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Glanz
&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Bücher & Themen
Artikel online seit 18.11.12

Die Geburt des Aphorismus aus dem Geist der Pyrotechnik

Antoine de Rivarol - der monarchistische Aufsteiger
als aufgeklärter Reaktionär.

Eine Auswahl seiner
Gedanken und Maximen, Porträts
und Bonmots
»Vom Menschen« ist jetzt bei
Matthes & Seitz Berlin erschienen.



von Goedart Palm


 

Antoine de Rivarol teilt sich hierzulande mit den anderen großen französischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts das Schicksal, sein bedingt feudales Soziotop vornehmlich im Kalenderblatt zu finden. Das ist zwar nicht die unrühmlichste Quelle, aber eben doch ein untrügliches Zeichen für die literarische Einfriedung als saisonal aufgedrängter »Abreiß-Weiser«. Das sollte jetzt anders werden. Der Verlag Matthes & Seitz öffnet nun eine opulent ausgestattete Schatzkiste mit »Gedanken und Maximen, Porträts und Bonmots« Rivarols, die diesen alerten Geist in umtriebigen Zeiten wieder erstrahlen lassen. Vergleichbares lag bisher nicht vor. Ernst Jüngers Bändchen über Rivarol war eher ein literarisches Amuse-Gueule, eine kleine Hommage, um einen weitläufig politisch Verwandten nicht ganz zu vergessen.

Dabei hatte Rivarol für sich eine wichtige Rolle auserkoren: Nachdem er 1784 die Universalität der französischen Sprache (»Discours sur l’universalité de la langue française«) mit allen Mitteln der Sophistik »bewiesen« hatte, wollte er, mit dieser meisterlichen Universalie ausgestattet, nun aller Welt zeigen, wie Wissen zur Form und Form zu Wissen wird. Denn wenn die Sprachen »die wahren Medaillen der Geschichte« sind, gilt es hier olympische Qualitäten zu zeigen und den Kampf um die Aufmerksamkeit, den Rivarol für seinen Existenzentwurf geradewegs programmatisch formuliert, mit der Grammatik zu gewinnen. »Was nicht klar ist, ist nicht Französisch.« Historisch sehen wir ihm den linguistischen Chauvinismus nach, hatte er doch noch keine Gelegenheit, die dekonstruktivistischen und hyperanalytischen Potenzen der französischen Sprache zu erleiden. Dass sich die Sokal-Affäre maßgeblich an französischen Denkern und ihrer Sprache entzündete, wäre für Rivarol nach der schändlichen Revolution der zweite Mittelpunktverlust seiner prästabilierten Ordnung gewesen. Sprachliche Form, reflexive Klarheit und politische Ordnung sind in Rivarols konservativem Weltentwurf eine unhintergehbare Trinität. Mitunter ging es in seinen eigenen Klarheitsbeweisen nur um Unverträglichkeitsnachweise seines raffinierten Geschmacks. Rivarol beleidigt reihenweise mit spitzigsten Spitzigkeiten seine literarisch hölzernen Kollegen. Mitunter hört man, dass er sich mit diesem oder jenen insultierten Poeten später wieder versöhnt habe, was angesichts der literarischen Vernichtungspolitik eher von der menschlichen Größe der Opfer kündet. Dabei gilt hier wie beiden allen Auftritten Rivarols: Nur das tradierungsfähige Bonmot garantiert die Unsterblichkeit.

Seine Aphorismen und kolportierungsbedürftigen Auftritte im Salon sollten Zeitgenossen in den Bann schlagen und von der eleganten Lebensform des Meisters überzeugen, die im sprachlichen Feinschliff kulminiert. Der Geist des Genies revoltiert wider die methodische Erfassung der Wirklichkeit, die letztlich die köstlichsten Früchte der Erkenntnis verfehlen sollte. Freilich sind einige dieser literarischen Preziosen und Blitze heute noch verdächtiger als seinerzeit, der Lust an der sprachlichen Inszenierung mehr zu folgen als der Lust am unhintergehbaren Erkenntniskonzentrat.

