Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

Home  Termine   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  Impressum & Datenschutz


 










Merk-& denkwürdige Begegnungen

Johann Karl Wezels wiederentdeckter Gesellschaftsroman aus dem 18. Jahrhundert

Von Wolfram Schütte

 

Ohne Arno Schmidts Plädoyer für Johann Karl Wezel (1747/1819), den Autor des deutschen »Candide« (nämlich »Belphegor«), würde Wezels umfangreicher Bildungsroman »Hermann und Ulrike« (1780) wohl kaum den Weg in die zwei schmucken Bände einer Kassette der »Anderen Bibliothek« gefunden haben. Der Kenner & Liebhaber außerordentlicher Literatur, Wolfgang Hörner, der überall zu finden ist, wo anspruchsvolle Literatur (wieder)entdeckt wird, hat für die Kassette ein Dossier zu  Leben & Werk des ebenso streitbaren wie offenbar auch zänkischen Spätaufklärers, geboren & gestorben im mitteldeutschen Sondershausen, zusammengestellt.

Daraus erfährt man, dass dieser erste allein von seiner lebhaften literarischen Produktion leben wollende deutsche Autor  mit Hölderlin sein Altersschicksal aus Wahn, Isolation & Armut teilt. Hörner möchte den heute vergessenen, seinerzeit aber höchst bekannten Roman als »viertes Glanzstück des deutschen Bildungsromans neben Wielands >Agathon<, Karl Philipp Moritz« >Anton Reiser< und Goethes >Wilhelm Meister<« literaturhistorisch platziert sehen. An anderer Stelle wird »Hermann und Ulrike« – wegen seines panoramatischen Gesellschaftsbildes, durch das sich das verfolgte, getrennte & wieder vereinte Liebespaar bewegt, an die Seite von Henry Fieldings »Tom Jones« gestellt.

Nun, auch für literarische Archäologen gehört Klappern zum Handwerk – wenn das lange verschüttete Objekt ihrer Entdeckungslust endlich das Tageslicht der Gegenwart erblickt. Die geistige Freiheit & erzählerische Souveränität, die das chef d'oeuvre des englischen Friedensrichters Fielding zu einem der großartigsten Romane aller Zeiten haben werden lassen, besitzt der leidenschaftliche bürgerliche Aufklärer Wezel nicht.

Sein materialistisches Interesse an Psychologie & Anthropologie, dem er in einer »Privatanstalt für den Unterricht und die Erziehung junger Leute zwischen  zwölf und achtzehn Jahren« nachgehen wollte, kommt allerdings über deren Ankündigung, mangels finanziellem Zuspruchs, nicht hinaus. Wezels antifeudalistische Passion für die Pädagogik durchwirkt jedoch nachhaltig den Plot & die mannigfachen Erzähler-Belehrungen von »Hermann und Ulrike«. Ja, der Roman ist in mancher Hinsicht so etwas wie das Hohe Lied der aufklärerischen Pädagogik.

Denn beide Hauptfiguren, die aus »unterschiedlichen Ständen« durch die Liebe unzertrennlich zu einander fanden, gelingt diese erstaunliche »Klassenversöhnung« von Adel & Bürgertum unter den Fittichen des einst für beide von Graf & Gräfin Ohlau bestallten Erziehers »Schwinger«. Merkwürdiger Name! Über ihn bemerkt der Erzähler auf seine sarkastische Art: »Er war einer von den Unglücklichen, denen die Natur viele Kraft, und das Schicksal nichts als unwichtige Gelegenheiten giebt, sie zu äußern: Talente und Ehrbegierde bestimmten ihn, ein Volk zu regieren, und weil sich kein Volk von ihm regieren lassen wollte, so regierte er – Kinder. Um ihn noch mehr zu tücken, nötigte ihn sein widriges Geschick, den Platz im Hause des Grafen anzunehmen« – wo er zuerst die arme, elternlose Verwandte des Grafen, die höchst muntere »Baronesse Ulrike«, pädagogisch betreuen sollte. Das war für den jungen Erzieher umso bedauerlicher, fährt der Erzähler fort, als »dem Unterrichte eines  Frauenzimmers ein enger Kreis meistentheils vorgezeichnet wird«. Der Graf möchte ihr z.B. »Stolz und Verachtung gegen alle unter ihrem Stande einpflanzen«, wogegen die Baroness sich entschieden zur Wehr setzt – allerdings, ohne ihren inneren Widerstand an die große Glocke zu hängen. Jedoch beschreibt der Erzähler sehr schlüssig, wie Ulrikes »Double bind« ihre gesamte öffentliche Erscheinung, Verhaltensweise & geistige Artikulation prägt.  

