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Mexikanisches Inferno

Fernanda Melchors Roman »Saison der Wirbelstürme«

Von Wolfram Schütte

 

Auch das Oeuvre des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers Gabriel Garcia Marquez wuchs aus dem Journalismus heraus. Warum nun nicht auch das der 1982 geborenen mexikanischen Journalistin Fernanda Melchor? Ihr zweiter Roman »Saison der Wirbelstürme«, den Angelica Ammar (selbst Schriftstellerin & Übersetzerin) ins Deutsche  übertragen hat, erscheine jetzt gleichzeitig in mehreren Ländern, berichtet der Wagenbach-Verlag auf der Innenklappe der Englischen Broschur, in der er das Buch präsentiert.

Solche Gleichzeitigkeit der Publikation in mehreren Sprachen annonciert heute den internationalen »Bestseller« &  ist bislang nur bei weltbekannten Autoren üblich. Das ist Fernanda Melchor nicht. Offenbar wird ihr Buch jedoch als so verkaufsattraktiv angesehen, dass sie damit, in welche Sprache auch immer übersetzt, auf einen Schlag international (wie jüngst Elena Ferrante) bekannt werden soll.

Die Meldung vom internationalen Massenstart der »Saison der Wirbelstürme« könnte zwei Gründe haben für den potentiellen Käufer oder (was heute häufiger ist) die potentielle Käuferin, die das Buch der bislang unbekannten Mexikanerin in der Buchhandlung zur Hand genommen hatte. Zum einen wird damit signalisiert, dass man es mit wertzuschätzender Literatur zu tun hat, zum anderen, dass der deutsche Verlag keinen Fehlgriff getan hat.

Das dürfte insofern nicht ganz wertlos für die Kaufentscheidung einer Leserin sein, weil ein flüchtiger Blick in auch nur eines der 8 Kapitel des Romans einem eine Sprache & Welt vor Augen stellt, die selbst für »hard boiled reader« eine ungewöhnliche Herausforderung sein dürfte. Da ist wohl auch hilfreich, dass die mexikanische Autorin gleichzeitig den Mainzer »Anna-Seghers-Preis« &  zusammen mit ihrer deutschen Übersetzerin den hoch dotierten Berliner »Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen« erhalten hat. Die enthusiastische Laudatio des Jury-Mitglieds Robin Detje kursiert im Internet.

Detje begann seine eloquente Rede mit dem verblüffenden Bekenntnis: »Ich bin überfordert. (…) Ich glaube, wir waren in der Jury von der Saison der Wirbelstürme alle überfordert, haben alle gestockt und eine Weile nicht weiterlesen können. Und doch haben wir den Preis mit großer Entschlossenheit an dieses Buch und seine Übersetzung vergeben. Das ist vielleicht ein bisschen auch ein Bekenntnis zur Überforderung als literarisches Qualitätskriterium: Was sollen wir denn mit einer Literatur, die uns nicht überfordert? Was haben wir von der Welt in den nächsten Jahrzehnten denn anderes zu erwarten als Überforderung und wie sollte eine Literatur, die uns nicht überfordert, so einer Welt gerecht werden? Warum sollten wir einer Literatur, die uns nicht überfordert, noch vertrauen?«

Das ist als Empfehlung brillant gesagt & in der Entschiedenheit, mit der Detje auf der ästhetischen Dichte & Qualität von Literatur besteht, höchst sympathisch. Aber hat große Literatur nicht fast immer ihre Zeitgenossenschaft »überfordert«? Denken wir doch z.B. an Herman Melvilles »Moby Dick« oder an Primo Levis »Ist das ein Mensch?«, zwei in jeder Hinsicht unterschiedliche Bücher, an die beide in diesen Tagen als Überforderungen ihrer Zeitgenossen erinnert wurde

Was hat die Jury aber überfordert, so dass sie bei ihrer Lektüre gestockt hat & eine Weile nicht weiterlesen konnte? Und was könnte eine Leserin beim Blick in das Buch abschrecken? Es ist die äußerste sprachliche Vulgarität, die existenzielle Gewaltförmigkeit & der Sexismus der traumatischen Suada, mit der das Buch als  kollektive Erzählung eine grauenhafte Provinzwelt Mexikos beschwört., in der Drogen, Vergewaltigung, Prostitution, Korruption, Sadismus & Mord  in jedem Alter & in jeder Form zur Tagesordnung gehören.

