche Presse im Februar 1948 dennoch nach: »Jüngers Welt war im Grunde so fürchterlich« hieß es dort, »daß sich helle Begeisterung von vornherein ausschließt, doch was ihn auszeichnet, ist der Mut, mit dem er sich dem Leben immer wieder gestellt hat.«

Auch die Neue Zeitung, eine von der Information Control Division, der Propaganda- und Zensurabteilung der amerikanischen Besatzungszone, ab Oktober 1945 herausgegebene Zeitung, würdigte Ende der 1940er Jahre insbesondere das Pariser Tagebuch Strahlungen zu Unrecht als »neue Literaturgattung«, tadelte sogleich aber die »Selbstinszenierung« Jüngers, der zudem als »umstritten und problematisch« charakterisiert wird.

Die Aufzeichnungen der Strahlungen (Jünger hat im »Röntgen-Jahr« 1895 das Licht der Welt erblickt) setzen mit dem Februar 1941 ein. Jünger hielt sich in dieser Zeit in Frankreichs besetzter Hauptstadt auf. Die Tagebucheinträge beinhalten zudem seine Reise an die kaukasische Front und die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Kirchhorst. Der Schrecken des Krieges wie die Schönheit der Natur sind Themen des Buches, das gewiss nicht das Produkt eines »Flaneurs«, eines philosophischen Spaziergängers, ist, wie einige Kommentatoren glauben. Dazu ist Jünger viel zu stark in das Kriegsgeschehen involviert.

Einige Male taucht der Titel im Text auf, so unter anderem in einem Eintrag vom 29. April 1941: »Der kleine Raum, in dem wir litten, war so mit Strahlungen geladen, dass ich sein Inneres erfasste wie einen Text, den man im Buche liest.« Man wird lange über den Sinn dieses Satzes grübeln können, über das, was das Innere eines Raumes ist, was die Strahlungen letztlich bedeuten und warum Jünger sie zu erfassen glaubte wie einen Buchtext. Solche Sätze sind exemplarisch für ihn. Sie geben Rätsel auf, die keine Lösung haben. Auch der spätere Buchtitel Subtile Jagden wird bereits in den Strahlungen aufgegriffen. Doch auch hier herrscht Unklarheit sowohl über den Vergleich als auch über die Bedeutung der Szene, die sich der Leser aus der durch den Vater geweckten Insektenleidenschaft des Autors herleiten muss. So schreibt er im Juni 1941: »Trotz der Ermüdung ging ich abends am Ufer der Serre noch ein wenig auf Subtile Jagd. Diese Belustigungen gleichen einem Bade, das den Staub des Dienstes wegschwemmt; es steckt Freiheit darin.«

Es war die Freiheit eines Käferjägers. Jünger beschäftigte sich während seiner Pariser Zeit jedoch nicht allein mit der Jagd, sondern ebenso intensiv mit anderen Freizeitvergnügen — zum Beispiel mit der französischen Literatur; er las Baudelaire, Mallarmé, Gide, vor allem aber Bloy, und andere. Am 26. November 1941 spazierte er durch die Rue de Tournon, jene Straße, die wenige Jahre zuvor Joseph Roths Lebensmittelpunkt gewesen war, wie durch Nichts hindurch und kehrte in ein Antiquariat ein, um alte entomologische Bücher zu betrachten! Nicht das Andenken an das Schicksal des Kollegen, sondern wiederum nur ein paar tote Insekten kommen zur Sprache. Kurze Zeit später notierte er dann: »Gespräche zwischen Männern sollten göttergleich, wie unter Unverletzlichen, geführt werden.« Hätte Roth zu diesem Zeitpunkt noch gelebt, und wäre das Hotel, in dem er in der Rue de Tournon wohnte, nicht längst abgerissen worden…

Die Strahlungen waren Jüngers »geistiger Beitrag« zum Zweiten Weltkrieg. Das sah er selbst so. Und vielleicht lassen sich an dem Tagebuch wirklich sein »geistiger« Zustand und der seiner Zeit insgesamt ablesen. Es ist zwar nicht der Weltgeist, eher der Kompanieführer zu Pferde, aber das störte Jünger kaum. Zumindest der seit 1946 in Freiburg erscheinenden Badischen Zeitung galt er bald nach Erscheinen des Pariser Tagebuchs als »sichtbarer Autor«. Er schone sich nicht, sein Zeitalter zu erfassen und zu gestalten.

Gab er also doch Antworten auf die Grundfragen seiner Epoche, und was gestaltete er tatsächlich? —  Die FAZ erhob ihn 1955 bereits zur »Autorität« — ohne jedoch klären zu können, worin diese bestand, und forderte gar ein »Volk von Waldgängern.« Es bleibt angesichts dieser Vorstellung eine müßige und einigermaßen sinnlose, wenn auch ebenso nahe liegende Frage, ob der heroische Realist Jünger als Oberförster eines Waldgängervolkes überhaupt taugte. Cai Werntgen (2008) sah ohnehin in der Waldgänger-Pose lediglich eine Mutation des Stoßtruppführers und einen »Rückzug innerhalb derselben Frontstellung, eine Verwandlung ohne Kehre«.

Im Waldgang erklärt Jünger: »Waldgänger aber nennen wir jenen, der, durch den großen Prozeß vereinzelt und heimatlos geworden, sich endlich der Vernichtung ausgeliefert sieht. Das könnte das Schicksal vieler, ja aller sein — es muß also noch eine Bestimmung hinzukommen. Diese liegt darin, daß der Waldgänger Widerstand zu leisten entschlossen ist und den, vielleicht aussichtslosen, Kampf zu führen gedenkt.«

Wie auch immer dieser Kampf geführt werden mag — Anfang der 1960er Jahre war es wiederum die Zeit, die in der »Autorität«, die die FAZ in ihm sah, nur einen »verkrampften Aristokratismus mittelständischer Herkunft« erblickte. Jünger sei »geschmackslos bis zum Exzeß oder zum Banalen«, ein mit Plüsch ausgestopfter Stahlmensch.

