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Marcel Proust (1871-1922)

»Das wahre Leben, das einzige von uns wahrhaft gelebte Leben ist die Literatur.«

Biographische Schlaglichter von Jürgen Nielsen-Sikora

»A la recherche du temps perdu ist der unausgesetzte Versuch, ein ganzes Leben mit der höchsten Geistesgegenwart zu laden. Nicht Reflexion – Vergegenwärtigung ist Prousts Verfahren.« (Walter Benjamin)

Die Tinte unter dem deutsch-französischen Friedensvertrag ist noch nicht ganz trocken und die blutigen Straßenkämpfe der Pariser Kommune gerade erst beendet, als am 10. Juli 1871 in der Rue Jean de la Fontaine, wenige Gehminuten vom Bois de Bologne entfernt, Valentin Louis Georges Eugène Marcel Proust das Licht der Welt erblickt. Seine Mutter, Jeanne Clémence Weil, ist musisch-kulturell gebildet und verfügt über sehr gute Englischkenntnisse. Der Vater, Adrien Proust, ist Spezialist für Seuchenbekämpfung und kommt ursprünglich aus Illiers – jenem kleinen Dorf gut 100 Kilometer südwestlich von Paris im Centre-Val de Loire gelegen, das im Jahrhundertroman seines Sohnes Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (À la recherche du temps perdu) zu Combray wird. 1873 wird das zweite Kind geboren – Robert, der später wie sein Vater Arzt werden soll.

Um 1880 erkrankt Marcel Proust an Asthma, einer Krankheit, die ihn sein Leben lang stark einschränken wird. Er gilt mit seinen matten Lidern und seinem melancholischen Blick ohnehin als kränklich, zerbrechlich und zart. Allzu oft ist er aufgrund seiner physisch schwachen Disposition gezwungen, dem Treiben der Anderen zuzuschauen, was jedoch seine Beobachtungsgabe enorm schult.

Von 1883 bis 1889 besucht er eine Eliteschule, das Lycée Condorcet, das zwischen dem Bahnhof Saint-Lazare und dem Boulevard Haussmann liegt. Nach dem Abitur dient er für kurze Zeit beim Militär, schreibt sich an der Universität für Jura und Philosophie ein (er besucht Vorlesungen von Henri Bergson, mit dem er entfernt verwandt ist) und verbringt seine Freizeit unter anderem auf dem Tennisplatz.

1891 lernt Proust den Schriftsteller André Gide (Nobelpreis 1947) kennen, der das Manuskript der Recherche als Redakteur der Literaturzeitschrift La Nouvelle Revue française 1912 ungelesen ablehnt. Später wird Gide dies als den größten Fehler seines Lebens bezeichnen.

Es folgt 1894 die Bekanntschaft mit Reynaldo Hahn, einem musikalischen Wunderkind. Hahn lernt er auf den Soireen der Madame Lemaire kennen, wo sich Ende des 19. Jahrhunderts die Hautevolee trifft. Die Hausherrin Jeanne-Magdalaine Lemaire dient Proust in der Recherche unter anderem als Modell für die Figur der Madame Vendurin. Bei Madame Lemaire trifft er, zusammen mit Hahn, auch auf Sarah Bernhardt, die in der Recherche als Schauspielerin Berma ihren Auftritt hat. Walter Benjamin schreibt hierzu: »Proust hat in den Jahren seines Salonlebens nicht nur das Laster der Schmeichelei in einem eminenten – man möchte sagen: theologischen – Grade ausgebildet, auch das der Neugier. Auf seinen Lippen war ein Abglanz des Lächelns, das in der Leibung mancher von den Kathedralen, die er so liebte, wie ein Lauffeuer über die Lippen der törichten Jungfrauen huscht. Es ist das Lächeln der Neugier.«

Etwas anderes treibt ihn ebenfalls um: Der gegen Ende desselben Jahres stattfindende Prozess gegen den französisch-jüdischen Offizier Alfred Dreyfus erregt die Dritte Republik über Jahre hinweg. Die Affäre, in der Dreyfus zu Unrecht zu lebenslanger Haft und Verbannung auf die Teufelsinsel bei Cayenne verbannt wird, offenbart Proust zugleich den latenten wie offenen Antisemitismus seiner adeligen Freunde.