Mit der zufälligen Entdeckung der verwesten Leiche der »Hexe« in einem Zuckerrohrfeld durch spielende Kinder beginnt der Roman & mit dem Monolog des alten Leichenbestatters, der das gesamte getötet Personal – Täter wie Opfer – in die Kalkgrube wirft, endet die »Saison der Wirbelstürme«. Das Rätsel des symbolischen (?) Titels bleibt nach der Lektüre bestehen, denn von Wirbelstürmen ist in dieser Geschichte endlosen Grauens nicht die Rede. Wohl aber von einer erbärmlichen, hoffnungslosen, »hündischen« Existenz der Armen am untersten Rand gesellschaftlicher Existenz am Golf von Mexiko.

Die asozialen Verhältnisse der Ausgebeuteten, analphabetischen Tagelöhner vor allem auf dem Lande & die Korruption der Behörden & die Selbstherrlichkeit der lokalen Polizei  sind schon lange ein oft dargestelltes Sujet der mexikanischen Literatur. Nur ein Teil von ihr wurde je übersetzt, geschweigen denn bei uns wahrgenommen. Der deutsche Emigrant Ret Marut hat unter dem Pseudonym  Ben Traven wohl als erster von der Misere erzählt & sie durch seine Abenteuerromane Land & Leute  weltweit bekannt gemacht.

Die jüngste Variante wurde von der Chronik der in Ciudad Juarez massakrierten Frauen in Roberto Bolanos monumentalen Roman »2666« angeführt. Nach diesem Memorial für den unvorstellbar grausamen sexistischen Massenmord in der mexikanischen Grenzstadt konnte man auf Deutsch in den Romanen  »Die Verbrannten« (Antonio Ortuno) & »Denn sie sterben jung«  (Antonio Ruiz Camacho) weitere schockierende literarische Einblicke in das reale Wüten der mafiotisch vorgehenden Drogenbarone & der rechtlosen, brutalen polizeilichen Provinzfürsten sich erlesen. Die spezifisch mexikanische Mischung aus Sex & Crime, Machismo &  Wunderglaube hat gewissermaßen ein eigenes literarisches Genre entwickelt. Dessen künstlerischen Höhepunkt wird man nun in der düsteren Phantasmagorie  Fernanda Melchors sehen dürfen – und zwar einzig & allein durch die sinnliche Sprachmächtigkeit der Autorin.

Zwar hat sie die von ihr erzählten Stoffe zahlreichen Reportagen von Journalisten & Aktivisten, von denen einige ermordet wurden, entnommen. Der Roman ist, so gesehen, gewissermaßen deren poetische Verdichtung im Kleinkosmos einer dörflichen Welt, die für alle ihre armseligen Bewohner ab ovo bis zum Exitus von Gewalt, Hass & gegenseitiger sexueller Unterdrückung & Ausbeutung gezeichnet ist. »Saison der Wirbelstürme« wird zur symbolischen Apotheose der mexikanischen Provinz heute – wie es ein halbes Jahrhundert früher Juan Rulfos gespenstischer Roman »Pedro Paramo« war.

An einigen Stellen verliert das Buch seine imaginative literarische Dichte & Fernanda Melchors unbändige Lust des ausgiebigen Plantschens im machistisch-sexistischen Vokabular kann auf Dauer der Monotonie nicht entgehen – so sehr der orgiastische Sprachfluß die beschwörende Atmosphäre des monströs-verstörenden Romans schafft & trägt.. Wenn Melchor aber eine ihrer monologisierenden Heldinnen »auf männliche Art« fluchen lässt: »… schneid ich mir die Eier ab« & diese Figur im  Selbstgespräch sofort hinzufügt:. »die ich nicht hab…«, kommt der Poetin ihr pragmatischer Rationalismus in die Quere & beschädigt die brabbelnde Suada ihrer erfundenen Figur, die doch bedenkenlos-naiv in dem angeeigneten Macho-Jargon schwelgt.

In ihrer Danksagung, die u.a. erwähnt, dass ihr ein literarischer Kollege »im genau richtigen Moment die Lektüre von >Herbst des Patriarchen< empfohlen« habe, ist ein diskreter Hinweis darauf, dass die junge Mexikanerin wohl die Suada ihrer euphorischen sprachlichen Beschwörungen, welche ihre Leser gewissermaßen zu intimen Teilhabern der Inneren Monologe ihrer Figuren machen, aus dem kollektiven Raunen & Klagen entwickelt hat, mit dem Gabriel Garcia Márquez die mythische Figur des lateinamerikanischen Caudillos in seinem großen Roman uns einst vor Augen gestellt hatte. Der Schatten aller einmal weltbekannter lateinamerikanischen Autoren fällt auf jeden jüngeren, der dort heute debütiert. Von ihnen literarisch zu lernen, dürfte nicht das Schlechteste sein, was man aus dieser überwältigenden Erbschaft machen kann.   

Artikel online seit 14.08.19
 

Fernanda Melchor
Saison der Wirbelstürme

Roman.
Aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar
Wagenbach, Berlin 2019
234 Seiten
22,00 €

 


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