Höfische Sprechakttheorie

Lässt sich aus der Sprache mehr machen als bloße Sprache? Wir erleben im Fall Rivarols das Selbstüberbietungsverlangen der Sprache. Die vormalige Transzendenz göttlicher Eingebungen wird durch das Transzendenzideal der Sprache eingelöst. Wenn du diese Wahrheit gelesen hast, wirst du nicht mehr derselbe sein. Aphorismen und ihre Nahverwandten, Maximen, Sentenzen, Aperçus, stammen aus dem Pyrolabor der Sprache. Früher »sprühte« der Geist, während heute die Neuronen »feuern«, was die Metapher als überzeitlichen Tatbestand erweist. Wahres Denken ist Hochspannung. Das hat Daniel Kahnemann eben noch mit »Thinking, Fast and Slow« eindrucksvoll bewiesen. Für den späteren Schnellzugriff auf gebirgige Reflexionsketten werden Mantras, Merksprüche, telegrammatische Killerapplikationen bereitgehalten, die den ganzen Körper elektrisieren sollen: »Das Sein bestimmt das Bewusstsein.« Eine kopernikanische Wende, die ganze Jahrhunderte programmieren soll. »Wo Es war, soll Ich werden.« Auch das ist ein interkontinentaler Herrschaftsgestus, der tradierte Psychologien ganz beiläufig einstürzen lässt und eine unübersehbare Folgeindustrie des Denkens befördert, die von den topografischen Irritationen einer flüchtigen Psyche lebt. Mit solchen imperialen Formeln vermessen Philosophen, Chefdenker, Ideologen kühn, was sonst im Gerede über die Komplexität unterkomplex geriete. Programmsätze wie diese werden wie Blitze oder Molotow-Cocktails gegen die Mauern epistemologischer Gewohnheiten geschleudert. Mit anderen Worten: Das Denken wird militant, um gerade darin seine höhere Kunst zu erweisen. Gilles Deleuze bewunderte bei Friedrich Nietzsche, »aus dem Denken eine Kriegsmaschine gemacht zu haben«. Selbiger war nicht nur stolz auf seine Mobilmachung des Denkens als Berg- und Waldläufer zwischen Sils und Silvaplana, sondern auch auf seine artilleristischen Kunstfertigkeiten, die sich in der ballistischen Reichweite seiner »missiles/missives« (Derrida) erweisen und ganz nebenbei das Stigma seiner extremen Myopie erledigen. Von hier aus wäre eine Geschichte des Aphorismus zu schreiben, der womöglich als Erkenntnishostie für orale Kulturen beginnt, zur Hieb- und Stichwaffe höfischer Eleganz avanciert, um darauf in Zeiten knapper werdender Aufmerksamkeit zu einem Medium zu werden, das zwischen Mem und Beschaulichkeit oszilliert. Seine letzte Degeneration aber wäre die politische Phrase: Wo Geist war, soll Platitude werden.

Warum schreibt man Aphorismen, Maximen, Sentenzen, wo vormals Traktate, oft ohne Punkt und Komma, quälende Exerzitien abverlangten? Woher rührt dieser Anspruch, unbedingt und überall, punktgenau und nachrufverdächtig, geistreich zu sein? Wenn Glaube und Religion, König und Vaterland dahin sind, gibt es für den Erkennenden nur noch eine Macht und einen Halt: "Wer das Alphabet erschaffen hat, hat uns den Faden unserer Gedanken und den Schlüssel der Natur in die Hand gegeben." Wer so in revolutionär umtriebiger Zeit an die Allmacht der Sprache glaubt, kommt nicht nur zur Universalität der französischen Sprache. Wer den französischen Satzbau für nicht korrumpierbar hält, glaubt an die natürliche und nicht weniger moralische Ordnung seiner Sprache. Daraus entwickelt sich zwanglos das Argument, dass der, der die beste Sprache spricht, auch seine politische (All)Zuständigkeit daraus ableiten könnte. Wenn die politische Welt alles ist, was der grammatikalische Fall ist, sollten die Analphabeten der Revolution bald überwunden sein. Man mag Absätze abschaffen und dem citoyen »escarpins« aufnötigen, um die aristokratische Hochwohlgeborenheit auf den Boden der neuen Tatsachen herunterzuziehen und die patriotisch-militante Gangart der Marseillaise anzupassen. Aber welches Argument der brutistischen Revolutionäre bestünde langfristig gegen die Eleganz, Pointiertheit und Universalität des aristokratischen Geistes? So mag es Rivarol erschienen sein. Die fatale Verbundenheit von Sprache und Herrschaft hat erst Friedrich Nietzsche später formuliert: "Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben.« Die revolutionäre Kritik der politischen Urteilskraft wird sich nicht auf das interesselose Wohlgefallen an der Wahrheit der sprachlichen Form bescheiden lassen.

Rivarol war ein universaler Meister dieses politisch-ästhetischen Selbstbestätigungsdiskurses, was allerdings einen echten adligen Stilkonkurrenten, den illustren Prinzen de Ligne, nicht davon abhielt, Rivarol als bloßen Feuerwerker der Sprache zu diskreditieren. Die Geburt des Aphorismus aus dem Geist des Feuerwerks garantiert den permanenten Fluch,  bloß elegant zu sein, ohne das reklamierte Apriori zu besitzen, Wahrheit und Lüge in einem Wort zu scheiden. Rivarol hat sich für eine eher riskante Sprachform entschieden, die vorzüglich geeignet ist, im Paradox zu enden, wenn man sie nicht wie Oscar Wilde lustvoll aus diesem Zweck heraus praktiziert. Wer die Erkenntnispotenz des Paradoxes bei Niklas Luhmann erfahren hat, wird Oscar Wilde aber womöglich nicht länger als »décadent« missverstehen.

Helmuth Plessner bescheinigte Theodor W. Adorno, dessen »Neigung zur aphoristischen Prägnanz« störe »permanent den Fluß der Darstellung«. Doch vielleicht schlimmer ist das Verdikt, dass da, wo alles prägnant ist, nichts prägnant bleibt. Schöne Stellen im Übermaß gehören zu einer Ästhetik des Hässlichen. »Die großen Aphoristiker lesen sich so, als ob sie einander alle gut gekannt hätten.« Elias Canettis harmonisierende Feststellung erhält erst mit Theodor W. Adornos Leitmotiv die notwendige ironische Pointe, dass im Reiche des Aphorismus alles mit Ähnlichkeit geschlagen ist, was sowohl gegen die Denker wie die Aphorismen verwendet werden darf.

