Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Auf Spurensuche bei Walter Benjamin

Das Verhältnis von »Material und Begriff«
zu den Arbeitsverfahren und theoretische Beziehungen Walter Benjamins


Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Es gibt keinen Gedanken, der nicht auf anderen aufruht. Aus dem Fundus anderer Gedanken aber eigene Begriffe zu bilden, heißt Denken. Für das Denken hat Walter Benjamin das Bild vom Wind der Geschichte geprägt, der sich in den Segeln (den Begriffen) fängt. Die Kunst des Denkens bestünde darin, die Segel richtig zu setzen, um auch Randgebiete zu erkunden: Mit der „geschliffenen Axt der Vernunft“ soll das „Gestrüpp“, das Dickicht der Texte und Dinge urbar gemacht werden. Benjamins Begriffe sind der Versuch einer solchen Urbarmachung. Das Material, aus dem sie schöpft, gerät hierbei nicht selten aus dem Blick.

Doch um die Aktualität von Benjamins Arbeiten zu verstehen, muss man die Materialien kennen. Das (exemplarische) Studium des Materials, aus dem Benjamins Begriffe entstanden sind, ist das Anliegen des vorliegenden Bandes: Was hat Benjamin gelesen und wie hat er Texte/Erfahrungen verarbeitet? Die Autorengruppe macht sich auf Spurensuche und begibt sich in ein kritisches Quellenstudium.

Zu den Materialien gehört unter anderem Hermann Cohens „Logik der reinen Erkenntnis“ (1902). Cohen, Begründer des Marburger Neukantianismus, der – wie Benjamin selbst Jude – für das Recht des Judentums sich stark machte, vertrat eine mathematisch und wissenschaftsorientierte Philosophie. Seine Logik ist eine „Logik des Ursprungs“. Ursprung meint dabei nicht Anfang, sondern einen fortwährenden Prozess der logischen Grundlegung: Denken hat „keinen Ursprung außerhalb seiner selbst“. Die Ursprünglichkeit des Denkens macht seine Reinheit aus.

Zum Material gehört aber auch der von Waldemar Gurian einst als „Kronjurist des Dritten Reichs“ apostrophierte Staatsrechtler Carl Schmitt. Für beide, sowohl für Benjamin als auch für Schmitt, steht die Frage nach dem Verhältnis von Macht und Recht im Zentrum ihrer Reflexionen. Schmitts Staatsphilosophie wird in diesem Zusammenhang Benjamins „Kritik der Gewalt“ gegenübergestellt. Beide eine die liberalismuskritische Haltung in Zeiten einer Gefährdung der Rechtsordnung und der Versuch, diese Gefährdung zu verstehen. Der einst durch Jacob Taubes populär gemachte und inzwischen zu einiger Berühmtheit gelangte Brief Benjamins an Schmitt belegt, dass der Philosoph dem Juristen einiges verdankt, insbesondere mit Blick auf die Darstellung seiner barocken Souveränitätslehre im Trauerspielbuch.

Weitere Quellen resp. Materialien sind der Sammler Eduard Fuchs, der für die Geschichte des Sozialismus, aber auch für den Status des Intellektuellen für Benjamin interessant ist; sodann Karl Korsch und dessen Buch über Marx, das eine der Hauptquellen von Benjamins marxistischem Wissen darstellt; Georg Lukács, der Benjamins Begriff der „Aktualität“ mitprägt; Auguste Blanqui und dessen Einfluss auf Benjamins Zeitbegriff sowie seine Beschäftigung mit der Idee ewiger Wiederkehr; und schließlich Bert Brecht, der zur Politisierung Benjamins im Sinne eines engagierten Kunsttheoretikers beigetragen habe.

Andere Zugriffe thematisieren stärker die Begriffe, zum Beispiel den der Utopie. Und obwohl Benjamin kein Utopist war, behandelt er die Utopie doch als Thema der Literatur und Philosophie und bildet sich einen Begriff von Utopie, der zumindest indirekt in sein eigenes Denken einfließt. In der Passagenarbeit ist zum Beispiel das Kapitel über das 19. Jahrhundert als Epoche utopischen Denkens (vgl. Fourier) zu nennen.

Oder aber einzelne Schriften rücken in den Vordergrund – so vor allem der Moskau-Aufsatz, der eine Umbruchphase in Benjamins Denken markiere.
Im Zentrum der Methodik steht sodann Benjamins Montagetechnik, in der philosophische Reflexion, historische Erfahrung und zeitpolitische Situation ineinanderfließen.

Die Aufsätze sind sehr elaboriert, teilweise auf Englisch verfasst, richten sich eher an ein Fachpublikum und stammen von einer jüngeren Generation Wissenschaftler. Der Zusammenhang von Material und Begriff ist insgesamt vielleicht ein wenig hoch aufgehängt, gehört es doch zum wissenschaftlichen Basisrepertoire, den Gegenstand seiner Untersuchung mit Methoden der Hermeneutik kritisch zu durchleuchten. Dies kann nie vollständig gelingen, so auch hier nicht. Der Wind der Geschichte wechselt immer wieder. Gleichwohl sind die Segel gut gesetzt.

Artikel online seit 28.10.19
 

Voigt, Tzanakis Papadakis, Loheit, Baehrens (Hg.)
Material und Begriff
Arbeitsverfahren und theoretische Beziehungen Walter Benjamins
Argument Sonderband Neue Folge 322
978-3-86754-322-4
24,00

 

 

 


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