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Die Fliege im Fliegenglas

Frank Witzels metaphysisches Tagebuch
»Uneigentliche Verzweiflung«

Von Jürgen Nielsen Sikora

Früher war ein gutes Buch wie der erste Kuss: Es prickelte am ganzen Körper. Wohlsein, Wärme, Wahnsinn – es sollte bitte nie aufhören. Das Schöne war: Es gab so unendlich viele literarische Liebkosungen, die dieses Kribbeln hervorriefen.

Die Geschichten mussten nicht das pure Glück versprühen, sie zu lesen war es. Ich erinnere mich, wie ich mit Krümel und Jonathan litt, wie erleichtert ich war, als sie sich in Nangijala wiedersahen. Ich erinnere mich an Tomas und Teresa, deren Beziehung auf wundersame Weise mit Nietzsches Idee der ewigen Wiederkunft verknüpft war. Ich erinnere mich an Max und Onno, Ada und Quinten, an Kabbala und Mystik in ihrer Geschichte, an den Bund zwischen Gott und den Menschen. Und ich erinnere mich natürlich an den berühmten Insassen einer Heil- und Pflegeanstalt und seine Trommel (ein ebenso verrücktes Buch wie jenes Werk, in dem Gudrun Ensslin als Indianersquaw aus braunem Plastik reüssiert), an Walter Van Brunt und seine holländischen Vorfahren, an die vielen anderen Geschichten, die mich am Leben gehalten haben, weil sie Trost und Hoffnung zugleich waren.

Wer vierzig Jahre und mehr überwiegend lesend sein Leben verbracht hat, mag müde sein, seine Augen schwer. Die Küsse schmecken nicht mehr so wie früher, man gewöhnt sich; das Neue fehlt, die Überraschung bleibt aus. Heute lege ich viele Bücher schnell beiseite in dem Wissen, dass hier keine Tür aufgestoßen wird, die mich in unbekannte Welten führt. Ich bin weiterhin bereit für Liebkosungen, sanfte oder verstörende, doch sie sind selten geworden.

Völlig verschwunden aber sind sie nicht: Hanya Yanagiharas »Ein wenig Leben« ist so ein aufwühlendes, verstörendes Buch. Und da ist der kleine Dieb Theodore Decker oder der junge Adrià Ardèvol i Bosch und seine Geige, aber auch Yves Deroy und sein Koffer voller Toten – Figuren, die mich Raum und Zeit vergessen lassen.

Und es gibt eine Art von Literatur, die sich eher wie das plötzliche Ende einer Beziehung anfühlt: Schmerz und Ungläubigkeit machen sich breit, Sehnsucht nach gestern. Lesen ist dann Leiden, zumindest Mitleiden, ist Schwermut und süße Traurigkeit. Früher kam dieses Gefühl einer Katastrophe gleich. Man lernt erst mit der Zeit, dass die andere Seite des Glücks ebenso zum Leben gehört. Was wäre die literarische Welt ohne »All the Assholes in the World and Mine«? Ohne das Kindertotenbuch »Henri«? Ohne Guyotats »Prostitution« und sein »Grabmal«? Bloß die Sinnlichkeit der Lippen zu preisen ohne den Schock, beim Lesen auch das Messer im Bauch zu spüren, ist vielleicht sinnlos. Doch was ist es nicht?

Wer schreibt, denkt über sein Schreiben nach, über das Was ebenso wie über das Wie. Diese Gedanken bleiben jedoch meist im Verborgenen. Sie sind selten Teil der Geschichte, die erzählt wird. Anders bei Frank Witzel. Er nimmt sich zwei ganze Monate von September bis November 2018, um seine Gedanken niederzuschreiben, öffentlich zu machen; Gedanken, die sonst hinter den Roman zurückgetreten, für immer verloren wären. Schonungslos, nicht weniger erschütternd, reflektierend, immer zweifelnd ist der Text, den er abliefert. Die Angst (zu scheitern) schreibt dabei mit: »Die Löcher im Denken betrachten. Die Lücken im Tagesablauf. Alles das, was angeblich nicht klappt, weil darin etwas aufscheint.«

Begleitet von Unruhe, Beklemmung, Verzagtheit, Verzweiflung, von Trauer, Unsicherheit und Leere, sitzt er in seinem »metaphysischen Tagebuch« zu Gericht über sich selbst. Die Metaphysik, seit Aristoteles das philosophische Fragen nach den letzten Dingen (Gott, Geist, Seele, Unsterblichkeit) will Erkenntnisse außerhalb der Grenzen der sinnlichen Erfahrung liefern. Hatten die großen Philosophen noch die Wahrheit über die Welt im Blick, so horcht Witzel in sich selbst hinein: Statt Gewissheit steht am Ende der Zweifel, statt des kosmologischen Fernrohrs nutzt er Introspektion und Autognosie: Ein Text zwischen anspruchsvoller philosophischer (Selbst-)Erkenntnis und mutloser Tagträumerei, deren Radikalität gleichwohl einzigartig ist. »Die Philosophie ist nicht dazu da«, heißt es in Anspielung auf Wittgenstein, »der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen, sondern dem Menschen zu zeigen, dass er die Fliege im Fliegenglas ist, er und kein anderer, und zwar ist er durch sein Denken hineingeraten und denkt deshalb, er müsste doch eigentlich mit seinem Denken wieder hinauskommen.«