Was und wer auch immer er war — noch Wegweiser oder schon Landkarte, wie er selbst glaubte —, einst traf es tatsächlich zu, dass es ihn zu verstehen galt, wollte man »die Geschichte Deutschlands« verstehen.

Erich Fried sah das so. In einer Ausgabe der Welt aus dem Jahre 1965 klagte er Jünger nach einer knappen Laudatio an, vorwissenschaftlich zu denken. Gerade so, als ob ein Schriftsteller sich im Geiste mit den Analysemitteln und Methoden des Wissenschaftlers auseinanderzusetzen hätte; gerade so, als ob andere Schriftsteller dies täten, nur Jünger nicht. Doch beinahe schien es so, als habe Jünger sich Frieds Veto tatsächlich zu Herzen genommen. In den Folgejahren schrieb er ein Buch, das nicht wirklich mit dem übrigen Werk vergleichbar ist. Und wenn überhaupt, dann bedient er sich in diesem wundervollen Band über Drogen und Rausch wissenschaftlichem Denken.

Die Annäherungen erschienen 1970 und stehen für sich, weil sie frei von der Metaphysik der vielen, anderen Jünger-Texte sind. In ihnen ist der Rausch vor allem ein Mittel, seinem Wunsch nach gesteigertem Empfindungsvermögen und Grenzerfahrungen beizukommen. Die Palette der Drogen, die Jünger eine flüchtige Herberge im Laufe seines Lebens boten, ist breit gefächert: Äther und Kokain, Opium, Haschisch, Bier und Wein, LSD, Meskalin sind einige davon, deren Konsum in einem Buch reflektiert wird, das für jeden Literatur-Junkie ein Glücksfall ist, weil er sich an Jüngers abgeklärtem, kalkuliert sachlichem, teils elitärem Stil wirklich einmal berauschen darf.

So wirken Jüngers Erinnerungen an den Drogenkonsum aus den 1920er, 1950er und 1960er Jahren zwar manches Mal immer noch wie entomologische Präparate, die er im grellen Schein der Schreibtischlampe vor dem Leser ausbreitet, doch sind es einzigartige Tiere, die er dort zum Vorschein bringt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Jüngers Bekanntschaft mit Drogen Geschichte hat. Vom Opium wenig angetan, hatte er in den 1920er Jahren ein Haschisch-Erlebnis, das ihn in Todesangst versetzte und dazu führte, dass er fast drei Jahrzehnte den Drogen Valet sagte, ehe er in den 1950er Jahren mit dem Verleger Ernst Klett und dem Arzt Walter Friedeking Meskalin zu sich nahm. Zur gleichen Zeit stand er in regem Kontakt mit dem Schweizer Chemiker Albert Hofmann, dem Entdecker des LSD. Beide probierten die Droge lange bevor sie in »Ruf und Verruf« kam. Jüngers Besuch auf Godenholm aus dem Jahre 1952 handelt von diesen LSD-Experimenten. Tod und Rausch allerdings waren zeitlebens zwei der wichtigsten Themen Jüngers. Bereits in den Stahlgewittern aus dem Jahre 1920 packte ihn selbst der Krieg »wie ein Rausch.«

Das Buch von 1970 war insofern eine konsequente Fortsetzung seiner Rausch-Studien. Dieses Mal kommen die Drogen unmittelbar zur Sprache. Ursprünglich war der Essay nur als thematischer Abstecher gedacht. In gekürzter Fassung lag er bereits 1968 vor und war dem rumänischen Autor Mircea Eliade gewidmet, mit dem er zwischen 1959 und 1971 die Zeitschrift Antaios herausgab. Die Phase des Schreibens über Rausch und Drogen erstreckte sich dann jedoch über nahezu drei Jahre.

Jüngers Buch ist aber nicht nur Erfahrungsbericht, sondern poetisches Geschichtsbuch zugleich. Insbesondere zu Beginn seiner anekdotischen Erzählungen nimmt er ausführlich Bezug zu de Quincey, Baudelaire, Poe und rekurriert auf das Zeitalter des Rausches schlechthin, das 19. Jahrhundert. Auch sucht er die Nähe der griechischen und römischen Götter immer wieder auf. Dionysos ist allgegenwärtig.

Schließlich ist der außergewöhnliche Raskolnikow eine der zentralen Figuren, dessen Schicksal in Jüngers Überlegungen einfließt. Im Rausch verwirft Jünger ebenso wie Raskolnikow die unvollkommene Welt. Der Rausch ist für beide eine Annäherung an eine andere, vielleicht bessere Welt. Was für Raskolnikow die Prostituierte Sonja, das ist für Jünger die Literatur: Rückkehr in die reale Welt. Für beide aber gilt auch dort, was in den Annäherungen als »höhere Existenz« gewertet wird: »Ein Werk, auch ein Mensch kann zu stark werden; wir müssen die Augen schließen oder uns abwenden. (…) Existenz in höherem Sinne bedeutet stets wiederholte Annäherung.«
Ergänzend hierzu heißt es an anderer Stelle, die Eigenart des Rausches sei »Entfernung aus der meßbaren und zählbaren Welt, und damit die Annäherung« — an den Tod: »Sterben ist schwierig, doch es gelingt. Hier wurde noch jeder zum Genie.«

Rausch und Tod stehen mithin in engem Zusammenhang. Der Rausch umkreist den Tod, bleibt aber lebendiges Abenteuer.

