Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Herbstlese '24

10 Leseempfehlungen mit Qualitätsgarantie

Wer ist Claire Gravesend?

Das fragt sich auch Privatdetektiv Lee Crowe, der Protagonist in James Kestrels neuem Thriller »Bis in alle Endlichkeit«, als er sie tot an einem frühen Sommermorgen 2019, in einem feinen Cocktailkleid, auf dem Dach eines Rolls-Royce, im gefährlichsten Viertel von San Francisco, auffindet. Laut der Polizei und Gerichtsmedizin war es Selbstmord, doch Claires Mutter, die schwerreiche und einflussreiche Olivia Gravesend, willl das nicht glauben und beauftragt Crowe mit der Aufklärung des Falls. Der entdeckt bereits bei der Autopsie seltsame kreisförmige Narben an Claires Wirbelsäule, entgeht dann nur knapp einem Mordanschlag und findet die schlafende Claire schließlich in einem ihrer Zimmer, lebend. Crowe ist wieder ganz am Anfang.


James Kestrel - Bis in alle Endlichkeit - suhrkamp taschenbuch 5435 - Aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux - Herausgegeben von Thomas Wörtche - 430 Seiten - 20,00 € - 978-3-518-47435-8 Leseprobe & Infos


Leben & Sterben
in
Neapel 1943

Den Krieg gegen die Alliierten haben die Italiener verloren; nun kämpfen sie mit den Amerikanern gegen die Deutschen. Der Protagonist namens Malaparte, begibt sich als Verbindungsoffizier bei den Besatzern auf eine Odyssee durch ein zerstörtes Land, dessen Bewohner in Elend und Chaos leben. Unter den Trümmern liegen Tote begraben, Frauen wie Männer verkaufen ihre Körper an die GIs und die spendablen GIs an ihre Landsleute. 
Im Kampf um das nackte Überleben geht auch die Menschenwürde vor die Hunde; der Erzähler stemmt sich mit allen Mitteln des Denkens und der Sprache dagegen, zynisch, anklagend, philosophisch, poetisch, zutiefst menschlich. Und dann bricht in der mythischen Landschaft Kampaniens auch noch der Vesuv aus …
Fäulnis und Zerstörung malt dieser epochale Roman in Bildern voll unvergesslicher Schönheit. Ein moderner Klassiker, der in unserer kriegerischenTagen so aktuell ist wie bei seinem Erscheinen 1949.

Curzio Malaparte
-
Die Haut - Neu übersetzt von Frank Heibert - Rowohlt - 528 Seiten - 34,00 € - 978-3-498-00163-6 - Leseprobe & Infos

Literatur als Zeugenschaft

»Ich habe immer gedacht, dass es das Ende ist, wenn der Himmel auf die Erde fällt. Am 3. August 2014 ist der Himmel nicht auf die Erde gefallen, aber trotzdem war es das Ende.«
Nach ihrem Debüt Die Sommer legt Ronya Othmann den zweiten Roman vor. Sie findet darin eine Form für das Unaussprechliche, einen Genozid, den vierundsiebzigsten, verübt 2014 in Shingal von den Kämpfern des IS. Vierundsiebzig ist eine Reise zu den Ursprüngen, zu den Tatorten: in die Camps und an die Frontlinien, in die Wohnzimmer der Verwandten und von deutschen Gerichtssälen weiter in ein êzîdisches Dorf in der Türkei, in dem heute niemand mehr lebt.

Ronya Othmann - Vierundsiebzig - Roman - Rowohlt - 512 Seiten - 26,00 € - 978-3-498-00361-6 Leseprobe & Infos


Schönheit aus großem Schmerz

Ihre großartigen Blumenbilder machten sie weltberühmt -
Georgia O'Keeffe Amelia Martin blickt zurück auf das Leben der Malerin: Auf die schillernden Jahre in New York, wo sie umgeben von Künstlern und Fotografen wilde Jahre verbringt; ihr politisches Engagement bei der National Woman's Party, nicht zuletzt auf ihre große Liebe zu Alfred Stieglitz, dessen Aktfotografien von Georgia ihr Gesicht weit über die Grenzen der USA bekannt gemacht macht. Als sie in ihren Fünfzigern, in der Ruhe ihrer Ranch in New Mexico, endlich die Erdung findet, die sie ihr ganzes Leben gesucht hat, wird klar, dass sie ihrem Ehemann und Förderer Stieglitz längst entwachsen ist: Unbeirrt geht sie ihren steinigen Weg zu einer Kunst, die dem Leben in all seiner morbiden Vollkommenheit huldigt, und wird damit unsterblich.