Friedrich Nietzsche, der vielleicht letzte und größte Moralist, mag über die Untiefen aphoristischen Denkens besser unterrichtet gewesen sein, als er zugeben wollte: "Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der Erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der "Ewigkeit"; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt,—was jeder Andre in einem Buche nicht sagt ...«  Die Leitern der Philosophie, von denen Ludwig Wittgenstein spricht, werden entsorgt, um nur noch das konzentrierte Wahre zuzulassen. So merkt Zarathustra an, dass es zwar Begründungen gäbe, aber man sich unmöglich alle merken könne. Wir brauchen keine Gründe mehr, wir wissen nur noch und davon kündet der Aphorismus, der immer schon am Ziel allen Denkens angelangt ist. Jürgen Habermas erkannte das platonische Ideal Adornos, den Aphorismus als philosophische Form zu wählen, darin »daß Erkenntnis eigentlich das Gefängnis diskursiven Denkens sprengen und in reiner Anschauung terminieren müsse.« Dieses Ideal kann man auch als Ideologie beschreiben, wenn sich die Form vor die rekonstruierbare Einsicht setzt.

Überlebenskunst für Stilisten

Hochambitioniert kämpft Antoine de Rivarol gegen eine Welt im gesellschaftlichen Umbruch. Das Ancien Régime gibt ihm weiter die Überlebensregeln vor, was ihn per se verdächtig machte: »Le style est l'homme même.« Buffons berühmter anthropologischer Kurzschluss ist zwar für die Pariser Style-Welt wohl bis heute überzeitliches Wissen, aber im revolutionären Wildwasser reicht es damit zum Untergang. Denn der neue Stil ist das Kollektiv, weniger wohlmeinend gesprochen: die Stillosigkeit. »Wohllaut statt Wahrheit« (Jean Paul: »…nur um wohlzulauten, will mir und der Wahrheit nicht gefallen; aussprechen wäre besser als ausklingeln.«) ist eine Antinomie, die den Sansculottes nun geradewegs umgekehrt auf den Leib geschneidert ist. Die Wahrheit der Arbeit, deren großartigster Siegeszug in der Theorie noch bevorsteht, erweist sich in "Blood, Sweat and Tears", die das künftige Proletarier-Antlitz zur Imitatio Christi werden lassen. »Wer das Ancien Régime nicht kannte, wird niemals wissen können, wie süß das Leben war.« Doch genau von den Samt- und Seidebefindlichkeiten des dekadenten Adels will ein Revolutionär nichts mehr wissen, weil er ohnehin schon zuviel davon weiß.

Wie wehrt man sich gegen Zeitläufte, die so undurchsichtig wie uneinsichtig, so volatil wie volitiv werden? Man flüchtet in das Werk, schreibt für die »kommenden Jahrhunderte« und ist den »Zeitgenossen selten bekannt.« Und wenn der Kopf dann auch von der Guillotine abgetrennt wird, vorher war er bereits unsterblich. Später taucht dieses Wissen wieder bei Nietzsche auf, der buchhalterisch erklärt, den Tod wenig zu fürchten, wenn erst mal die gedruckten Werke im Tresor dem Autor eine unangreifbare Daseinsdauer verschaffen. Die Anekdoten der Treppenwitze, die nun keine mehr sein sollen, sind die vorzüglichste Überlebensgarantie, die gewährt wird. Es ist das ewige "Daraufhin erwiderte N.N." und schon springt der Protagonist in die Unsterblichkeit von filmreifen Szenen. Das erkennt man schön daran, dass solche Szenen, wie etwa einige der im vorliegenden Band Rivarol zugeschriebenen, auch gerne anderen Männern und Frauen von Geist attestiert werden. Jeder respektabel nachweltorientierte Moribunde sollte lebenslichttechnisch  erlöschend »Mehr Licht« gesagt haben. Deshalb wohl klagt der Profi Rivarol aus tiefer Kennerschaft und ewigem Bemühen: "Nichts ist so abwesend wie die Geistesgegenwart." Der ewige Kampf gegen den "l’esprit de l’escalier".