Glücklicherweise bekommt Schwinger bald die zusätzliche Aufgabe, sich pädagogisch auch noch um »Hermann« zu kümmern, was umso glücklicher für Schwinger & die zwei von Anfang an ungewöhnlich aufgeweckten &  ineinander verliebten Kinder ist, als diese pädagogische Provinz gewissermaßen gegen den Willen des Grafenpaars hinter deren Ahnung &.Gegenwart aufblüht. Noch im Alter wird der Mittler die zu tadellosen Charakteren gereiften Hermann & Ulrike bewundern, weil er seinen pädagogischen Anteil an ihrer menschlichen Entwicklung sich selbst gut schreiben kann. (Da ist längst die etwas merkwürdige Ausgangslage vergessen: dass die Eltern des kleinen Hermann erlauben, dass ihr aufgeweckter Sohn, gewissermaßen als Spielzeug der kinderlosen Gräfin, im Schloß erzogen wird.) .

Nicht der geringste Reiz dieses vom Autor zurecht als »komischer Roman« titulierten Werks aus dem 18.Jahrhundert ist sein erhaltener authentischer Sprachleib. Wezels Deutsch ist uns gelegentlich sowohl grammatikalisch & idiomatisch als auch verbal fremd, jedoch können wir uns mit Phantasie unsern Reim darauf machen z.B. auf das oben gebrauchte Wort »tücken«, das für uns nur als »Tücke« oder »tückisch sein« überlebt hat. Derart haben wir das zusätzliche Vergnügen, mit Frühformen unseres heutigen Deutschs immer wieder amüsanteste Bekanntschaften zu machen.

Hinzu kommt, dass Wezel, der ja auch zeitweise Lustspiele verfasst hat, immer wieder die Handlung zu reinen (witzigen) Dialogpassagen verdichtet. Man fühlt sich in diesem Roman des 18. Jahrhunderts deshalb gelegentlich an die brillanten Wortgefechte einer Screwball-Comedy Hollywoods aus den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts erinnert.

Wieland, der ja als Romancier für seine allerdings elegantere Prosa  eher eine Rokoko-Antike  erfand, soll von dem satirisch-humoristischen Wezelschen Roman aus der duodezlichen  deutschen Gegenwart gesagt haben, es sei der beste Roman, den er gelesen habe.

Zumindest hätte sich Wezels jüngerer Zeitgenosse Jean Paul für seine Adelskritik ein kräftiges Stück bei diesem abschneiden können. Allerdings ist der Sondershausener Streithammel, der ohne Scheu wie die radikalsten französischen Aufklärer von Menschen auch mal als »Maschinen« spricht, ebenso sehr Atheist wie Fürstenhasser. Soweit ins »Unanständige« hat sich der empfindsame, glaubensbedürftige Wunsiedeler, der mit dem Adel bis hinauf zur preußischen Königin Luise aufrichtig-sympathetischen Kontakt hielt (& nicht bloß aus verständlicher ökonomisch-politischer Berechnung), nie aus dem verwinkelten Bau seiner Fiktionen in persona hinaus getraut. Wahrscheinlich konnte Jean Paul auch gar nicht wirklich hassen wie Johann Karl Wezel, mit dem er übrigens die Passion für die Erziehung (»Levana«) teilte.

