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Letzte Ausfahrt 2023
Vier Empfehlungen zum Jahreskehraus |
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Lutz Rathenow:
Er sei ja ein "nörgelnder Charakter", so Rathenow 1996 zu Carsten Gansel und Martin stellt in seinem Nachwort heraus, wie Rathenow mit Eingaben an Behörden, An- und Rückfragen und seinen gleichnishaften Texten der DDR-Nomenklatura auf die Nerven ging, so viel "Schaden wie möglich anrichten" wollend. Eine Ausreise kam für ihn nicht infrage, vermutlich auch, weil man dies irgendwie erwartete. Dabei findet man politisch markant vorgebrachte Überzeugungen bei Rathenow ebenso vergeblich wie den Drang, sich nach der Wende als Besserwisser zu inszenieren. Sein "Wille zur Distanz, sich nicht zu sehr beeindrucken zu lassen" (eine Erzählfigur wird so beschrieben) hielt auch nach dem Mauerfall an. Beklagte er 1986 im Wiener die gegenseitige "übertriebene Toleranz" der Intellektuellen "für die Schwächen des anderen Staates", so entdeckte er zehn Jahre später den Kapitalismus mit Tübinger Antlitz. Die Jugend traf sich "zu Mülltrennungsfesten". Alles war "vorschriftsmäßig und "die Zukunft wird gut".
Der Band besticht durch eine große Bandbreite der Genres. Der Leser vergnügt sich über das Schalkhafte seiner Parabeln und bewundert diese skurrilen, an Märchen oder Fabeln anknüpfende Geschichten genau wie die Grotesken, wenn etwa ein Spitzel beschrieben wird, der sich Gegenständen anverwandelt, um nicht gesehen zu werden oder Fritz, den Dieb, der zum Engel wird, als er bei einem Einbruch ein kleines Mädchen vorfindet und ihm Geschichten erzählt, um nicht entdeckt zu werden. Zwischenzeitlich muss man sich daran erinnern, dass Rathenow unter ständiger Beobachtung der Stasi stand (15.000 Seiten Material fanden sich später über ihn) und Balanceakte vollführen musste. Es verwundert fast, dass er 1980 nur neun Tage in Haft gekommen war (freilich wusste er nicht, dass es dabei bleiben sollte). Über seine Eindrücke dieser Haft finden sich nachträglich verfassten Notizen im Band. Was bleibt von der DDR? Eine "Briefmarkenhinterlassenschaft"? Trauer oder Glück? Weder noch. Einmal heißt es: "Er befahl sich, einfach glücklich zu sein." Wenn das so einfach wäre. 2011 übernahm Rathenow gesellschaftspolitische Verantwortung, war zehn Jahre Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Ab der
1990er Jahren schreibt er auch Reportagen, war bei DDR-Verehrern in Uruguay zu
Gast, fuhr 2003 im Bus nach Kaliningrad, war in Alexandria während des
Arabischen Frühlings oder entdeckte Menschen am Alexanderplatz. Der letzte Text
in diesem rundum gelungenen Buch handelt von einem Protagonisten, der fasziniert
von den Handytelefonaten seiner Mitmenschen ist und am liebsten den Leuten
folgen möchte, um zu erfahren, wie es weitergeht.
Per Leo:
Bölls Text entstand "ziemlich genau in der Mitte zwischen der Formierungsphase jener mächtigen Wirklichkeit, für die in den 1920er-Jahren der Name 'Ruhrgebiet' aufkam, und unserer Gegenwart." Kurz zuvor wurden sowohl die Subventionen wie auch "die Einfuhrzölle für ausländische Kohle aufgehoben und damit die westdeutsche Montanwirtschaft der Dynamik des Weltmarkts ausgesetzt". Das Zechensterben begann, schleichend, aber unaufhaltsam. Als die Unausweichlichkeit deutlich wurde, verfiel man "zwischen Größenwahn und Panik", entwarf Utopien für die Zukunft, wie "schwarz-grünen Symbiosen aus Förderanlagen, Veredelungsfabriken, hochmoderner Infrastruktur und waldumkränzten Mustersiedlungen" oder großflächigen Park- und Denkmalanlagen, alles mit "einem Pragmatismus, der schon eine simple Straße zwischen Duisburg und Dortmund, den sogenannten Ruhrschnellweg, als Triumph der Regionalplanung über den Wildwuchs der Bahntrassen und Feldwege feierte." In Wahrheit herrschte (herrscht?) im Ruhrgebiet Kirchturmpolitik und Provinzialismus. Leo gelingt es, die Zerrissenheit zwischen Erinnerung und Zukunft, Nostalgie und Utopie als Besonderheit der Region herauszuarbeiten: Diese "lag nicht im Tempo der Veränderung, sondern zum einen in der Radikalität, zum anderen in der Serialität des Verschwindens."
