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Irren-Boulevard

Angela Lehners Roman-Debut
»Vater unser«

Von Gregor Keuschnig

Das Cover, diese blutrote Schrift auf pinkem Untergrund, kann ich nur schwer ertragen. Kopfschmerzen stellen sich ein. Es verführt zum Umblättern, zum Lesen. Also los. Eine Frau befindet sich in Polizeigewahrsam. Sie rebelliert nicht, scheint fast einverstanden mit der Freiheitsberaubung und erkundet stattdessen präzise die Umgebung, die Polizisten. Sie rasten an einer Tankstelle. Ein Herrgottswinkel mit Haider-Bildchen. Kärnten also. Es geht im Gefängnisauto nach Wien, ins OWS, "Otto-Wagner-Spital". "Der Himmel wird schon kitschig", heißt es. Die Ich-Erzählerin ist Eva Gruber. Sie soll eine Kindergartenklasse erschossen haben.  

Kamerabeobachtung, eine Hose mit Gummizug, jeden Tag Kartoffeln als Beilage in Variationen. Kein Spa, aber auch kein Gefängnis. Eva entdeckt Bernhard, ihren Bruder. Bernhard ist für sie der "einzige Mensch, dessen Furcht für mich schlimmer ist als meine eigene". Muttergefühle der Schwester. Die beiden werden nicht zusammengelegt; Anstaltsgesetz. Bernhard ist abgemagert, leidet unter Essstörungen, reserviert sich von seiner Schwester. Er hat so etwas wie eine Freundin, die Eva "Dumbo" nennt.

Eva erzählt, berichtet. Der Leser weiss trotzdem wenig bis nichts. Sie ist forsch, lässt sich vom eher schüchternen, etwas umständlichen Therapeuten, Doktor Korb, nicht beeindrucken; im Gegenteil: sie fordert ihn, was ihn überfordert. Immer wieder gibt es Rückblenden in die Kindheit, an den schüchternen, geduldigen Vater, die merkwürdig blass bleibende Mutter, die sich einmal mit Bernhard in einem Zimmer eingeschlossen hatte und auch Schläge von Eva ertrug. Der Vater hat Selbstmord begangen, erfährt man. Die Mutter sei "auch tot".

"Hier gehört Langeweile zum Tagesgeschäft", so charakterisiert Eva ihren Aufenthalt in der "Irrenanstalt" mit "Naherholungsgebiet". Und das, obwohl sie sich zu allen möglichen Therapieangeboten anmeldet. Es kommt so, wie es fast immer passiert: Man weiss nicht, ob die Irren wirklich die Irren sind, weil sie so normal erscheinen. Dürrenmattesk. Und Korb deutet einmal gegenüber Eva an, dass die wahren Irren außerhalb der Anstalt sitzen. Das ist Österreich. Wien. Auch das kennt man.

Eva ist voller Sinneslust und Tatendrang, listig und klug. In der "Walking-Gruppe" unterscheidet sie die Manischen und die Depressiven. Doktor Korb kanzelt sie einmal ab: "Sie sind doch hier der Abnormale!" Das sitzt.

Angela Lehner lässt Eva im Präsens erzählen, was die Dynamik der Figur noch steigert. Schnell ergreift man Partei für sie, obwohl vor allem ihr Delikt diffus bleibt. Hat sie wirklich Kinder erschossen? Einmal ist von narzisstischer Persönlichkeitsstörung die Rede. Aber wer hat das inzwischen nicht irgendwie? Leider jedoch lässt die Spannung schnell nach, der Text plätschert daher; die Beobachtungen Evas sind skurril und manchmal unterhaltsam, aber nicht mehr. Mit den Anstaltsgewohnheiten setzen die Erzählgewohnheiten ein. Irren-Boulevard. Unterbrochen von Merkwürdigkeiten, wenn beispielsweise plötzlich die Mutter, von der es eingangs hiess, sie sei tot, in den Therapiesitzungen mit Korb auftaucht, die Tochter fast zu stalken scheint. Sogar der Bruder ist bei der Familientherapie dabei, die allerdings krachend scheitert.

Immer stärker rückt Bernhards Krankheit in den Vordergrund. Zwischenzeitlich wird er sogar künstlich ernährt. Als Eva sieht, wie eine Krankenschwester eine Tube mit Essen in den Hals des Bruders stopft, schlägt sie Alarm. Geschickt arrangiert Eva, dass Dumbo entlassen wird. Der Bruder ist nun alleine, der Fürsorge Evas ausgesetzt. Es reift der Fluchtgedanke. Zwei Ereignisse befördern ihn schließlich: Zum einen die Intention der Mutter, Bernhard in ein "normales" Krankenhaus verlegen zu lassen. Und dann noch ein Donnerschlag, der hier nicht verraten werden soll. Schließlich flieht sie mit ihm, dem Auto der Nageldesignerin und 30 Euro.   

