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Glanz
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Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 28.10.12

Am Ende verschwindet Gott in einer Kalkablagerung

Ludger Lütkehaus über seine Kindheit im finster norddeutschen Aberglauben.

Von Timotheus Schneidegger





 

Apostasie zählt nicht nur in religiösen Gemeinschaften zu den schlimmsten Sünden. Wer schon einmal gekündigt hat und seinem ehemaligen »Arbeitgeber« zufällig wieder begegnet, wird dessen Gekränktheit noch durch jede Maske der Höflichkeit hindurch erahnen. Einige der früheren Kollegen erkundigen sich neugierig, freilich nur unter vier Augen, nach der »Welt da draußen«, und zwar im raunenden Ton der Ehrfurcht davor, wie einem das, was zum Davonlaufen war, nun zum Lachen gereicht. Die übrigen wünschen dem Apostaten, dessen Abgang das die Gemeinschaft verbindende Joch scheinbar an Gewicht hat zunehmen lassen, alles Schlechte.

Bei einem Feind weiß man schließlich, was man hat und um wie viel angenehmer es ist, unter Gleichen aufgehoben zu sein, statt dem Anderen ähnlich. Der Eingeweihte dagegen, der die Gemeinschaft verlässt und sich womöglich noch gegen sie wendet, ist das Schlimmste, was ihr passieren kann.

Je prekärer die Situation der Gemeinschaft, desto rigider der Tugendterror, der Zweifler und Abtrünnige auf Linie bringen soll. Die schwarze Pädagogik beider christlicher Konfessionen sorgte über Generationen zuverlässig für Untertanengeist. Ihr gerieten Nietzsche und Kierkegaard zu den seltenen Betriebsunfällen, bei denen die zum Glauben erzogenen die Einschüchterung der Gläubigen als bestes Argument gegen den Glauben durchschauten. Die Regel dagegen waren Kindheiten wie die in Michael Hanekes Film »Das weiße Band« (2009) dargestellten, die auf das hinausliefen, was Alexander M. Frey in »Die Pflasterkästen« beschrieb: Im Ersten Weltkrieg gingen protestantische Preußen und katholische Bayern lieber aufeinander los statt auf britische resp. französische Glaubensbrüder. Aber Befehl war und ist ja Befehl und man war, der religiösen Erziehung sei dank, das Gehorchen gewohnt, sodass binnen zweier Generationen nach der Reichseinheit 1871 die nationale Gemeinschaft endgültig Vorrang vor der religiösen erhielt. Wirksam blieb letztere natürlich – zumal in Friedenszeiten, zumal auf dem Land, wo der Kirchturm näher ist als Berlin. Die Reichshauptstadt begann erst im späten 19. Jahrhundert, sich für die nordwestdeutsche Tiefebene zu interessieren, wo man gefühlt »schon immer« protestantisch war und damit in Ruhe gelassen wurde, egal wer gerade die Herrschaft beanspruchte.

Dass es hier und da in den Marschen und Mooren eine katholische Minderheit gab, ist zum einen belegt durch die Tradition norddeutscher Bauern, an Fronleichnam Gülle auszufahren, was keinen Sinn machen würde, gäbe es damit niemanden zu ärgern. Zum anderen durch das kleine Büchlein »Kindheitsvergiftung«, in dem Ludger Lütkehaus die kurios-katholische Diaspora Cloppenburgs schildert, in der er aufwuchs.

Benannt wurde der 1943 geborene Lütkehaus nach dem heiligen Liudger, der im 8. Jahrhundert die Friesen missionierte. Einen Namen aber hat er sich als Schopenhauer-Herausgeber gemacht und zuletzt mit der vierbändigen Edition von Fritz Mauthners »Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande«.