Jedenfalls macht Wezel aus dem autokratisch-eitlen Grafen Ohlau in jeder Hinsicht ein hinterhältiges, launisches Scheusal. Es erwartet von seinen Untertanen, wenn der Herr Graf im glitzernden Ornat sonntags in einer seiner teuren Kutschen ausfährt, vollzählig am Straßenrand zu stehen & ihm zu huldigen. Besonders gibt Wezel seinem satirischen Affen aber Zucker, wenn er ausmalt, was der Graf alles höchstpersönlich unternimmt, um seine winzige provinzielle Hofhaltung auf die kultivierte Höhe der Intrigen- & Skandalwirtschaft des Maßstäbe setzenden Hofs in Versailles zu hieven – nur um sich selbst dabei als »Sonnenkönig« (im Kleinformat) zu genießen.

Aber noch mehr als den (sadistischen) Grafen verachtet Wezel die speichelleckerische höfische Gesellschaft: »Man plagte und quälte sich so herrlich, als wenns ein Königreich gegolten hätte, und gewöhnlich war doch nichts als die kleine Glückseligkeit, mit einem Befehle mehr vom Herrn Grafen beehrt zu werden«. Besonders sticht ihm dabei ins Auge, »der Liebling des Grafen, sein so genannter Maulesel, der große Hetzhund seines Herrn, der sich ein ordentliches Studium daraus machte, seine Kameraden in unaufhörlichem Streite zu halten«. Dieser Intrigant & Agent provocateur hat einen Sohn, namens Jacob. im Alter Hermanns. Wie  dieser soll er gebildet werden vom Hauslehrer Schwinger, der aber »lieber einen leiblichen Sohn des Satans unterrichtet hätte, als diesen Buben. Aber was sollte er tun? Es war Befehl des Grafen, von dem er sein Glück erwartete«.

Während Wezel seinen Titelhelden mit einem hymnischen Vokabular beschwört, das aus Hermann gewissermaßen  einen deutschen Apollo von Belvedere macht, häuft er auf Jakob alle nur möglichen superlativierten Negativ-Eigenschaften: »Aus seinen lichtgrauen, beinahe grünen Augen lauschte der ausgemachteste Schelm hervor, der niederträchtig seyn mußte, weil er zur Bosheit zu tumm war…« Bald ist von Jakobs »Affenkopf« & »diesem Pavian« die Rede, von seiner Faulheit, pädagogisch ist bei ihm von Anfang an Hopfen & Malz verloren. Des Erzählers metaphorischen Exaltiertheiten gipfeln in einer unheimlichen Passage, die in toto zitiert sein muß, weil sie offenbart, wie der Hass Wezels literarische Kunst erodieren lässt:

»Erblickte man neben diesem Marmorbilde des Phidias« (womit der vom Erzähler Wezel antikisch geadelte junge Hermann gemeint ist), »den thönernen Jakob, von dem elendesten Töpfer geformt – einen dicken kugelrunden Kopf, mit Schweinsaugen, einer ungeheuern Nase, einem großen verzerrten Munde und hauptsächlich zur Warnung aller Sterblichen mit der hämischsten, tückischsten, gelbsichtigsten Miene und der niederträchtigsten Dummdreistigkeit so deutlich und leserlich, als ein Dieb vom Scharfrichter, gebranntmahlt: sah man diesen krummbeinigten Pagoden dahinschlentern, und mit den plumpsten Manieren oder leidenschaftlichem Ungestüm die Arme bewegen: dann wünschte man sich das Recht, ein so mißlungenes Werk zu zerstören, das eine Welt verunstaltete, die solche  Geschöpfe hervorbringt, wie eines neben ihm stand« (- nämlich der schöne junge Hermann, aus dessen »feurigen dunkelblauen Augen eine Seele voll edler Größe und starken Gefühls sprach«.)

Wie hier aus anthropologischem Ästhetizismus & Moralismus die Mordlust entsteht, die »mißlungene« Gestalt zu zerstören, weil ihre Häßlichkeit die harmonische Welt des schönen Menschen »verunstalte«, ist ein erstaunliches, ein zutiefst verstörendes Fundstück der Lektüre des wieder ausgegrabenen Romans »Hermann und Ulrike«.

Artikel online seit 01.07.19
 

Johann Karl Wezel
Hermann und Ulrike
Ein komischer Roman
Mit vierzehn Abb.
& einem Dossier von Wolfgang Hörner
Die Andere Bibliothek, Berlin 2019
816 Seiten
68,00 €

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Impressum - Mediadaten