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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 








Sammelsurium

Hans Magnus Enzensbergers 99 literarische Vignetten
»Überlebenskünstler«

Von Lothar Struck

"99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert" nennt Hans Magnus Enzensberger seine Textsammlung "Überlebenskünstler" im Untertitel. Wer rätselt wie dies gemeint ist, wird im knappen aber deutlichen Vorwort aufgeklärt. Überlebenskünstler ist hier nahezu wörtlich zu verstehen. Die Beschränkung auf das 20. Jahrhundert bezieht sich auf die wichtigste Lebensepoche der Protagonisten. Das Buch ist nach den Geburtsdaten gegliedert – es beginnt mit Knut Hamsun (1859).

Enzensberger schreibt über 99 SchriftstellerInnen, die jene Wirren dieses Jahrhunderts nicht nur erlebt und mitgemacht, sondern physisch überlebt haben – ob mit Anpassung oder Widerspruch oder oft genug beidem zu je seiner Zeit. Er skizziert die Ideale, Anpassungen und den oft genug überlebenswichtigen Opportunismus ("Ohne Kompromisse war er seines Lebens nicht mehr sicher" – so über Hans Fallada) von Menschen. Selbstmörder oder sonstwie vorzeitig zu Tode gekommene finden keine Berücksichtigung (was nicht moralisch zu verstehen ist). Ohne es zu erwähnen schimmert ein wenig Kants Imperativ von der Pflicht zum Leben hervor.

Enzensbergers Auswahl ist subjektiv, was er im kurzen Vorwort auch gar nicht bestreitet. Nur elf Frauen? "Bitte wenden Sie sich an das Patriarchat." Warum ausschließlich Schriftsteller? Hier kenne er sich einigermaßen aus. Zu eurozentristisch? An "Abzählungsroutinen" möchte er sich nicht beteiligen.

Um es vorweg zu nehmen: Keine einzige dieser 99 Vignetten – die Textlänge variiert von zwei bis maximal viereinhalb Seiten – langweilen auch nur eine Sekunde. Wenn jeweils die gröbsten biographischen Daten abgearbeitet sind und Enzensberger auf das eingeht, was denjenigen zum Überlebenskünstler macht und dann – nicht selten – auch noch persönliche Eindrücke und Erfahrungen, die er mit der Person gemacht hat, einflechtet, dann gelingt es, dass der Leser mit neuen Erkenntnissen vom Buch aufschauen kann.

Und gerade wenn man die Texte hintereinander liest und nicht nur als enzyklopädische Ergänzung für irgendwann betrachtet, entdeckt man einen Bogen, der, so unterschiedlich die Schicksale und ideologischen Prägungen der Persönlichkeiten auch waren, fast allen gemein ist, denn fast alle der vorgestellten arbeiten sich an den politischen Verhältnissen ab (es gibt wenige Ausnahmen): Zunächst ist da der Idealismus, das Sich-Einbringen-Wollen, das Bessere-Welt-Schaffen, das Überwinden des Gewesenen. Dann die Ernüchterung, die entweder in die Kollision mit den Mitstreitern und Machthabern, womöglich Verbannung oder Haft, oder, sehr häufig, in ein Verstummen, ein Aushalten, ein Ausharren mündet (oder, zuweilen auch dies, ins Exil, wobei solche Umstände im Sinne der Rahmenbedingungen dieses Buches eigentlich die weniger interessanten sind).

Überlebensvariationen also. Kein Wunder (Enzensberger weist darauf hin), dass sehr viele der Portraitierten aus jüdischen Elternhäusern stammten. Und da sind die sowjetischen/russischen Schriftsteller mit ihren zeitweiligen Affinitäten der Revolution gegenüber, mehr oder weniger schnell desillusioniert und dann aufs Weiter- und also Überleben konditioniert, insbesondere wenn es um die stalinistische Zeit geht. Auf der anderen Seite die Faschisten- und/oder Nazi-Sympathisanten - auch sie sich in das begebend, was man gemeinhin halb entschuldigend, halb anklagend als das "innere Exil" nannte. Von Enzensberger in diesem Buch kein wertendes Wort darüber.

Enzensberger ist bemüht, Schriftstellerisches von politischer Anschauung zu trennen, selbst dort, wo es schwierig zu trennen ist. Die "Selbstgerechtigkeiten" der Nachgeborenen, die "Scherbengerichte" dieser "ewigen Besserwisser" kritisiert er scharf. Indem er selbst jegliches nachträgliche Moralisieren vermeidet, werden seine – eher seltenen – apodiktischen Urteile, die sich nicht aus dem Wissen des später Gewußten speisen, umso bemerkenswerter: Knut Hamsuns Hitler-Epitaph: "der schiere Trotz". Gertrude Stein und Gottfried Benn: "politisch unzurechnungsfähig". Henry Miller: "ziemlich dumm". Ilja Ehrenburg: ein "virtuoser Bauchredner" mit "chamäleonhafte[m] Charakter". Alberto Moravia war "kein großer Prosaist". Zu Jean-Paul Sartre zitiert er Orwell: "ein großer Windbeutel". Pablo Neruda war nicht "besonders gebildet", André Bréton ein "Wichtigtuer" und Fernando Pessoa nicht "ganz dicht".