In der kristallinen Welt des Aphorismus ist alles klar und pointiert, selbst wenn es und gerade wenn es paradox formuliert ist. Die wirkliche Wirklichkeit hat ihre Komplexitäten, die der Aphoristiker nicht einfach verdrängt, sondern der er seine harten Konturen verordnet. So wissen wir längst, dass unsere Regeln die Wirklichkeit überformen, sogar falsch sein können, solange sie Haltung verleihen. Neulich wurde festgestellt, dass Männer Kontraste härter sehen, während die Wahrnehmung von Frauen mehr auf Zwischentöne achtet. Das mag der Grund sein, dass gerade für die Zeit, die wir betrachten, sehr geistreiche Briefschreiberinnen existieren, die schneidende, Gegensätze betonende Sentenz aber eine literarische Männerdomäne bleibt. Diese kleinen Formen literarischer Usurpation schaffen sich ihre Verhältnisse und Autoren. Wer würde heute noch mit der Sicherheit Rivarols eine Gesellschaft in jene Leute mit Geist, Herz und Empfindung gegenüber dem Meer von Schwätzern und Dummen einteilen? Unsere Öffentlichkeit hat wenig mit diesen distinguierten Salons zu tun, wo sich auf Dauer niemand verstecken konnte, ohne erkannt respektive entblößt zu werden. Biblische Verhältnisse geradezu. Dadurch wurde der Blick der geistreichen Protagonisten dieser Sphären immer wieder auf den Charakter der Menschen, ihre Eigenschaften zurückgeworfen. Nur diese Gesellschaft war die Gesellschaft, so wie der Neurotiker es nie eindringlicher war, als er noch in der Berggasse unendlich therapiert wurde. Diese psychologische Soziologie reicht als Beschreibungsmodell moderner Gesellschaften nicht allzu weit. Auf das psychologische Wissen Rivarols sind wir nicht angewiesen, wenn Systemvollzüge gerade von Menschen und dem größeren Teil ihrer psychologischen Befindlichkeiten abstrahieren. Der Mensch ohne Eigenschaften ist das systemgemäße zoon politicon geworden, während der Markt und seine Großmacht »Werbung« auf die statistisch vermessene Psyche einwirken. Wenn das Medium die Massage ist, machen wir uns unseren Menschen und verlassen uns nicht auf das psychologische Feinbesteck. Differenziertere Gesellschaften können sich einen undifferenzierteren Blick auf Menschen leisten. Im Umgang mit Menschen, die wir erkennen wollen, können uns Rivarols Betrachtungen immerhin helfen, eine subtile Kunst der Verachtung zu lernen, die aufgedrängte Nähe leichter – oder schwerer – macht. 

Aufklärung über die Aufklärung

Der gesellschaftliche Aufsteiger Antoine de Rivarol war der untergehenden Gesellschaft als reformbereiter Monarchist und Feind einer radikalen Revolution verpflichtet, so wenig er den ermatteten Adel, den er vorfand, noch als sein Ideal des höheren höfischen Menschen gelten lassen wollte. Den König hielt er für schwach, seine erste Verordnung sei eine Kaninchenjagd-Verordnung gewesen.

Hätte der ideologische Reflex zuvor gelautet, Rivarol hätte kein Klassenbewusstsein gehabt, muss es wohl dialektisch heißen, dass er zu viel davon besaß. Antoine de Rivarol war von der Herkunft her Kleinbürger, vom Naturell her ein Hochstapler und passte daher vorzüglich in eine untergehende Ständegesellschaft der Ränge, Ehren und Auszeichnungen. Immerhin konnte er vordergründig betrachtet seinen »Comte«-Titel meritokratisch damit verteidigen, dass nicht das Geblüt, sondern der Geistesadel zähle. Hätte er dieser Antinomie genauer nachgespürt, hätte er vielleicht auf die andere Seite der Barrikaden wechseln können. Diesen Diskurs ließ er nicht zu, weil seine politische Hintergrundannahme, die natürliche Einheit von blaublütiger Abstammung und Verdienst, in einer goldenen Zeit vor dem Verfall situierte. Um der paradoxen Kategorie willen könnten wir Rivarol einen royalistischen Rousseau nennen, der den Naturzustand des rechtmäßigen Herrschers beschreibt: Blut und Verdienst sind eine unio mystica, die der Mensch auf Erden nicht zu scheiden hat. Rational daran ist lediglich der fragile Versuch, die gesellschaftliche Utilität unhinterfragbarer Hierarchien zu behaupten. Die idealischen Protagonisten, denen er nacheiferte, waren indes längst nicht mehr das, was seinen Selbstentwurf beschrieb: »Die Adligen von heute sind nur die Gespenster ihrer Vorfahren.« Schon bald werden andere Gespenster erheblich realer werden. Aber das gelingt den neuen Gespenstern nur, weil dieser König und diese Adligen ihre Rollen und Potenzen verkennen.

Oswald Spenglers Feststellung, dass der Adel "als Ausdruck einer starken Rasse der eigentlich politische Stand" ist und "Zucht, nicht Bildung die eigentlich politische Art der Erziehung" hätte Rivarol auch als sein Credo gelten lassen. Der platonische Feudalismus, der ihm vorschwebt, verbindet eine starke Staatlichkeit mit der notwendigen Religion, weil die an das Licht gelangten Massen sonst nur im Chaos enden. Das Volk betrachtet er wie Kinder, denen es nicht bekomme, wenn sie eigene Entscheidungen treffen würden. Dem späteren Gottesstaatler Juan Donoso Cortés ist der Autoritätstheoretiker Rivarol nahverwandt, wenn er einen "ewigen Vertrag" zwischen Religion und Staat als unhintergehbaren Grund von Staat (und Gesellschaft) voraussetzt. Der Anker des Staatsschiffs befände sich im Himmel. Damit wird das Naturrecht um das Naturvertragsrecht erweitert, was im Paradox enden muss, keine Verträge mehr schließen zu müssen, wenn doch das göttliche Vertragsapriori die Beziehungen zwischen oberster Herrschaft, ihren Repräsentanzen auf Erden und bloßen Subjekten längst festgelegt hat. Das funktioniert also so ähnlich wie im Fall des Kommunikationsaprioris, das bereits das Ergebnis des herrschaftsfreien Diskurses beinhalten könnte. Rivarols prästabilierter Kontraktualismus entzieht den aufgeklärten Vertragstheorien die Geschäftsgrundlage, um weiter auf die divine Autorität zu bauen, so fragil sie sich doch gerade in diesem Moment erweist, in dem Robespierres "höchstes Wesen" die Köpfe rollen lässt.