Amelia Martin -
Die Farben der Wüste -Ullstein Taschenbuch - 480 Seiten - 14,99 € - 9783548068886




Wie viele andere hat auch Wassili Semionowitsch Grossman (1905-1964) die Lebenswirklichkeit des stalistischen Terrorreghimes an Lein und Seele erfahren. Er war zunächst einer der anerkanntesten linientreuen Schriftsteller der Sowjetunion. Die Erfahrungen während des Krieges, die Katastrophe der europäischen Juden, die auch ihn unmittelbar traf, sowie die vielen Schicksale, denen er als Korrespondent der Armeezeitung Roter Stern begegnete, veränderten sein Leben jedoch von Grund auf und er wurde zu einem der unbeugsamsten Chronisten seiner Zeit.
Sein großes Stalingrad-Epos, dessen zweiter Band »Leben und Schicksal« 1961 beschlagnahmt wurde, erschien erst 16 Jahre nach seinem Tod in einem russischen Exilverlag in der Schweiz und wurde von dort aus in 20 Sprachen übersetzt.
Es ist das Jahr 1961, Wassili Grossman rattert im Zug nach Jerewan, eine der ältesten Städte der Welt. Tief getroffen von der Beschlagnahmung seines Romans reist er durch Armenien. Auf der Suche nach neuem Atem in der Ferne findet er unter den Trümmern der Geschichte des 20. Jahrhunderts Menschlichkeit, Wärme und alles verändernde Eindrücke, und er beginnt zu schreiben.

Die »Armenische Reise« zeichnet ein Bild der Person Grossman hinter dem Verfasser der großen Erinnerungsromane über die Schlacht von Stalingrad, die Shoah und die Hungersnot in der Ukraine. In seinen feinsinnigen Reisenotizen zeigt sich er als ein hartnäckiger, kraftvoller Denker mit Sinn für Witz und wohltuender Bescheidenheit. In seinen Streifzügen wechseln Bekenntnisse, Essays und Anekdoten einander spielerisch ab. Jede Begegnung bringt eine Geschichte mit sich und so setzt sich die Historie dieses Landes, die Repressionen der 1930er Jahre, der Stalinkult, der Zweite Weltkrieg, die Massaker an den Armeniern in der Türkei, die nationalsozialistischen Verbrechen, wie ein Spiegelbild der Erinnerung zusammen. Die »Armenische Reise« ist nicht nur eine sehr persönliche Begegnung mit dem Schriftsteller Grossman, es ist das Zeugnis eines brillanten Beobachters – voller Rätsel und Hingabe an ein geschundenes Land.

Wassili Grossman -
Armenische Reise - Aus dem Russischen von Christiane Körner - Claassen - 208 Seiten - 24,00 € - 9783546100939

Artikel online seit 25.09.24
 

Ein Weckruf

Timothy Snyder ist «der führende Interpret unserer düsteren Zeiten» genannt worden. Nur wenige Intellektuelle haben wie er mehr als eine halbe Million Follower bei X und schreiben Bücher, die gleichzeitig in zwei Dutzend Sprachen erscheinen. Sein Weltbestseller «Über Tyrannei» hat Millionen Menschen in Washington, Kiew und Hongkong ermutigt, sich für die Freiheit einzusetzen und notfalls auch Widerstand zu leisten. Nun legt der unermüdlich gegen Putin wie gegen Trump kämpfende Historiker ein brillantes Buch vor, das erklärt, was Freiheit bedeutet, wie sie oft missverstanden wird und warum sie unsere einzige Chance ist zu überleben.
Sadopopulistische Demagogen vom Schlage eines Donald Trump und digitale Oligarchen im Silicon Valley, ukrainische Soldaten an der Front und Schwerverbrecher in einem Hochsicherheitsgefängnis in Connecticut – sie alle treten auf in diesem faszinierenden Buch. So wie Simone Weil, Edith Stein, Vaclav Havel und die Freiheitsglocke, die er als Kind geläutet hat. In einer leidenschaftlichen Tour de force handelt «Über Freiheit» vom alltäglichen Rassismus in den USA und der Social Media-Überflutung unseres Denkens, von der aggressiven sozialen Ungleichheit und der gigantischen Fehlentwicklung eines vergeudeten halben Jahrhunderts. Sein aufwühlendes Buch ist ein Weckruf, die Zukunft endlich in die Hand zu nehmen und uns gegen die Welle der Unfreiheit zu wehren, die über uns hereingebrochen ist.

Timothy Snyder - Über Freiheit - Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn - C.H. Beck - 410 Seiten - 29,90 € - 978-3-406-82140-0 Leseprobe & Infos

Fundiertes Standartwerk

Die arabische Welt ist mehr als die Summe der Länder, in denen überwiegend Arabisch gesprochen wird. Seit der Expansion des Islams bildet sie einen religiösen und kulturellen Resonanzraum mit immer wieder neuen Ansätzen zur politischen Einheit. in dieser neuen Geschichte der arabischen Welt beschreiben international renommierte Experten, wie sich diese «Welt» seit der Spätantike formiert hat, wie die arabische Kultur weit über diesen Raum hinaus – bis nach Europa und Amerika – verbreitet wurde und welche Besonderheiten die einzelnen Regionen bis heute prägen. So ist das Buch zugleich ein fasinierender Beitrag zur Globalgeschichte der letzten zweitausend Jahre aus arabischer Sicht.