Rausch und Tod: Diese ungesunde Beziehung kannte bereits der Erste Weltkrieg zu Genüge. Das Kokain war an der Front groß in Mode. Es diente den Soldaten als Beruhigung, Ermunterung, Ablenkung. Die Drogen deutet Jünger dann auch als Surrogat. Doch was, so fragt er zugleich, ist auf Erden kein Surrogat?

Wenn alles zum Surrogat wird auf dieser Welt, so stellt sich zudem die Frage: Surrogat für was? — Der Rausch ist intensivierte Suche nach dem Eigentlichen: »Wir hatten die Schuhe ausgezogen; es war ein Ausflug, zu dem man weder Stab noch Stiefel, weder Rad noch Flügel braucht. Der Hausherr (Hofmann) brannte ein Räucherstäbchen an. Der Rauch stieg auf, ein Seidenfaden, dessen Grau sich in ein feinstes Blau verwandelte. Zunächst erhob er sich senkrecht in der fast unbewegten Luft. Doch dann begann er zu zittern, sich zu drehen und zu kräuseln zum schwerelosen Figurenspiel. Er wollte zeigen, was der Tanz bedeutet und was er bieten kann.«

An diesem Punkt wohnt dem beginnenden Rausch noch ein gewisser Glanz inne. Doch das Elend des Drogenkonsums wird sogleich mitgeliefert: »Es wurde kälter. Nicht nur die Nüstern wurden gefühllos, der Mund, der Gaumen auch. Zuweilen biss ich auf die Lippen wie ein Pferd, das an der Kandare kaut. Ich ging zum Spiegel; die Pupillen waren groß wie Nachtfalteraugen; dunkel und weit geöffnet vom Alkaloid. Das Gesicht war starr, gefroren wie auf einer Kurierfahrt jenseits des Polarkreises. (…) Die Nachtschattengesichter glichen Gespenstermasken mit dunklem, in den Stoff geschnittenem Visier. (…) Sonst saß ich im Sessel, die Hände auf der Lehne, während Stunde um Stunde verrann. (…) Visionen von widerlichem Ungeziefer, das sich auf und unter der Haut einnistet. Es ist nicht zu vertreiben, selbst wenn der Betroffene es mit Messer und Schere herauszuschneiden sucht. Wäre es wirklich, würde ihm leichter beizukommen sein.«

Jünger hat nie das Schicksal zahlreicher Kollegen, nie das Verhängnis eines Hans Fallada, eines William Burroughs oder Jörg Fausers teilen müssen — er stand selten in Gefahr, wirklich drogensüchtig zu werden. Seine Drogenexzesse waren ihm vielmehr im Voraus verbrauchte, geliehene Zeit. Sucht hingegen erinnere an Suchen und sei, so Jünger, etymologisch verwandt mit »krank sein«. Weder suchte Jünger, noch war er drogenkrank. Er fand auch ohne Suche — und der Rausch half ihm ein wenig dabei — eine eigene Sprache für ganz persönliche Erlebnisse. So war ihm das »wahre Glück« auch »grundlos; es kommt wie eine Welle, die uns überrascht. Wir kennen die Ursache nicht. Vielleicht stürzte in der Ferne ein Meteor ins Meer. Vielleicht standen auch nur die Gestirne günstig; es ist die Art Glück, die immer seltener wird.«

Mit diesem Hinweis gibt er am Ende des Buches einen Ausblick auf die kommende Gesellschaft, in dem sich deutlich zeigt, dass Drogen und Rausch einerseits und Kultur andererseits im Interdependenzverhältnis stehen: »Die Gesellschaft wird in zunehmendem Maße nicht nur vater-, sondern elternlos. Der Staat, der 'tausendschuppige Drache', verwandelt sich in einen pädagogischen Giganten und stampft Schulen aus dem Boden, die von Fabriken immer weniger zu unterscheiden sind. Die Ausbeutung verlagert sich und wird intensiver; wie früher die Muskelkraft, so wird heute das Großhirn monopolisiert.«

Dass Jünger hierin einen Hinweis auf eine neue Dimension des Drogenkonsums und eine andere Qualität des Rausches heraufscheinen sah, dürfte virulent sein.

Wenig berauscht gab sich die Öffentlichkeit kurze Zeit später nach einem Interview, das Jünger der Zeitung Le Monde gewährt hatte. Darin bekundete er, die Tatsache, dass er in Frankreich besser verstanden werde als hierzulande spräche für eine höhere Kultiviertheit der Franzosen. Sein Interesse für die deutsche Literatur ende ohnehin mit Nietzsches »Ecce homo«. Insofern hatte er auch wenig übrig für die vom Feuilleton weideraufgewärmte Kritik Thomas Manns, der einst glaubte, Jünger gehöre zu den »Henkern«.

Desinteresse für die literarische Mitwelt, großes Interesse für die eigene Literatur: Sein Buch In Stahlgewittern verglich er in Le Monde mit Grimmelshausen Simplicissismus und sah sich persönlich als aussterbendes Exemplar der deutschen Elite.