Das Versagen des Himmelsaprioris ist auf die Verirrung der »Herde« zurückzuführen. In Sachen des Volkes hätte nur der Glaube anstelle der Wissenschaft regieren dürfen, und die Furcht weiterhin anstelle der Vernunft. Peter Sloterdijk hat diese Herrschaftsform als "Phobokratie" markiert, die ihre Theoretiker in Plato, Cicero und Augustinus fände. Sei jenen die Hölle als "Verfassungsorgan" erschienen, würde uns deren Äquivalent in den Massenmedien erscheinen. In Rivarols phobokratischem Konzept ist für die Masse kein irdisch wirkmächtiger Ort jenseits des Seelenheils vorgesehen. Es begründet eine ideale Dialektik, wenn das Volk den Monarchen fürchtet und dieser das Volk. Denn dann gebe es weder Aufstände noch Unterdrückung. Auch hier erweist sich Rivarol als Nahverwandter Spenglers, der an die Mission eines aufgeklärten Volkes nicht glaubte: "Politisch begabte Völker gibt es nicht. Es gibt nur Völker, die fest in der Hand einer regierenden Minderheit sind und die sich deshalb gut in Verfassung fühlen." Insofern ist der soziale Status der nicht vernünftig belehrbaren Masse der jener Tankwesen, die in der Matrix von royalistischen Agenten mit gut bekömmlichen Illusionen gespeist werden. Es sei ein "Verbrechen der Philosophie", Menschen mit "Unglauben zu beschenken", die aus eigenem Nachdenken nie so weit gekommen wären. Hier trifft die Revolution das variantenreich von Konservativen und Reaktionären aller Sorten formulierte Verdikt, dass die Aufklärung nie die Massen erreichen, sondern nur unglücklich machen kann. Die Aufklärung werde von schändlichen Agitatoren instrumentalisiert, die gerade so viele Parolen aus diesem Denken gewinnen, wie es nötig ist, um die "Massen" aufzuwiegeln. Rivarol konnte sich nicht vorstellen, dass eine Gesellschaft von aufgeklärten und kritischen Geistern zugleich eine glückliche Gesellschaft bilden würde, was seine Position immerhin gegenüber denen vorzugswürdig erscheinen lässt, die Fortschritt und Glück zusammen denken müssen. Rivarols Begriff von Staatlichkeit ist zwar utilitaristisch "infiziert", ohne dass er sich seine perfekte »ordo« einer stratifizierten Gesellschaft aber durch emphatische Menschenrechtsbeschwörungen und Fortschrittsoptimismus "verderben" lassen will. Hier wird auch Rivarols Nähe zu Nietzsche deutlich, der John Stuart Mill verachtete: ".... und die Vernichtung des Bösen als Aufgabe empfindet ( - das ist englisch, typischer Fall der Flachkopf John Stuart Mill)."

Die Religion wird in diesem Fremdbestimmungsprogramm sedierter Existenz zu einem pragmatischen Medium, das den Staat zusammenhält, die Menschen integriert, während die (neuen) Philosophen im Grunde und mit Gründen nur ein destruktives Geschäft betrieben. Mit wenig Philosophie könne man diese Erosionspolitik der Werte betreiben und nur mit viel Philosophie die Bedingtheiten rein kritischer Funktionen erkennen. Die wahre Philosophie immunisiert in ihrer höchsten Form gegen Zeitgeist, Weltseele,  Revolution und schlussendlich auch: gegen Philosophie. Insofern drückt Philosophie also ihre Zeit nicht in Gedanken aus, sondern transzendiert sie. Der Transzendentalcharakter der Philosophie ist ihr idealistisches Gegenprogramm wider die trügerischen Siege vergeblicher Revolutionäre.

Rivarol, der Philosoph, warnt vor den materialistischen Philosophen, vor Rousseau und anderen Aufklärern, die sich kein Gewissen daraus machten, die Menschen zu verführen. Nicht dass sie einfach Unrecht hätten, aber ihre Ideen schadeten nur der Masse, die dadurch unregierbar wird. Das ist eine schlimme Konfusion: Die Aufklärung wäre eine Verführung zum Unglücklichsein für jene, denen es an Verstand gebricht, die Ordnung nicht darüber zu vergessen.