Im zweiten Teil
widmet er sich einzelnen herausragenden Protagonisten der Region, wie dem
"Klartext"-Verleger Lutz Claßen sowie der sogenannten "Essener Schul", einem
losen Zusammenschluss etwas anderer Historiker (Lutz Niethammer Detlev Peukert,
Michael Zimmermann, Erich Schmidt), die nach Interviews mit Zechenarbeitern über
ihre Zeit im Nationalsozialismus zu der Erkenntnis kamen, "dass das Volk sich
nicht um die Zäsuren scherte, die den Ideologen, den Politikern, den
Journalisten und den Historikern so unhintergehbar erschienen." Schließlich wird
die Bedeutung des Münchner Olympiaparks für die diversen Projekte der
Post-Kohle-Ära thematisiert. Man wird in diesem Buch über den Unterschied
zwischen Text- und Fotobänden geschult, erfährt die Differenz zwischen Raum und
Land, bekommt Details zur Emscher-Renaturierung und erlebt gegen Ende das
(visionär erscheinende) Idealbild für das Ruhrgebiet als einer "Landschaft, ein
Stück Land, dessen Werden man bewohnen und dessen Vergehen man bereisen kann."
Dies vergegenwärtigt, versteht man den Titel des Buches.
Wolfgang Hermann:
Am Schluss ein "Nachspiel". Der Erzähler rekapituliert seine Reiseeindrücke und je nach Land werden die verschiedenen "Spielarten des Regens mit unendlich vielen Spielarten des Lichts" weniger erzählt als herbeigezaubert. So schön kann Regen sein. Wo man wohl den waagerechten Schneeregen finden kann? Und wie fühlt sich der Regen der ostasiatischen Regenzeit im Juni an?
Wer kann, sollte aus der Lektüre ein kleines Ritual machen: Jeden Tag einen
Eintrag lesen (und sich praktisch als Zugabe an der ein oder anderen Zeichnung
von Timna Brauer erfreuen). Die Welt ist danach reicher.
Peter Handke:
Fast immer wird personal aus Gregors Sicht erzählt, nur manchmal, unverhofft, ins "Ich" gewechselt. Es ist ein Spiel mit sich selbst, was der Dichter treibt. In Immer noch Sturm kehrte der Patenonkel als Widerstandskämpfer ins freie Kärnten zurück. Und jetzt, in der Ballade, achtzig Jahre nach seinem Tod, als Wiedergänger und Handke selber wird zum Täufling, um den es vordergründig bei diesem Besuch geht (und dessen Zukunft später gepriesen wird) und dies sogar inklusive der "Vaterlosigkeit" (in Wahrheit hatte er ja zwei Väter). Den Gregor Werfer der 2020er Jahre hält es nicht lange im Elternhaus, bricht auf, zu einer dieser Handke'schen Ein-Mann-Expeditionen, die man glaubt zu kennen, aber immer anders verlaufen. Heuer geht es in den verwilderten Garten, dort wird der Wildwuchs mit der Motorsäge beseitigt und plötzlich zeigt sich ein Wildapfelbaum mit vollen, bitteren Früchten, "daß es dir das Arschloch zusammenzieht bis Allerseelen." Weiter im Wald; Übernachtung in einem einstigen Bombentrichter. Kurz wird er zum Wald- und Welterklärer einer "Waldforschungskarawane", erzählt von geheimnisvollen Flechten (das Cover!) und ihren Wirkungen, fühlt sich aufgehoben und hin- und hergerissen zwischen Einsamkeit und Menschensehnsucht. Er trifft den "abgedankten Pfarrer" dieser "verstummten und verwehten Dorfkirchengemeinde" und wird schließlich zum "Gasthaussitzer". Auch hier erfährt er Gesellschaft, Zusammenhalt, aber bleibt in stetiger Unrast, vor allem mit sich selbst. Am Abfahrtsbahnhof erzählt er schließlich der Schwester vom Tod des Bruders. Nach der "langsamen Heimkehr" zurück, wird noch einmal die Woche evoziert und mit dem Leben abgeglichen. Da war dieses fußballspielende Mädchen: "Etwas Derartiges hatte die Welt, zumindest in seiner, meiner Person noch nicht gesehen." Die im Wind schwankenden Spinnennetze. Unsichtbare Spatzen in den Büschen raschelnd. "Ein Igel als Blindenhund." Das Sehen wollte nicht mehr aufhören. "Ja, das waren noch Zeiten," so heißt es am Ende, weniger melancholisch oder beschwörend, sondern fast heiter, eben balladesk. Ein Abschied? Man kann es so lesen. Oder nicht doch eher Kondensat eines Lebens? Ob ich ergriffen war, fragte Handke. Ja, sagte ich, gegen Ende, als Gregor wieder zu Hause war und, so vermute ich, die Sehnsucht überkam. Und erst dann, im Beantworten der Frage, begann ich, zu begreifen. Peter Handke - Die Ballade des letzten Gastes - Suhrkamp - 185 Seiten - 24,00 € - 978-3-518-43154-2 Leseprobe & Infos
Artikel
online seit 25.11.23 |
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