Ein Spätsommerfilm par
excellence, menschennah, diskret und mit einer lebensbejahenden Grundstimmung in
einem brutalen Drama vom Verlust eines geliebten Menschen. Der gewaltsame äußere
Eingriff in die Biographien einer kleinen Gruppe von Personen, die trotz
prekärer Umstände von Leben und Arbeit Momente des Glücks zu genießen gelernt
haben. Aber doch alles andere als ein handelsübliches Feelgood Movie.
Ein Film über eine Stadt
im tiefen Sonnenlicht und mit entsprechenden Schatten, über Menschen, die es zu
nicht viel gebracht haben, aber irgendwie zurechtkommen, und die mit ein paar
Schatten der Vergangenheit leben: David, der nette, leichtfüßige Mittzwanziger,
seine Schwester Sandrine, die Lehrerin, die ihre siebenjährige Tochter Amanda
allein großziehen muss. Und Amanda selbst, die noch die großen Erwartungen eines
Schulkindes, aber keine zaziehafte Überlegenheit aufweist. Sie ist sich der
Verletzlichkeit ringsum durchaus bewusst; oft ist es der Blick des Kindes, der
die Fragen nach den Beziehungen, den verborgenen Wahrheiten, dem verborgenen
Sinn mancher Dinge stellt. Die ersten Szenen beleuchten dieses Leben am Rand von
Prekariat und Traumtanz: David hat sich bei einem seiner Botengänge für einen
Vermieter verspätet und lässt Amanda warten. Sandrine ist empört, aber der
Streit wird nicht nachhaltig sein; Amanda fragt besorgt, ob etwa jemand von
beiden sauer sei; Amanda und Sandrine tanzen zu Elvis Presleys »Don’t Be Cruel«;
Eltern machen Sandrine in der Schule eine Szene, weil sie ein Kind zu grob
angepackt haben soll, das sie provozierte; David braucht eine Übersetzungshilfe
von seiner Schwester und wird von einem Security-Mann am Schuleingang
durchsucht.
Alles könnte so weitergehen, zwischen Davids bescheidener Lebenskunst, Sandrines
Balance am Rande des Nervenzusammenbruchs und Amandas Wissbegier, zwischen dem
üblichen Alltagsärger und den kleinen Glücksmomenten wie einer Fahrradfahrt
durch Paris, ein leuchtender Kino-Song über trotzige Lebenslust. Schließlich
bahnt sich ja auch noch eine Liebesgeschichte zwischen David und Léna an, der
Klavierlehrerin aus Bordeaux, die auch Amanda unterrichten soll, und Sandrine
hofft, endlich jemanden gefunden zu haben, der es ernst meint. Doch dann wird
Sandrine Opfer eines Anschlages, zu dem wir keine näheren Informationen
erhalten.
Der Film zeigt weder den Vorgang noch Hintergründe, es ist nur der radikale
Bruch in mehreren Lebensgeschichten, vielleicht auch in einer Stadt zu sehen.
Die kleinen warnenden Vorzeichen offenbaren jetzt ihren Sinn, die gewöhnlichen
Zornausbrüche, das Misstrauen und das »Elvis has just left the building« als
Redensart für den Umstand, dass Warten keinen Sinn mehr macht, wie Sandrine
ihrer Tochter erklärt, das Zeltlager in der Vorstadt, der kaputte Familienroman
von David und Sandrine, das Chaos am Bahnhof.
Wirklich, wir leben in finsteren Zeiten. Aber es ist Sommer, und die Türen und
Fenster sind offen, man kann sich nicht verstecken, und die Augen sind schwer zu
schließen. Und jetzt muss sich David entscheiden, ob er die Verantwortung auf
sich nimmt, Amanda zu betreuen. Das ist für beide nicht so leicht, und auch mit
der Trauer umzugehen, darauf war man nicht vorbereitet. Es sind nun verletzte
und entwurzelte Menschen, die miteinander eine Neuordnung des Lebens hinkriegen
müssen. Denn auch Léna, die bei dem Anschlag mit einer Armverletzung überlebte,
leidet unter dem traumatischen Geschehen und bricht schon bei einem
Straßengeräusch, das sie daran erinnert zusammen. Und Amanda, die abwechselnd
bei David und bei der Tante übernachtet, weiß nicht wohin mit ihrem Zorn und
ihrer Angst und empfindet es schon als Verrat, dass David die Zahnbürste ihrer
toten Mutter nicht aufbewahrt hat. Aus vielen solcher Kleinigkeiten setzt sich
das Geschehen zusammen, immer wieder auch, wie am Anfang, aus den teils
pädagogischen, teils hilflosen Versuchen, Amanda zu erklären, was geschieht.
Dabei gibt es so vieles, was einfach nicht zu erklären ist, oder wenigstens
nicht einfach zu erklären.
Mikhaël Hers dritter Spielfilm handelt wie seine Vorgänger vom Erwachsenwerden
als Schmerz und Erlösung, von Erinnerung und Zeit, von der Leerstelle, die ein
Mensch hinterlässt, wenn er geht, so oder so. Die scheinbar so einfache
Grundidee des Dramas nämlich ist es vor allem, einen Raum zu geben für
zahlreiche Spiegelungen und Echo-Effekte in den Geschichten von David, dem
bindungsscheuen Nicht-Erwachsenen, und Sandrine mit ihren
Beziehungskatastrophen, zwei Reaktionen auf ein kindliches Trennungstrauma, von
dem wir nur am Rande einer geplanten Reise nach London erfahren. Das
Spiegelbildliche und Leitmotivische wird besonders deutlich bei den Radfahrten
durch Paris, bei der Beobachtung von Tennisspielen, bei den Seitenblicken auf
Parks und Bäume. Die Frage, wie man weiterlebt nach dem Tod eines geliebten
Menschen, eines Menschen, der dem eigenen Leben den Sinn gab, wird von Mikhäel
Hers Film vielschichtiger und verschlungener bearbeitet, als es etwa Nanni
Moretti mit seinem »La stanza del figlio« tat, aber mit derselben behutsamen
Zärtlichkeit. Als wüsste die Kamera sehr genau, wann sie sich nähern, wann sie
Distanz und Ruhe bewahren muss, was sie direkt und was sie indirekt darstellen
kann. Und sie verlangt den großen Darstellern ein präzises, aber kein exzessives
Spiel ab. Umso näher ist man ihnen.
Artikel
online seit 09.09.19
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MEIN LEBEN MIT AMANDA
von Mikhaël Hers, F 2018, 107 Min.
mit Vincent Lacoste, Isaure Multrier, Stacy Martin, Ophélia Kolb
Drama
Start: 12.09.2019
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