1896 folgt mit Les plaisirs et les Jours eine erste Veröffentlichung mit Essays, Skizzen und Gedichten, versehen mit einem Vorwort von Anatole France, zu jener Zeit einer der herausragenden Schriftsteller Frankreichs. Proust arbeitet zudem an einem Roman mit dem Titel Jean Santeuil, der jedoch Fragment bleibt und erst 1952 veröffentlicht wird. Teile des Buches fließen allerdings ebenfalls in die Recherche ein.

Nach einem Schein-Duell mit dem Symbolisten Jean Lorrain, der 1897 Prousts homosexuelle Neigung in eine Kritik von Les plaisirs et les Jours einfließen lässt, lernt Proust durch einen seiner zahlreichen adeligen Freunde, Graf Robert Jules Daniel de Billy, die Werke des britischen Schriftstellers, Malers und Kunsthistorikers John Ruskin kennen. 1899 beginnt Proust, unterstützt durch seine Mutter und de Billy, mit der Übersetzung und Kommentierung von Ruskins Bible of Amiens. 1904 erfolgt die Veröffentlichung.

Als Bibel von Amiens bezeichnet Ruskin das Westportal der Kathedrale von Amiens, wo Proust mit Ruskin »diese Welt der Heiligen, diese Generation von Propheten, diese Reihe von Aposteln, diese Schar von Königen, dieses Defilee von Fischern, diese Ansammlung von Richtern, diesen Schwarm von Engeln, dicht gedrängt, über und untereinander …« erblickt.

Die Publikation des Ruskin-Projekts fällt zusammen mit dem Tod beider Elternteile zwischen 1903 und 1905. Proust entwickelt daraufhin eine Depression und wechselt die Wohnung. 1906 zieht er auf den – nach dem bekannten Pariser Stadtarchitekten benannten und mit zahlreichen Ausfallstraßen versehenen – Boulevard Haussmann, wo er bis 1919 residiert.

1907 lernt er Alfred Agostinelli kennen und unternimmt mit ihm einige Ausflüge mit dem Automobil. Agostinelli (Modell für Albertine in der Recherche) wird Privatsekretär und Chauffeur Prousts, der unsterblich in ihn verliebt zu sein scheint, ohne dass diese Liebe erwidert wird. Agostinelli stirbt 1914 bei einem Flugzeugabsturz, ein Ereignis, das Prousts abermals in eine tiefe Krise stürzt.

Bereits ab Mitte 1909 beginnt Proust mit der Arbeit an der Recherche, dem mehrere tausend Seiten und siebe Teile umfassenden Roman, der nur wenig Handlung bietet und über die eigene Lebensgeschichte und das fin de siècle als Traum und Erinnerung in einem unaufhörlichen Sprachfluss und Bewusstseinsstrom berichtet. Prousts psychologisch-soziologischer Blick, seine ausufernde, von langen Sätzen getragene, detailversessene und nicht selten im Konjunktiv stehende Sprache als auch der feine Humor des Werks inaugurieren eine völlig neue Prosa, die vielen Zeitgenossen unverständlich bleibt, weil sie nicht begreifen wollen, wie man allein 30 Seiten darüber schreiben kann, dass jemand nicht recht in den Schlaf finden will. Aus einer Tasse Tee erhebt sich am Ende die Welt von gestern – vermittelt über die zahlreichen, prunkvollen wie nuancierten Erinnerungen des Ich -Erzählers, halb wach, halb schlafend.

Der erste Band In Swanns Welt (Du côté de chez Swann) publiziert Proust noch auf eigene Kosten. Für den 1919 publizierten zweiten Band Im Schatten junger Mädchenblüte (À l’ombre des jeunes filles en fleurs) erhält er dann den renommiertesten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt.

1922 erkrankt Proust an einer Bronchitis, die sich zu einer Lungenentzündung ausweitet. Gegen den Rat des Bruders lässt er sich nicht behandeln und stirbt am 18. November in seiner Geburtsstadt Paris.

Artikel online seit 20.06.21
 



Marcel-Proust-Mediathek

21 Bücher und ein Hörbuch


Im dauernden Augenblick
Von Lars Hartmann
Text lesen

»Wer dieser »Recherche« verfällt, findet sich angesichts von Prousts Sätzen im dauernden Augenblick, einer Art Sprachmeditation, ein nunc stans, einer auf den Punkt verdichteten und auch wieder unendlich dauernden Zeit...«
 

 


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