Und was ist dieses Eigentliche? »Das Eigentliche scheint das zu sein, bei dem ich eine Anstrengung verspüre. Die Anstrengung macht es zum Eigentlichen. Die Ablenkung hingegen geschieht ohne Anstrengung … Sofort besteht die Gefahr, … das Uneigentliche, das man durch die Gnade der Ablenkung erfahren hat, zum Eigentlichen zu machen und das zurückgelassene Eigentliche als Ablenkung zu diffamieren.« Uneigentliche Verzweiflung, die auf nichts zielt, allenfalls will sich einer den Mühlstein vom Hals schaffen, oder wenigstens im Scheitern erfolgreich sein.

Ich habe lange, sehr lange sogar, für die Lektüre gebraucht, die Sätze hin und her gewendet, in mich aufgenommen, bin an ihnen auch immer wieder selbst zerschellt. Am Ende wusste ich, warum: Ich glaube, bei Adorno heißt es irgendwo (in Minima Moralia?), dass bei einem guten Text jeder Satz gleich nahe zum Mittelpunkt steht. Das ist bei Witzel der Fall: Überall ist die Mitte, und beim Lesen bis du immer mittendrin, im Auge des Sturms, und um dich herum wirbelt alles empor, stürzt auf dich ein, dreht dich links und rechts im Kreis herum.

Und was bist du? »Jemand, der ein glückliches Leben führt, sein Glück aber immer nur im Nachhinein erkennen kann und deshalb zum Melancholiker wird, weil er das Glück ausschließlich mit dem Vergangenen assoziiert.«

Das Buch? Ganz gewiss Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Witzel geht schwimmen, und du schwimmst mit: »Bin ich dann im Becken, sehe ich mich schon nach kurzer Zeit von oben wie einen zappelnden Käfer, der gegen etwas zu kämpfen scheint, was für andere nicht sichtbar ist. Was trage ich dort aus? Wie verhält es sich also mit meinem Körper in Bezug auf meinen Geist und umgekehrt? Ich bräuchte Wittgenstein als Schwimmlehrer, der mir den Ausweg aus dem Becken weist.«

Witzel spricht über Religion, und du beginnst zu beten; er liest Bataille, und du spürst die Raserei der Erotik, der Kunst, der Verschwendung; Barthes, und du erkennst dich als unreines Subjekt; Kierkegaard, und du akzeptierst deine Existenz vor Gott; Simone Weil, und schon beginnst du zu hungern. Doch du leidest auch mit an seiner mysteriösen Beziehung zu O, letztlich auch an jener zu seiner Therapeutin. Manchmal wirkt es, als seien sie alle eins.

Selten regt sich in mir Widerspruch, sofern das überhaupt eine legitime Reaktion bei einem radikal subjektiven Text ist. Ich stolpere zum Beispiel über den folgenden Vergleich: »Glaube ist Wissen und Wissen ist Glaube. Wenn ich etwas weiß, dann muss ich daran glauben, es zu wissen. Wenn ich etwas glaube, dann weiß ich, dass ich es glaube.« Das scheint einleuchtend, nichtet allerdings den Unterschied zwischen Performanz (das Wissen um) und Proposition (Glaubensinhalt).

Einen Höhepunkt des Buches bildet meines Erachtens die gnadenlos-amüsante Kritik des Briefes der Zeitschrift »Christ in der Gegenwart«. Witzel nimmt den Text der Katholischen Wochenzeitschrift unnachahmlich auseinander. Just an dem Tag, an dem ich Witzels Kritik lese, landet ebenfalls ein Brief von »Christ in der Gegenwart« in meinem Briefkasten. Peter Handke, Tanja Kinkel, Volker Gerhardt und andere machen sich darin für die Lektüre der Zeitschrift stark. Doch Witzel ist viel überzeugender.

Am 21. November 2018 folgt dann eine der letzten Notizen seines Tagebuchs. Er notiert: » … nur noch lesen, was andere gedacht haben, und mich daran erfreuen. Aber ich kann meine Klappe nicht halten. Zudem erscheint mir die Vorstellung fast wahnwitzig, mein Leben nach meinen Bedürfnissen einzurichten: Wurstsemmel, Fanta und Kierkegaard.«

Krankheit zum Tode: Die Fliege im Fliegenglas ist Metaphysiker.

Artikel online seit 17.11.19

Frank Witzel
Uneigentliche Verzweiflung
Metaphysisches
Tagebuch I
Matthes & Seitz, Berlin
295 Seiten,
Hardcover
gebunden
978-3-95757-780-1
22,00 €

Leseprobe


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