Einband der Mittler-Ausgabe von 1922
Die Stahlgewitter — für Jüngers frühen Verehrer und späteren Kritiker Joseph Goebbels ein »Evangelium des Krieges« — sollten dem Vergleich mit dem großartigen Schelmenroman des Dreißigjährigen Krieges standhalten. 1933 erklärte Jünger, seine Arbeiten zeichneten sich im Wesentlichen durch ihren »soldatischen Charakter« aus. Als Frontbericht und historisches Dokument mögen sie von Interesse sein. Literatur ist das freilich nicht. Denn da ist einfach zu viel von diesem »Flattern« und »Rauschen« und »Krachen«; zu viel von diesen »blutüberströmten Gestalten« und »Blutlachen«; von diesen »bärtigen, lehmbekrusteten« oder wahlweise auch »lehmbeschmierten Gesellen«; da gibt es zu viel »Lehmwälle« und »Lehmbänke« und »Lehmwände«; zu viel »Erregung« und »erregte Stimmung« auf einmal; und dann das Absingen von »Heil dir im Siegerkranz«, das Kaiserlied, in dem es heißt: »
Wir alle stehen dann mutig für einen Mann, Kämpfen und bluten gern für Thron und Reich!«

Zuletzt all dieses Fleisch, Fleisch und nochmals »Fleisch«; und all das »gelbe Gewölk«, das »Geprassel«, »Getriller«, das »Geheul« und »Gewühl« und »Gewirr«.

Das ganze Buch — ein einziger Stellungskrieg, eine endlose Wiederholung tumber Worte, an denen sich so rein gar nichts Literarisches entzünden mag. »In den Stahlgewittern«, meint der Psychotherapeut Peter-W. Gester, »beschreibt Jünger Macht, Pomp und Eskapismus der frontnahen Etappenhengste und ihre Orgien in den Versorgungslagern.« Das ist zwar eine brutale Verkürzung des Buches, aber möglicherweise auch schon alles, was es dazu zu sagen gibt.

 

Zurück aus diesem Wortgewitter, zurück zur ganzen Welt, zurück zu Le Monde und dem besagten Interview. Marcel Reich-Ranicki warf Jünger »Anbiederung« an Frankreich vor. Auch vom Meistersänger der Literaturkritik also bloß politische Äußerungen über einen zeitgenössischen Autor. Überhaupt schien Jünger inzwischen ein »politischer Einsiedler«. So titelten die Stuttgarter Nachrichten 1974 treffend.

Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Hans Filbinger nannte ihn den »Eremit von Wilflingen«, der an der Saturiertheit seiner Zeit leide, und fügte dem hinzu, Jünger wäre ein Neinsager gewesen als »Hitler an die Macht kam«. Nun gut, das sagte ausgerechnet Filbinger!

Doch was war Jünger denn nun wirklich? Die Diskussion fand noch lange kein Ende. War er ein »philosophischer Dichter« oder eher ein »Magier«, ein »Römer« (Mitterand), »das menschgewordene 20. Jahrhundert« (Virilio), ein Botaniker und Zoologe, wie die Subtile Jagden und die Tagebücher Siebzig verweht I-V vermuten lassen? Litt er wirklich an »Sehstörungen«, wie die FAZ im März 1975 glaubte und ihm gleichsam ein »stupendes Gedächtnis« attestierte?

Niemand mag die Frage so recht beantworten, denn den Meisten ist das Meiste von Jünger — wie auch dem Kollegen Heinrich Böll — »fremd geblieben«. Böll bezog die Äußerung auf das »Zelebrative, Weihevolle, Eingeweihte« in Jüngers Werk. Das war ebenfalls 1975. Eine für den vierzehnfach verwundeten »letzten Ritter« des Ersten Weltkriegs politisch in der Tat schwierige Zeit. »Bin ich denn verantwortlich für die Irrtümer meiner Leser?« fragte sich der neue Ehrenhäuptling der liberianischen Vai dann auch beinahe ebenso verzweifelt wie rechtfertigend.

Es war die Zeit, in der er die Gesellschaft längst aus sich verbannt hatte — so wie sein Protagonist aus dem Roman Eumeswil, Martin Venator, der sich auf Grund seiner politischen Neutralität Anarch nennt. Jünger betrachtete sich selbst auch gerne als Anarch. »Der Anarch führt seine eigenen Kriege, selbst wenn er in Reih und Glied marschiert« heißt es in Eumeswil. Und weiter: »… anarchisch ist jeder … Allerdings wird es vom ersten Tag an durch Vater und Mutter, durch Staat und Gesellschaft beschränkt. Das sind Beschneidungen, Anzapfungen der Urkraft, denen keiner entgeht.«

Auch Jünger entging den Anarch-Gegnern nicht. Als der politisch vermeintlich Neutrale 1982 den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt erhalten sollte, war das Gezeter links der CDU groß. Die Kritik blieb jedoch merkwürdig ideenlos. Wieder wurde Schlumberger herangezogen: Jünger sei der »geistige Schrittmacher des Dritten Reichs« gewesen. Die Frankfurter Neue Presse tat in diesem Zusammenhang kund, auch die DKP betrachte den Schriftsteller als »reaktionär, antidemokratisch und antihumanistisch« — so, als ob sich die DKP selbst aus Demokraten und Humanisten zusammengesetzt hätte!

Die Zeit zitierte anlässlich der Verleihung des Goethes-Preises die ganze Palette der deutschen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts: Adorno, Arendt, Andersch, Benn, Benjamin, Hildesheimer, Kracauer und andere Dichter äußerten abermals ihren »Ekel« und ihre »Langeweile« angesichts des Jüngerschen Œuvres. So reich war das Spektrum der Beurteilung nicht nur dieses Mal. Es war — selbstredend — der alte Fritz Joachim Raddatz, der die Großen anrief, um dann festzuhalten, Jüngers Grammatik knirsche »wie feines Sattelleder.« Wahrscheinlich weiß nur Raddatz, wie feines Sattelleder knirscht, aber das macht freilich wenig.