Joseph Marie de Maistre hat es nicht anders gesehen, da auch für ihn die Revolution das Glück der Menschen verhinderte. Das ist aus Überzeugung erzreaktionär, markiert aber eindringlich, wie fatal die Differenzen zwischen ideologisch provozierten Glückseligkeiten und dem real existierenden Alltag sind. Freilich ist der Reim auf diese multipolare Äquilibristik zwischen Wissen, Ignoranz und Zufriedenheit kaum je eine Monarchie, die wider Rivarols Unterstellungen eben das Elend der vielen mit dem Untertanengeist verband und darin instabil werden muss. Eine präzisere Revolutions- und Aufklärungstheorie hätte erkannt, ohne geschichtsteleologisch undelikat werden zu müssen, dass ein »point of no return« erreicht ist. Glück muss mit Aufklärung kompatibel werden, so unglücklich diese Versuchsanordnung auch erscheinen mag. Das lag für Rivarol nicht so fern, wie es seinen permanenten Rückversicherungen im wahrsten Sinne des Wortes entsprach. Ihm erscheint die Monarchie als ambivalente Sphäre, weil er den real existierenden Untergang dieser Kaste sieht und die Monarchie des Geistes keine politisch tragfähige Idee eines autoritären Systems ist. Hinter der Unsterblichkeitsaphoristik arbeitet Rivarols Taxonomie des schwächelnden Geistes der honorigen Gesellschaft mit einem einfachen binären Schema, hier ist der überlegene versierte Weltbescheidwisserwitz, dort die Dummheit, hier der Geist des Salons, dort die bloße Schönheit. Einer perfekten Lösung wird diese heteronome Geworfenheit nur in der wenigstens sprachlich unanfechtbaren Sentenz zugeführt.

Eine konstitutionelle Monarchie, die Reformen als eigene Chance begreift, wie sie in Großbritannien praktiziert wurde, schien Rivarol wünschbar zu sein. Er verwehrte sich dagegen, als ein Günstling der Monarchie zu gelten oder gekauft zu sein, wenngleich er wusste, dass in solchen Zeiten jede politische Option nur in ihrem Extrem gedacht wurde. Ernst Jünger erinnert daran, dass die existentielle Option »Brüderlichkeit oder den Tod« von Rivarol als erstem erkannt worden sei. Hier wird jene gefährliche politische Emotionalität markiert, die auch heute noch als Energie eingesetzt wird, wenn Gründe nicht mehr gelten, weil die Erregungszustände des radikalen Subjekts machtstrategisch schneller zum Ziel kommen. Vernunft, Geschichte und Erfahrung würden aus dem Feld geschlagen, weil die Revolution nach Auffassung der Philosophen beispiellos sei. Die Exemtion klassischer Mittel, das Zurück der Revolution zu vorgeblich natürlichen Zuständen ist in der Tat die Kampflinie, die Robespierre auch in seiner berühmten Rede beschritt, als er im Verfahren gegen den König davor warnte, mit tradierten Regeln, mit Recht, Gerechtigkeit oder gar prozessualen Regeln das politisch völlig anders geartete Geschäft der Revolution betreiben zu wollen. Der Advokat wusste, warum er keine Advokaten in diesem Geschäft zuließ.

Edmund Burke, der sich in seinem zentralen Werk »Reflections on the Revolution in France« von Rivarols »Politischem Journal« maßgeblich informieren ließ, war sich mit diesem über die Desolatheit revolutionärer wie postrevolutionärer Zustände einig. Wie können »500 Advokaten und Dorfpfarrer« ihre Herrschaft dem Willen von Millionen oktroyieren? Daraus ließen sich geradewegs direktdemokratische Optionen oder Systemtheorien für komplexe Gesellschaften entwickeln, wenn das konservative Argument nicht jederzeit von der Autorität der Besten überzeugt wäre. So verbleibt es bei der revolutionären Gegenrhetorik, dass zuvor ein Monarch oder eine kleine Gruppe Adliger eben dieses von Burke perhorreszierte Oktroyierungsmodell praktizierten. Carl Schmitts Machtlosung erläuterte Konservativen schon lange vor ihrer Prägung den revolutionären wie konterrevolutionären Kampf um die Macht: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Revolutionäre haben keinen legitimatorischen Mehrwert, weil es für Rivarol keine Herrschaftsform gibt, die sich letztlich doch immer wieder auf die Herrschaft einiger Meinungsführer hinausläuft. Das fasst er in dem spöttischen Paradox zusammen, dass zwar die Souveränität beim Volk liegt, aber eben unter der Voraussetzung, dass das Volk die Souveränität niemals ausübt. Wichtig ist nur,  dass eine Ordnung besteht, die durch die Macht gesichert ist, nicht dagegen, ob die jeweiligen ideologischen Zurüstungen der Wahrheitsfrage standhalten. Dem König teilte er mit, er solle sich auch wie ein König verhalten. Würde der Adel sich auf seine Rolle besinnen, dann gäbe es kein revolutionäres Chaos. Auch das ist je konservatives Herrschaftswissen: " Mangel an Führereigenschaften in der herrschenden Schicht ist es, was als mangelndes Gefühl der Sicherheit bei den Beherrschten zum Vorschein kommt, und zwar in jener Art von instinktloser, sich einmischender Kritik, die durch ihr bloßes Vorhandensein ein Volk außer Form geraten läßt." (Oswald Spengler)