Persönliche Animositäten schimmern zwar hervor (Jünger und Celan waren ihm "unsympathisch", Brecht "stank"), werden aber fast nie wertend eingebracht. Aber nicht alleine das Überleben wo und wie auch immer genügt um in die Vignettensammlung zu kommen. Es sind, wie es zu Beginn heißt, eben auch literarische Kriterien. Aber gerade hier erscheint dann seine Auswahl doch nicht konsequent. Warum ein Ezra Pound, von dem er weder menschlich noch poetisch überzeugt ist (die "Prosodie" in seinen Gedichten, die häufig genug nur ein großer "Bluff" seien, fehle). Elias Canettis "sprachliche Mittel" seien "arm", "Blendung" ein "unerträgliches Buch". Jean Genet wurde in seinem Werk "einbalsamiert". Mit Johannes R. Bechers literarischen Ambitionen habe es "nie richtig geklappt". Rudolf Borchardt sei "rechthaberisch und hochfahrend" gewesen, seine Prosa "verstiegen und hochtrabend" und über seine politischen Äußerungen breite man besser "den Mantel der säkularen Nächstenliebe". Weshalb findet man ihn dann in dieser Sammlung? Und warum eigentlich ein Hans Baumann statt beispielsweise Richard Billinger oder Gerd Gaiser? Dieses Warum-Spiel kann man immer weiter spielen. Kein Heinrich Mann, aber immerhin Alfred Döblin. Kein Stefan Heym, aber Stephan Hermlin. Und Heiner Müller mit seiner "orakelhaften Autorität" – abgeleitet aus den Kluge-Gesprächen statt der unbelehrbaren (und somit interessanteren) Christa Wolf?

Einige von Enzensbergers Urteilen sind von geradezu ehrfurchtsvoller Grimmigkeit. Äußeres zählt bei ihm nicht; Preise – auch der Nobelpreis - tangieren ihn höchstens nur als Nachricht. Zuweilen kann er einer Pointe nicht widerstehen und greift dann auch schon einmal zum (übertriebenen) Spott, etwa wenn er bei André Gide bemerkt, er habe es vermieden, erschossen zu werden. Emile Cioran sei ein "unglücklicher Mensch" gewesen, "dessen Demenz einem Selbstmord zuvorkam". Jean Cocteau sei weder "die Ehrenlegion noch die Wahl…in die Académie française…erspart geblieben". Nachruhm als Ballast – das gibt es häufiger. Maxim Gorkis Theaterstücke seien "nicht totzukriegen". Immerhin kehrt er auch ein bisschen vor seiner eigenen Tür, wenn er zum Beispiel von der "ziemlich überschätzten Gruppe 47" schreibt (was sich in der Auswahl derer, die aus der Gruppe 47 stammen, niederschlägt – hier fehlen die beiden "Aushängeschilder", die Nobelpreisträger).

Einige wenige Texte wirken wie Pflichtübungen, weil der Autor glaubt, an diesen Lebensläufen nicht vorbei zu kommen wie bei Louis-Ferdinand Céline ("Ach so, der darf natürlich nicht fehlen!"), Ivo Andrić, Robert Musil (der höflich und zurückhaltend war) oder Bertolt Brecht, über den eigentlich "alles gesagt" sei.

Bei einigen bekennt Enzensberger freimütig, sie seien nur als Zeitzeugen "unentbehrlich" oder "denkwürdig" (Gustav Regler etwa und – fast möchte man sagen: natürlich - Manès Sperber). Im Kontrast dazu die zum Teil mit persönlichen Erlebnissen angereicherten Skizzen über Alfred Andersch, Nelly Sachs und Ryszard Kapuściński ("mein Freund"). Hymnisch wird er wenn es um die Prosa von Jaroslav Hašek ("genial"), César Vallejo, Wolfgang Hildesheimer, Peter Weiss, Wolfgang Koeppen oder Veijo Meri (der "finnische Schweijk") geht (und noch bei so manchem anderen, aber lest selbst). Von Ricarda Huch, Anette Kolb, Albrecht Fabri und Alexander von Gleichen-Rußwurm scheint HME vor allem menschlich beeindruckt zu sein. Gar mancher der Vorgestellten war mir neu, wie Lu Xun ("Feminist"), Erhard Kästner oder Hans Sahl. Recht so. Nur ein Autor von den 99 lebt noch – es ist der 1936 geborene, "undurchsichtige" Ismail Kadaré. Mit ihm endet dieses Buch. Was für ein verstecktes Statement.

Bei aller Kürze – manchmal erfährt man portraitübergreifend erstaunliche Details. So fällt es auf, dass etliche der späteren Schriftstellergrößen ihre ersten Werke im Selbstverlag publizierten – und dies nicht nur, weil sie in (sich abzeichnenden) Diktaturen lebten. Insgesamt schärft das Buch einerseits den Blick auf die oft genug eher bescheidenen politischen Denkweisen von sogenannten Intellektuellen. Andererseits wird der Nachgeborene weniger drastisch über Menschen richten, deren Lebensumstände er niemals auch nur annäherungsweise erleben musste. Aber dies bedeutet eben nicht automatisch ein Plädoyer für das Vergessen, sondern eben nur für eine adäquate Einordnung.   

Am Ende bedankt sich der – vorsichtig ausgedrückt - digitale Skeptiker Enzensberger dann noch bei den Wikipedia-Enzyklopädisten, deren Fotografien er für seine Vignetten, mit denen jeder Text beginnt, verwandte. Ein lehrreiches Buch, unerbittlich und nachsichtig in einem. Ein echter Enzensberger.     

Artikel online seit 06.05.18
 

Hans Magnus Enzensberger
Überlebenskünstler
99 literarische Vignetten
aus dem 20. Jahrhundert

Suhrkamp
366 Seiten
24,00€
978-3-518-42788-0

Leseprobe

 


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