Ein anderer großer Feuilletonist, Friedrich Sieburg, fasste all diese Einschätzungen einst treffend zusammen: »Der Fußtritt gegen Jünger öffnet Türen.«

Doch Raddatz ging weiter als andere. Er trat nicht nur, sondern knüppelte kräftig hinterher. Jüngers Deutsch? — »Schlecht«! Sein Werk? — Ein »erotisches Vergnügen an Gewalt und Tod«. Sein poetisches Prinzip? — die »Botanisiertrommel«. Die Stahlgewitter? — glichen dem »Oktavheft einer erschrockenen Krankenschwester«. Das allerdings war kein so schlechter Vergleich für einen, der keine Seite ohne Vergleich auskam! Das Oktavheft war jedenfalls besser als die nicht zutreffende Behauptung, das Attribut »männlich« wäre in Jüngers Buch über den Ersten Weltkrieg kaum mehr zu zählen. Für die ersten Seiten trifft das zu, dann taucht es immer seltener auf. Raddatz aber hatte sich jetzt erst richtig eingeritten: »Herrenreiterprosa … seine Sprache wundenlos.« Alles richtig, und doch: Jünger faszinierte — trotz Raddatz kleiner Kapriolen.

Und auch trotz Heißenbüttel, der in der FR Anfang 1982 schrieb, die politische Basis — wieder einmal also die Politik! —, aus der Ernst Jüngers Werk gewachsen sei, entspräche »in etwa den Überzeugungen, nach denen heute in Militärdiktaturen in aller Welt regiert« würde. Was aber heißt denn hier »in etwa«?, und was wusste Heißenbüttel über die Art und Weise des Regierens in Militärdiktaturen in aller (!) Welt?

So viele Fragen, so wenige Antworten! Wenigstens hatte Heißenbüttel »Überzeugungen«: Jünger bliebe ein unverbesserlicher, prüde und theologisch »dilletierender Konservativer«. O ja — das war in den Achtzigern der schlimmste aller Vorwürfe.

Die Debatte über den seit 1950 in der Wilflinger Oberförsterei wohnenden Schriftsteller (oder was auch immer er war) hatte nun erst richtig begonnen. Denn da gab es Stimmen, die ihn wegen der Marmorklippen aus dem Jahre 1939 eindeutig als Hitler-Gegner und — wie unter anderem Dolf Sternberger — als Widerstandskämpfer (oder Ähnliches) sahen.

Es war dennoch wie eh und je: Bei jedem Für, bei jedem Wider, wurden seine Schriften politisiert. Das war bei den Marmorklippen, einem Buch, das kaum das Niveau eines durchschnittlichen Abiturientenaufsatzes erreicht, nicht anders. Jünger war seinerzeit immerhin Mitte 40. Und dann schreibt er Zeilen wie diese:

»Hier galt es behutsam zu trinken, denn wir mussten den Wein mit Halmen durch die Nüstern der Schnäbel aus dem Glase ziehen. Wenn uns der Kopf zu rauchen drohte, erfrischte uns ein Streifzug durch die Gärten und Gräben am Ringwalle, auch schwärmten wir auf die Tanzböden aus, oder wir schlugen in der Laube eines Wirtes die Maske auf uns speisten in Gesellschaft eines flüchtigen Liebchens aus Buckelpfannen ein Gericht von Schnecken auf Burgunder Art … Dann fielen die Segelfalter in den Garten ein und flogen die Tellerblüten der wilden Möhre an, und auf den Klippen sonnten die Perlenechsen sich am Stein. Und endlich, wenn der weiße Sand des Schlangenpfades in Hochglut flammte, schoben sich langsam die Lanzenottern auf ihn vor, und bald war er von ihnen wie ein Hieroglyphenband bedeckt.«

Und so weiter ad infinitum. Wer hier nicht gleich laut loslacht, wird sich sagen: Das ist nicht einmal medioker, und es versteht sich beinahe von selbst, dass kein junger Leser heute zu Ernst Jünger greifen würde. Denn seine Themen, seine Worte sind zu weit weg von den Erfahrungen und den Gefühlswelten der Jugend. Im 21. Jahrhundert muss ihn niemand lesen, der die Welt verstehen will. Denn Jüngers Welt ist die Welt von gestern, seine Sprache gleichfalls. Mithin nicht wegen seiner politischen Haltung, sondern auf Grund des ganzen Dekors, des Flitterkrams, mit denen er seine Texte bis zur Unkenntlichkeit schmückt, ist er uninteressant und bedeutungslos geworden. Bereits 1913 notierte sein Lehrer unter einen seiner Aufsätze: »… Neigung zu … überladener Ausdrucksweise, … eine bedenkliche Gefahr für seinen Stil« und gab zur Empfehlung: »Maßhalten im Schmuck der Rede!«

Jünger hat sich nie an diese Empfehlung gehalten. Auch seine Bücher stehen — um zu den Bildern zurückzukehren, gegen die ich anfangs anschrieb — wie die Röhrenden Hirsche des Wildmalers Johann Christian Kröner in der deutschen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts: schmerzunempfindlich im Geweih, dekorativ und dramatisch; heroisch und kompromisslos der Habitus des Autors auch dann, wenn rechts und links weder ein Konkurrent noch ein Jäger oder ein Wald zu erblicken sind. Allenthalben das »Stierlein«, das die Post sortiert, während ein kaum mehr hörbares Röhren in seinem Werk nachwirkt; ein Röhren, das Männerkampf und Sex ein letztes Mal kraftlos vereint. Ein schwaches Röhren, ein Röcheln beinahe, das nicht länger zu polarisieren vermag: Die Kontroversen sind vorüber. Die Leser haben allenthalben noch Mitleid mit der Steifheit seiner Bilder, seiner Gesten — und Bücher. Es gibt also nichts mehr über Jünger zu sagen. Eigentlich.