Jenseits der Sprachspiele

Rivarols Sprachspiele sind ein Denken »in nuce«, wie wir es von den großen anderen Moralisten, La Rochefoucauld (1613 - 1680), La Bruyère (1645 - 1696), Vauvenargues (1715 - 1747), Nicolas Chamfort (1741 - 1794), dem großartigen Joseph Joubert (1754 - 1824) oder dem von Nietzsche bewunderten Abbé Galiani (1728 - 1787) kennen. In einem einzigen Satz gilt es, einen Kontinent der Erkenntnis zu kolonisieren. Der imperiale Beweis einer Maxime liegt in ihrer Form. Ästhetik als Wahrheit ist nicht die schlechteste Validisierung für den, der der Sprache aus mehr als einem Grunde vertraut. Zugleich liegt hier eine gefährliche Attraktivität, die politisch von denen goutiert wird, die schnelle, konzise Wahrheiten ohne Diskurse und demokratische Umwege wollen. Ernst Jünger sprach davon, dass solche geistreichen Konzentrate nur in Prisen einzunehmen wären, was ihre aristokratische Exklusivität und Salontauglichkeit, dem Modell der versilberten Tabaksdose folgend, geradewegs belegt. Der Aphorismus ist für Denker mit fundamentaleren Absichten eine gefährliche Sprachform. Denn er folgt einer Rhetorik, die sich der philosophischen Rekonstruktion entzieht und im Sturm die Wahrheit erobern will. Auf der Flucht, in der Emigration, auf den Wegen und Irrwegen der Politik wird der Aphorismus zum Handgepäck, weil Königsberger Sitzungen oder Kartesianische Meditationen kaum mehr möglich erscheinen. Dabei ist der Königsberger Chinese selbst ein arger Maximenreiter. Denn zu behaupten, eine Maxime des subjektiven Willens allein, so sie denn allgemein genug sei, würde die Moral für alle Zeiten programmieren, ist eine so ingeniöse wie telegrammatische Prätention: »Handle nach Maximen, die sich selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstande haben können.« Hier werden Maxime und Gesetz, individuelle Moral und gesellschaftliche Verfassung so kurz geschlossen, dass dem Teufel keine Lücke bleiben soll. Mit dieser Maxime werden nicht nur alle moralischen Fragen des Subjekts gelöst, sondern auch zahlreiche Disziplinen gegenstandslos, die sich später nicht sehr viel erfolgreicher, aber komplexer und aufwändiger diesen Fragen in globalen Problemlösungsszenarien widmen. So verschiedene Figuren wie Rivarol und Immanuel Kant treffen sich im Zeichen praktischer Vernunft, von der Hoffnung geprägt, die Potenz rationaler Maximen müsse ausreichen, die Fortbildung des Menschengeschlechts unwiderruflich zu garantieren. Dass dabei die emotionale Kognition eine herausragende Rolle spielt, war Rivarol allerdings geläufiger als dem Königsberger.

Im Vexierspiel des Geistes wird der Aphorismus zu einer kontingenten Währung. So fehlen bei allem Scharfsinn und dem - nach den revolutionären Entwicklungen zu urteilen - ungedeckten Glauben an die Wahrheit der Sprache eben die benötigten Distinktionen, die sich in der Wissenschaftsgeschichte erst nach Rivarol einstellen. Die gegen das System gerichtete Kunst des Denkens (Esprit systématique versus esprit de système) zielte auf das Besondere, auf die Phänomene, ein "Zurück zu den Sachen", ohne langfristig die Hoffnung zu begründen, aus Aphorismen könnten Theorien werden. Es geht zuletzt um partikulare, mehr oder weniger nuancierte Erkenntnisse von Menschen und Gesellschaften. Die Moralisten kamen aus einer Gesellschaft, die Maske, Larve, Spiel und Verstellung liebte. Die Moralisten schauten dahinter, ohne dabei selbst die Freude an der Maske zu verlieren. Ja mehr: Die Maske erst macht den Interpreten. Die Erkenntnis gefällt sich darin, immer auch ein wenig enigmatisch zu bleiben, um sich darin der Distinguiertheit des eigenen Denkens zu vergewissern. Insofern ist die literarische Form das Erkennungszeichen einer sozialen Zugehörigkeit. Wie grauenhaft wären Selbstverständigungstexte für dieses Instrumentarium indiskreter Einsichten gewesen.

So wie wir es bei Choderlos de Laclos oder Pierre Carlet de Marivaux erleben, kann man gerade nicht den Sinnen vertrauen, so sehr und weil sie einen verführen, sondern dem Brennglas des psychologischen Verstandes. In diesen Spielen von Liebe und Zufall wird man, wie es Nietzsche später formulierte, zum »Nierenprüfer«, der »Menschliches, Allzumenschliches« auch noch da befördert, wo die soziale Distanzlosigkeit dem Erkennenden nicht weniger Probleme bereitet als Zeichen, die ihre Markierungsfunktion verlieren.  Rivarol verachtete Höflinge, sah aber, dass ihre Distinktionen nur auf dem glatten Parkett Versailles gedeihen konnten. Zudem waren bei Hof die Rollen wenigstens ehrlich verteilt, während der aufkommende Patriotismus die »Heuchelei unseres Jahrhunderts« sei. Ehrgeiz und Herrschsucht versteckten sich in dieser Mode. Höfische Eleganz und Mummenschanz waren aufrichtiger als die Authentizität des »citoyen«, weil sie ihre Herkunft aus dem Reich der Anmaßung kaum bestritten.