Seine Essaybände erweisen ihn als einen der wenigen schreibenden Denker, die von beidem etwas verstehen. Das Beackern der verwilderten Nabe zwischen Philosophie und Literatur stellt ihn in eine Reihe mit Günter Anders, wenn sich schon der angesichts des Büchleins »Kindheitsvergiftung« naheliegende Vergleich mit Nietzsche verbietet. Der sauertöpfische Protestantismus saß diesem im Spätsommer 1888 aller dionysischen Therapie zum Trotz nämlich noch zu sehr in den Klamotten, als dass sich »Der Antichrist« an dem barocken Frohsinn messen ließe, mit dem Ex-Katholik und Giordano-Bruno-Stiftungsbeirat Lütkehaus den Glaubensabfall seiner Adoleszenz zelebriert.

Versöhnung dürfe man nicht erwarten, so wird im Vorwort nicht zu wenig versprochen, ehe Lütkehaus im ersten Teil des Buchs seinen katholischen Herkunftsnachweis bis in die dritte Generation vorlegt.

Kann man die Zahl der Rechtgläubigen, die sich im norddeutschen toten Winkel von Gott und Kaiser um einen papsttreuen Lebenswandel bemühen, an einer Hand abzählen, so steigert das nur deren religiösen Eifer. Der Großvater ist noch strammer als Hanekes pietistischer Pfarrer in »Das Weiße Band«. Getreu der römischen Linie, dass die Begegnung der Geschlechter einzig der Zeugung und nicht dem Vergnügen diene, versagt sich Opa Lütkehaus konsequent jegliches Geschlechtsleben, nachdem er befindet, genug der Kinder zu haben. Dies freilich ohne Rücksprache mit seiner lebenslustigen Gemahlin. Der ungefragt vor Unkeuschheit bewahrten Oma steigt daraufhin und mählich »der Unterleib zu Kopfe«.

Mit genüsslicher Souveränität schildert Lütkehaus, wie die katholische Wagenburgmentalität nach hinten losgeht. Die als gegenreformatorischer Orden gegründeten Jesuiten firmieren als SJ (Societas Jesu), was bei den Versprengten im Norden nur noch als »schlaue Jungs« ausbuchstabiert wird. Mit der Pubertät regt sich beim jungen Ludger nicht nur die intellektuelle Begabung, auch die von den Sittenwächtern nicht minder verächtlich gemachte Fleischlichkeit macht sich bemerkbar. Raffaels Madonna wird zur Wichsvorlage und stets groß ist die Vorfreude des Pubertierenden auf die Schweinkramhefte der Katholischen Filmbewertungsstelle. Die körperliche Notdurft (im ursprünglichen und weitesten Sinne) zieht die metaphysische nach sich und so führt kein Weg am regelmäßigen »Beichtstuhlgang« vorbei. So leicht der Kirchenaustritt intellektuell fallen mag, so schwierig ist er aus Rücksicht auf familiäre Befindlichkeiten umzusetzen. Am Ende nichtet sich der nichtige Gott in Mutter Lütkehaus selbst und ist wie nie gewesen.

Die zweite Hälfte des Büchleins versammelt »Ketzereien«, das heißt Miniaturen à la Nietzsche, der ja auch neben Gott liebevolle Erpressung und pädagogischen Terrorismus zu überwinden hatte. In diesen ungeordneten Notizen weist Lütkehaus nach, Bibel und Kirchenwesen ausgiebig erforscht und bedacht zu haben. Sein stilistisches Talent aber kann er in der kurzen, unzusammenhängenden Form nicht zur Geltung bringen.

Der schwache zweite Teil mindert das Vergnügen an diesem Büchlein jedoch nicht, das sich wie der launige Off-Kommentar zu »Das weiße Band« liest. Verfasst von einem Atheisten mit viel Esprit, der sich für seine Kindheit im finster norddeutschen Aberglauben nicht mit seinerseitigem Gepredige entschädigen muss. 

Ludger Lütkehaus
Kindheitsvergiftung. Ketzereien.
Erweiterte Neuauflage
Alibri Verlag
101 Seiten, kartoniert, 9,50 EUR
ISBN 978-3-86569-045-6

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