Andererseits röhrte die halbe Republik mit dem Platzhirsch der deutschen Literatur. Hirsche sind — wie Schriftsteller und Journalisten auch — vor allem eines: Kampftiere. Der Blick zurück auf mehr als ein halbes Jahrhundert dieses inneren Erlebnis-Kampfes, auf das Pro und Contra Ernst Jünger ist nicht selten recht amüsant und sagt zudem viel über die teils seltsamen Befindlichkeiten der Deutschen aus.

Ich denke hier zum Beispiel an Alfred Dregger, den ehemaligen Bürgermeister von Fulda und Vorsitzenden der CDU-Bundestagsfraktion, der Jünger an seinem 90. Geburtstag (!), knapp 70 Jahre nach Unterzeichnung des Versailler Vertrags, als »tapferen deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs« adelte, um in diesem Soldaten auch den »großen Schriftsteller« zu entdecken.

Gut gebrüllt. Doch war Jünger dies tatsächlich? War er die »unabhängige Persönlichkeit« (Kohl) oder der »unerschrockene Einzelkämpfer« (von Weizsäcker)? War er alles zugleich?

War er nicht doch auch »pubertär-prahlerisch« und berauschte sich an »Kraftmeiereien und Blutgespritz« (Ueding)? War er einfach nur der »Draufgänger«, den sein Biograf Heimo Schwilk in ihm sah?

Ernst Jünger war nicht zu fassen. Und es ist bis heute nicht zu fassen, welch sonderbare Artikel über ihn in all den Jahren erschienen sind. Ich denke hier insbesondere an Rolf Hochhuths 1990 verfasste Jünger-Apologie, in der er allen Ernstes fragte, wer unter den Lebenden denn »lesenswerter« sei, um zwei Jahre darauf Jünger gar für den Nobelpreis vorzuschlagen — wobei in seinem Artikel in der Welt offen bleibt, ob er den Literatur- oder vielleicht doch den Friedensnobelpreis erhalten sollte. Oder beide?

Selbstredend konnte sich auch der junge Schirrmacher einer Jünger-Diagnose kurz nach der Wiedervereinigung nicht verweigern. Zum 95. Geburtstag inaugurierte er Jünger als »Chronisten des Jahrhunderts … ohne jedes Beispiel und bis an alle Grenzen modern … ein Übriggebliebener.«

Was auch immer »bis an alle Grenzen modern« bedeuten mag, und was auch immer es gewesen sein mag, das in ihm übrig blieb — hier, in diesen Sätzen von Dirty Frank, machte sich bereits die Agonie einer Kontroverse bemerkbar. Und so stellte auch Schirrmacher ein wenig resigniert fest, der Streit um Jünger wirke zuweilen »schal«.

Trotz allem wurde kräftig weiter gefeuert. Kohl lobte zum wiederholten Male Jüngers angebliche »meisterhafte Beherrschung der Sprache«, und Hochhuth, nicht müde werdend und verzweifelt nach Superlativen suchend, sah im »Waldgang« das »revolutionärste Stück Prosa seit Heinrich Manns Untertan.« Jünger schreibe gegen eine »Epoche der Anpassung« an, so Hochhuth weiter.

Es war dies die Zeit, in der Jünger wegen des gefälschten Freisler-Briefes an Martin Bormann wieder einmal in aller Munde war. In dem Schreiben erklärt Roland Freisler, die Anklage gegen Jünger wegen »defaitistischer Äußerungen« und seines Romans Auf den Marmorklippen sei abgewiesen worden. Denn der »Führer« habe »von Wolfsschanze aus« den Befehl erteilt, »die Sache nicht weiter zu verfolgen.« Nun erwies sich dieser Brief im Oktober 1992 endgültig als Fälschung.

Der Streit ging jedoch bereits wenige Monate später in die nächste Runde. Diesmal im Ring: Heiner Müller und Walter Jens. Anlass: Die Veröffentlichung von Tagbucheinträgen in der Zeitschrift »Sinn und Form«. Jens: »antisemitische Äußerungen« (damals wusste noch niemand von Jens´ eigener NSDAP-Mitgliedschaft). Müller: »Verdächtigungen« gegen einen »bedeutenden Autor«.

Jünger kümmerten solche Querelen herzlich wenig. Er sah sich Mitte des Jahres 1993 in der Zeit vielmehr dazu aufgerufen, eine Prognose auf das 21. Jahrhundert unter dem Titel Gestaltwandel zu wagen und damit seine Arbeit der Zeitmauer als Brevier fortzusetzen. Symbolisch verschleiert tauchen darin doch einige bemerkenswerte Äußerungen des modernen poeta vates auf: »Die historischen Grenzen werden sich verwischen; der Krieg bleibt geächtet, Machtentfaltung und Bedrohung werden planetarisch und universal. Das nächste Jahrhundert gehört den Titanen; die Götter verlieren weiter an Ansehen. Da sie wiederkehren werden, wie sie es immer getan haben, wird das 21. Jahrhundert, kultisch betrachtet, ein Zwischenglied, also ein Interim sein. Dieu se retire. Dass der Islam eine Ausnahme zu machen scheint, darf nicht trügen. Es liegt nicht daran, dass er der Zeit überleben, sondern daran, dass er — titanisch gesehen — zeitgemäß ist.«

Titanisch gesehen. Und sonst?
Ein bisschen viel Herkules umwölkt den Text, eine doch recht eigenwillige »Entgegnung auf Heisenbergs Weltformel«; zudem irritieren all die Kentauren, stört Prometheus und sind auch die Titanen im Weg. Aus dem Bodensatz der Mythologie liest Jünger die Zukunft: »Der Terror wird zunehmen«. Immerhin eine klare Aussage!