Der ewige Ruhm

Was bleibt von diesem moralistischen Wissen "in actu"? Wir könnten daraus eine Authentizitätstheorie gewinnen, die darum weiß, dass das nicht festgelegte Tier in seinen selbst inszenierten Rollenzuweisungen Authentizitätsgewinne einfährt und sich trotz aller evolutionärer Widrigkeiten bei Laune hält, von denen sich das zum Selbst befreite Bewusstsein nichts träumen lässt.   

Die paradox angelegten Psychologien im Sinne der Moralisten sind heute Mangelware. Facebook trivialisiert das Selbst bis zur Erkennbarkeit. Die Verführung des Einzelnen in der Politik oder Werbung mutierte schon vorher zu einem statistischen Geschäft, das persönliche Idiosynkrasien oder durchkonstruierte Charaktere viel zu aufwändig erscheinen lässt. 15 Minuten und ab in den Orkus! Zum eigentlichen Erkenntnisgegenstand der Gesellschaft wurden Kommunikationen und ihre systemische Einfriedung, nicht deren konkrete Urheber. Der Salon wurde durch das Netzwerk ersetzt. Die Akteure sind "Apps" der Konzerne. Nicht nur der Berg, alles ruft nach Konnektivität, Anschlussfähigkeit, schnellem Querpass zu Geld und Ruhm. Wir verlassen uns weder lebensweltlich noch im System auf Menschenkenntnis, sondern auf instantan bereit gestellte Regeln.

Rivarol erahnte bereits, wie die Öffentlichkeit der künftigen Gesellschaft konstruiert sein könnte: »Man muss deutlich zwischen der arithmetischen und der politischen Mehrheit eines Staates unterscheiden.« Hier leuchtet auf und ein, was später als politische Öffentlichkeit gelten wird: Eine Sphäre, in der sich gleichermaßen demokratische Ideale verwirklichen, so wie sie auch hintertrieben werden. »Braucht man eine andere Herrschaft, wenn man durch die Meinung regiert?« In diesem Punkt war Rivarols Glückseligkeitsprogramm qua Antiaufklärung der Massen nicht so verschieden von der Idee einer politischen Öffentlichkeit, die so politisch korrekt ist, dass sie einen wirklich freien Diskurs erst gar nicht zulässt. Insofern ist Diskursethik nicht nur eine »Quasselethik« (Peter Sloterdijk), sondern auch ein schneidiges Programm der Exklusion solcher Diskursbeiträge, die keine Inauguration durch die präformierte Öffentlichkeit aufrechter Demokraten erwarten dürfen. Demokratien leben vom selbst gesetzten Ideal ihrer Herrschaft besseren Wissens und wider besseres Wissen, ohne sich je um Widersprüche zwischen Wissen und Zustimmung allzu sehr zu bekümmern. Die zahllosen Filter demokratischer Meinungsbildung bilden einen blinden Fleck, der am ehesten doch von vernunftorientierten Reaktionären wie Rivarol erkannt werden sollte. Dabei blieb er ein Kind seiner Zeit, für das die Revolution das allerunheimlichste aller politischen Phänomene ist: "Ein großes Volk im Aufruhr kann nichts als Hinrichtungen vollziehen." Was hier als geschichtstranszendente Einsicht präsentiert wird, bezeichnet doch nichts anderes als die französische Revolution, was wiederum belegt, dass die aphoristische Verallgemeinerung der Verhältnisse ihre induktive, besser noch: lebensgeschichtliche Herkunft selten erfolgreich verschleiern kann.

Wir verstehen jetzt ein wenig besser, warum die politisch wenig korrekten Moralisten in den geistigen Limbus des Zitatenschatzes verräumt wurden, aus dem nun Antoine de Rivarol von Matthes & Seitz befreit wurde. Sein Schicksal, wie das der meisten anderen »Moralisten«, ist das einer literarischen Zwischenexistenz, die sie in die Besucherritze der großen, auch und gerade politisch ambitionierten Systeme fallen lässt. Diesen Spruch halten wir für "hegelianisch", jenen für "frühsozialistisch" und "marxistisch" oder gerne auch "poststrukturalistisch", doch Aphoristiker bleiben für ewig literarische Duftmarkenexistenzen und stehen hinter Systemriesen zurück.

Vielleicht wäre Rivarol ein wenig mit seinem publizistischen Schicksal versöhnt, wenn er die vorliegende Edition in Händen hielte. Zu Lebzeiten war er auf Verleger mächtig schlecht zu sprechen: "Alle Verleger sind Werkzeuge des Teufels, für die es eine besondere Hölle geben müsste." Und: "Es ist leichter, mit Christus über das Wasser zu laufen, als mit einem Verleger durchs Leben zu kommen." Jetzt geht es noch einmal um alles, um den wahren posthumen Ruhm, der sich durch diese Veröffentlichung noch zu einigen Höhen aufschwingen könnte.
 

Antoine de Rivarol
Vom Menschen
Gedanken und Maximen, Porträts und Bonmots
Auswahl und Übersetzung von Ulrich Kunzmann
Nachwort von Johannes Willms
Matthes & Seitz, Berlin 2012
498 Seiten, geb. mit Schutzumschlag
Buch ISBN: 978-3-88221-740-7
Preis: 39,90 € / 50,50 CHF
eBook ISBN: 978-3-88221-951-7
Preis: 19.99 € / 24.99 CHF

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