Andreas Kaplony -
Geschichte der arabischen Welt  - C.H. Beck - 904 S., mit 5 Karten - 68,00 € - 978-3-406-82244-5 Leseprobe & Infos

Ungleichheitsforschung

Wie hat sich das Nachdenken über Ungleichheit im Lauf der Jahrhunderte entwickelt und welche ökonomischen Lehren haben dabei jeweils den Ton angegeben? In seinem neuen Buch widmet sich Branko Milanović in funkelnden Porträts einigen der einflussreichsten Ökonomen der Geschichte. Im Kontext von Leben und Werk zeichnet er die Entwicklung ihres Denkens über Ungleichheit nach und zeigt, wie sehr sich ihre Ansichten unterschieden haben. Tatsächlich, so Milanović, kann man nicht von »Ungleichheit« als einem überzeitlichen Konzept sprechen: Jede Analyse ist untrennbar mit einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort verbunden.
Milanović führt uns von François Quesnay und den Physiokraten, für die soziale Klassen gesetzlich vorgegeben waren, zu Adam Smith, David Ricardo und Karl Marx, die Klasse als eine rein ökonomische Kategorie betrachteten. Er schildert, wie Vilfredo Pareto Klasse als Unterscheidung zwischen einer Elite und dem Rest der Bevölkerung rekonstruierte, während Simon Kuznets das Stadt-Land-Gefälle als Ursache der Ungleichheit ausmachte. Und er erklärt, weshalb die Ungleichheitsforschung während des Kalten Krieges ins Hintertreffen geriet und warum sie heute wieder ein zentrales Thema der Wirtschaftswissenschaften ist. Eine brillante neue Geschichte des Nachdenkens über Ungleichheit.

Branko Milanović - Visionen der Ungleichheit - Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart - Aus dem Amerikanischen von Stephan Gebauer - Suhrkamp - 443 Seiten - 34,00 € - 978-3-518-58817-8 Leseprobe & Info

Geist & Macht

Im Sommer 1955 treffen auf dem Campus der Harvard University zwei Überlebende aufeinander: Henry Kissinger, der 1938 vor der Judenverfolgung noch rechtzeitig nach Amerika entkam, und Siegfried Unseld, der als Soldat Adolf Hitlers in den Krieg gegen die Sowjetunion gezogen war und sich in Sewastopol nur retten konnte, indem er aufs offene Meer hinausschwamm. Im International Seminar in Harvard, das der aufstrebende Professor Kissinger für kommende Größen aus aller Welt veranstaltet, beginnen beide, ihre Netzwerke zu knüpfen, die ihnen den weiteren Aufstieg ermöglichen werden – Kissinger zum Berater Nixons und zu einem Weltpolitiker, Unseld zu einem der bedeutendsten Verleger der Bundesrepublik. Durch ihre Herkunft hätten sich beide nicht ferner sein können – doch bleiben sie über die Literatur miteinander verbunden. In seinem packenden Doppelporträt, das auf bisher unbekanntem Archivmaterial basiert, erzählt Willi Winkler die ebenso überraschende wie faszinierende Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft – und führt zugleich vor Augen, wie sich Geist und Macht, Literatur und Politik, Deutschland und Amerika im 20. Jahrhundert verbinden. Ein aufregender Gang durch einen schillernden Kosmos der Nachkriegszeit.

Willi Winkler - Kissinger & Unseld - Die Freundschaft zweier Überlebender - Rowohlt - 304 Seiten - 24,00 €
978-3-7371-0219-3


Kraftquelle

Die Vergangenheit vergeht nicht. Sie ist immer präsent. Wie ist es möglich, eine fruchtbare Beziehung zu den eigenen Erinnerungen aufzubauen? Die Neurowissenschaften bestätigen heute, was die Philosophie schon lange weiß: Das Gedächtnis ist dynamisch und beweglich. Unsere Erinnerungen sind nicht starr, sie ähneln einer Partitur, die es zu interpretieren gilt.
Der Philosoph Charles Pépin bringt antike Weisheiten, kognitive Wissenschaften, neue Therapieformen und Klassiker der Philosophie zusammen. Das individuelle Glück hängt mit der Fähigkeit zusammen, gut mit der eigenen Vergangenheit zu leben. Sie kann zu einer Kraftquelle für die Zukunft werden – das beweist dieses vor Optimismus sprühende Buch.

Charles Pépin - Mit der eigenen Vergangenheit leben - Eine Philosophie für den Aufbruch - Übersetzt aus dem Französischen von Caroline Gutberlet  - Hanser - 256 Seiten - 24,00 € - 978-3-446-28011-3
 


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