Möglich, dass einem die Götter immer näher kommen, wenn man fast hundert Jahre alt ist. Möglich, dass der Styx schon bläulich schimmerte. Aber auch die irdischen Götter trafen seinerzeit weiter bei ihm ein: Mitterand und Kohl setzten die Besuche von Golo Mann, Heiner Müller und Jorge Luis Borges fort. Aber erst seine Gegner gaben ihm Profil.

Das Schicksal blieb Jünger zu dieser Zeit treu. Nachdem er seinen Ältesten bereits im Zweiten Weltkrieg, jenem »Überfluss an wunderbaren Taten«, verloren hatte, brachte sich sein jüngster Sohn, schwer krank, 1993 um. Indes riss der Versuch, ihn als literarischen Faschisten zu portraitieren nicht ab. Victor Farias zum Beispiel grub in der Woche, November 1993, in Jüngers Aufsätzen aus den 1930er Jahren und entdeckte »einen radikalen Antisemitismus«, förderte aber auch ansonsten nicht wirklich Neues zutage. Es blieb auch in den 1990er Jahren dabei: Jünger war »Antisemit«, »Okkultist«, »bösartiger deutscher Scharlatan« und »einzigartiger Zeuge der Zeit« in einer Person. An Jünger schieden sich weiterhin die Geister, bei Jünger jedenfalls hörte »der Spaß auf«, wie die FAZ zu Recht Ende 1993 feststellte. Denn er war, so Thomas Assheuer zum Tode des Schriftstellers im Februar 1998, »der beste Feind der Moderne«. Sein Tod entzweite ein letztes Mal. Für die einen war er der »Repräsentant der europäischen Kultur« (Kohl); für die anderen ein »kriegsbrünstiger Abenteurer« (Augstein). Der tote Jünger regte das Feuilleton zudem zu einer abschließenden Skizze eines Unbeschreibbaren an: »Poet der Käfer«, dessen »Tiraden gegen die Republik« legendär waren. Ebenso wie seine »brutale Wut«, die nun ein für alle Male verflogen war. Und mit ihr auch bald schon die Wut der Kritik.

Das Gefecht um Jünger schien tatsächlich seinem Ende entgegen zu gehen. Die Platzhirsche der deutschen Literaturkritik und die des Feuilletons schienen müde geworden. Die Agonie des Kampfes mobilisierte noch einmal letzte Kräfte, die den ganzen Bombast seiner Prosa erneut ans Tageslicht zerrten: »… in tausend Sonnen und kreisenden Flammenrädern verspritzen, die gespeicherte Kraft verbrennen vorm letzten Gang in die eisige Wüste. Hinein in die Brandung des Fleischs, tausend Gurgeln haben, dem Phallus schimmernde Tempel errichten.«

Nun ja, die Zeilen sind und bleiben tatsächlich impotente Althirschprosa, auch wenn Heimo Schwilk bei seiner »letzten Begegnung« mit Ernst Jünger feststellte, er habe »dem Schrecken des Jahrhunderts vielfach ins Gesicht geschaut«.

Schwilk, leitender Redakteur der Welt am Sonntag, hat Jüngers Blick auf das 20. Jahrhundert in einer unübertrefflichen Bildmonografie festgehalten. Erstmals erschien sie 1988 bei Klett-Cotta, wo sie nun, um die letzten zehn Lebensjahre ergänzt, neuaufgelegt worden ist: Ernst Jünger. Leben und Werk in Bildern und Texten.

In sieben Kapiteln spürt Schwilk den Lebensstationen Jüngers nach und bringt dank der Hilfe des Wilflinger Archivs sowie des Deutschen Literaturarchivs in Marbach faszinierende Bilder ans Licht: Familienfotos, Plakate, Briefe und Buchcover; Bilder von Freunden und Kollegen, einzelne Manuskriptseiten, einst geheime und offizielle Dokumente sowie Karikaturen. Aber auch zahlreiche Zeitungsausschnitte und Skizzen befreundeter Künstler finden sich in diesem aufwendig gestalteten Band. Die Bilder sind chronologisch geordnet und werden sowohl im Einzelnen kommentiert als auch durch einen mehrseitigen Text, der den jeweiligen Zeitabschnitt charakterisiert, eingeleitet. Darüber hinaus ergänzen Textausschnitte aus Jüngers Schriften die Bilder.

Schwilks einleitende Worte zu den einzelnen Kapiteln sind ein hervorragender Einstieg in die Auseinandersetzung mit dem Leben Jüngers. Knapp, prägnant und informativ versteht er es, das Leben des Autors allgemein verständlich darzustellen. Die ausgewählten Zitate überzeugen und spiegeln treffend den Jüngerschen Kosmos wider. Eine Zeittafel am Ende des Bandes fasst das Leben nochmals in Kürze zusammen.

Schwilks apologetischer Ansatz ist zwar an einigen Stellen, vor allem im Hinblick auf die Friedensschrift, fraglich. Das schmälert aber nicht die unglaubliche Freude, die die Bildmonografie bereitet. Sie profitiert nicht zuletzt von den guten Beziehungen des Herausgebers zum Portraitierten.  Und obwohl Kollegen solche Werke wohl als »Ritterkreuz-Sentimentalität der Verehrer« titulieren würden, »für die vor allem einer nur Verachtung übrig hatte: Ernst Jünger« (Thomas Assheuer), so besticht trotz des wohlwollenden Tons bei Schwilk das Panorama, das er geschaffen hat, um den Lesern einen Zugang zu Jüngers Welt zu öffnen. Dieses Panorama mag mit dazu beitragen, dass die schweren Geschütze der Kritik — Blutrausch, Nationalismus, Männlichkeit, Antisemitismus — nicht noch einmal aufgefahren werden.