Jetzt beginnt ein Roadmovie der besonderen Art. Es geht in den Zoo, dann in den Wald. Eva manipuliert ihren Bruder zur Zustimmung, den Vater aufzusuchen und ihn zusammen umzubringen. Aber warum einen durch Suizid verstorbenen Vater ermorden? Das wird nicht aufgelöst. In dem Maße wie die Rückblenden in die Kindheit und Jugend zunehmen, verstärkte sich Evas Hang, den Vater zum Objekt der Abneigung zu machen. Und dies, obwohl es durchaus glückliche Momente in der Kindheit gibt, die auch evoziert werden. Der Anlass für den Hass vermag der Leser nicht zu erkennen, zumal Eva als vertrauenswürdige Erzählerin immer fragiler wird. Einzig die in knappen Hauptsätzen zusammengefassten Landschaftsbeobachtungen können als wahrhaftig gelten. Sobald sie über sich oder andere Menschen erzählt, wird es unzuverlässig, trügerisch.  

Das (in Teilen verblüffende) Ende der Odyssee soll nicht verraten werden. "Vater unser" lebt nicht zuletzt von den geschickt eingebundenen literarischen Anspielungen. Zunächst denkt man an eine moderne Variation Lavant-Geschichte. Dann kommt einem das fulminante Buch von Ariane Breidenstein in den Sinn. Beide auf ihre je spezielle Art sprachgewaltige, expressive Schriftstellerinnen. Aber die Parallelen lässt man schnell fallen, fühlt sich dann vorübergehend an eine Satire erinnert, aber auch dies wird nicht eingehalten. Immerhin gelingen ab und an beeindruckende oder abgedrehte Bilder wie die von den im Gemüsebeet wühlenden Irren oder eine Erinnerung vom Bruder als Kind, der mit dem Gang durch den Regen zur Kirche den lieben Gott bitten möchte, dass das Unwetter aufhört. Zuweilen gibt es auch etwas Gesellschaftskritik, etwa wenn es über den "freien Tod" heißt, er sei "eine Gnade, die einem die Gesellschaft nicht zugesteht" oder wenn vor einem Mahnmal die Rede ist, welches an etwas gedenkt, "von dem in Österreich alle wissen, an das wir uns aber nicht gern erinnern" und die Insassen dort mit ihren Wurstbroten sitzen. Auch der Katholizismus wird bedacht. Eva beneidet die Gläubigen "um ihren Fatalismus, um die paar Glaubenssätze, die so unumstößlich sind, dass sie alle Gedanken zur Ruhe kommen lassen." Als sie in der Schule vom Pfarrer verhöhnt wird, weil sie das "Vater unser" nicht aufsagen kann, lernt sie es mit dem Vater auswendig. Und ja, ich verstehe die Intention – der Vater ist der Vater, der im Gebet angesprochen ist.  Und dann ist da noch das Motiv der Geschwisterliebe, genauer: der Schwesternliebe zum Bruder. Man erinnert sich an einige Märchen und an die Verwandlungs-Erzählung Kafkas.

Gegen Ende der Irrfahrt werden die beiden vollkommen entkräftet von einem Bauernehepaar aufgelesen, neu eingekleidet und verköstigt. Kurz scheint alles ins Lot zu kommen. Aber Bernhard erbricht in der Nacht alles. Sein Körper lässt ein Verdauen nicht zu, wie Eva bemerkt. Später im Bus, wieder auf der Flucht, erbricht er die Kekse, die ihm gereicht werden. Es gibt keine Hoffnung, keine Sühne. Früher nannte man es Schicksal.

"Vater unser" ist ein in der Tradition österreichischer Romane stehendes Buch. Da ist das resignative Weltbild der Protagonistin, der dosiert-ironisch vorgebrachte, aber durchaus spürbare Österreich-Hass, die Unversöhnbarkeit zwischen der Figur und der Welt. Das ist alles sichtbar – aber es ist leider über weite Strecken zu sehr Pose, kaum Sprache (sieht man von einigen gelungenen Sentenzen ab).

Häufig wird man von Erstlingswerken mitgerissen, wartet dann ungeduldig auf das zweite Buch – und ist dann enttäuscht. Bei Angela Lehner ist es anders. Sie ist eine Autorin, auf deren zweiten Roman man trotz der Schwächen des ersten Buches gerne wartet. Denn jeder Leser bemerkt es, dieses Erzähltalent.

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Artikel online seit 08.04.19
 

Angela Lehner
Vater unser
Roman Hanser Berlin
284 Seiten
22.00 €

Leseprobe

 


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