Doch was wird letztlich wirklich bleiben von Jünger? Mehr als die vielen Bilder? Mehr als die 110-Pfennig-Sondermarke von 1998? Mehr als ein kleiner Teil im Kanon der Bibliotheque de la Pléiade zu sein? — »Bunter Staub« wird bleiben, meint Alexander Pschera. Das wäre immerhin etwas. Doch vergessen wir nicht Jüngers »notorische Lust an der Analogie« (Hans Blumenberg), die stets dem Nichts nachjagte.

Selbstverständlich wäre es müßig, all den Portraits ein weiteres hinzuzufügen. Die Palette scheint ein für alle Male ausgereizt. Dennoch: Wenn ich persönlich an Ernst Jünger denke, habe ich immer dieses Foto von ihm im Kopf, lesend unter einem Hirschkopf in der Großen Bibliothek des Wilflinger Schlosses (Schwilk 2010, S. 229); das Buch streckt er von sich, um darin das Licht, das durch das Fenster eindringt, einzufangen, während drohend das Geweih des toten Tiers über ihm thront und den Tod in dieses lichtdurchflutete Zimmer bringt.

Überhaupt die Jüngersche Fauna, unübersehbar: Schlangen, Schildkröten, Fische, Echsen, Tauben, oder der an Brombeerranken hängende Julodis: »All diese Wunderwesen«, so Jünger im Inselfrühling, »entdecken wir ja in uns, als unbekannte Inseln und Zauberklippen in unserem inneren Archipel.«

Ich denke hier aber auch an die Wälder der süddeutschen Provinz: »Ich sehe im Walde ein Vorbild nicht nur der erhaltenden, sondern auch der mehrenden Kraft… Wenn der Wald leidet, teilt er uns mit, daß wir mehr konsumieren als die Natur es erlaubt, die wir geerbt haben« schreibt Jünger 1987. Der Gegenentwurf findet sich in der 40 Jahre zuvor erschienenen Atlantischen Fahrt: »In den Wäldern, die ohne Lichtung die Gewässer säumen, entfaltet das Wachstum eine alles bezwingende Gewalt.«

Denken wir in diesem Kontext auch an Langenenslingen, wozu Wilflingen seit 1975 gehört. Im Wappen der Gemeinde sieht man in Rot auf grünem Dreiberg drei goldene Rehfüße, darunter auf goldenem Grund drei rote Hirschstangen, die sich auf die Grafen von Veringen beziehen und noch heute im Württemberger Wappen zu finden sind. Es ist das Sinnbild der Jagd und der intakten Natur, in die sich Jünger 1950 zurückgezogen hatte.

Ich denke also in erster Linie an den Waldgänger. Dann scheint sogleich dieses romantische, idyllische Nichts vor meinem inneren Auge auf, das Nichts, dem er zeitlebens nachgejagt ist, verbunden mit dem Gedanken an diesen scheinbar sinnlos röhrenden Hirsch aus Kröners Gemälden — nun aber vor einem völlig weißen Hintergrund stehend: Da ist kein Wald mehr, auf dessen Nähe er in der Ansprache zur Neunhundertjahrfeier Wilflingens im Juli 1987 so viel Wert legte, auch kein anderes Wild, kein Weg und schon gar kein Wort, das dieses erhabene, einsame und verletzbare Tier umschwirrt. »Es ist sehr wichtig«, schrieb Jünger 1929 an Bruno von Salomon, »dass wir Herde besitzen.« Die Herde aber hat sich von ihm entfernt.

Ich greife zur Schere. Am Ende verschwindet auch dieses Bild. Dann bleibt da nur dieses annähernd stumme Röhren aus einer entlegenen Zeit.

Möglich, dass am Ende aller Pressekämpfe, dann, wenn auch die Sofahirsche des Feuilletons wirklich ihre Geweihe übers Kaminfeuer gehenkt haben und der Blätterwald zur Ruhe kommt, von Jüngers Werk genau dieses Nichts übrig bleibt.

Wie auch immer nachfolgende Generationen zu Jünger stehen mögen, ihm selbst schien der Ruf recht gleichgültig zu sein: »Nachruhm bedeutet für den Betroffenen das Gute, dass er davon unbehelligt bleibt. Der Ärger mit den Zeitgenossen hat genügt.« Bereits 1934 konstatierte er, sein Bestreben laufe »nicht darauf hinaus, in der Presse möglichst oft genannt zu werden, sondern darauf, daß über die Art meiner politischen Substanz auch nicht die Spur einer Unklarheit entsteht.«

Weder das Eine noch das Andere ist ihm am Ende geglückt.

Artikel online seit 19.10.13

 











Literatur:

Heimo Schwilk, (Hrsg.)
Ernst Jünger
Leben und Werk in Bildern und Texten

Vollständig überarbeitete Neuausgabe, die um die letzten
zehn Lebensjahre ergänzt ist.
Mit bisher unveröffentlichten Fotos
und Dokumenten
Klett-Cotta

59,95 € (D),
1. Aufl. 2010, 336 Seiten
Leinen mit Schutzumschlag,
Großformat (24,5 x 28,5 cm),
978-3-608-93842-5


Ernst Jünger (1895-1998)
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Eine gefährliche Begegnung«, die sich mit seiner »Arbeit am Abgrund des Selbst« auseinandersetzt.
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