Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

Home  Termine   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  Impressum & Datenschutz


 








Individuelle Abschiedssymphonie?

António Lobo Antunes' Roman »Für jene, die im Dunkeln sitzt und auf mich wartet«

Von Wolfram Schütte
 

Die Titel seiner Romane waren von jeher das erste Rätsel, das der portugiesische Epiker seinen Lesern aufgab. Je weiter sein Oeuvre der mehr als zwanzig Romane fortgeschritten ist, die er in rund 35 Jahren (quasi laufend) geschrieben hat, desto solipsistisch-apokrypher wurden deren Titel. Der 2016 in Portugal erschienene, im vergangenen Jahr – wie immer von Maralde Meyer-Minnemann übersetzt – bei Luchterhand auf Deutsch publizierte heißt: »Für jene, die im Dunkel sitzt und auf mich wartet«.

Als Kenner & Bewunderer des 78jährigen António Lobo Antunes´ ist man in der Versuchung, diesen widmungshaften Titel sehr wörtlich & selbstbezüglich zu nehmen. Seine sehr geliebte erste Ehefrau, die er vor einigen Jahren auf dem langen Weg in »das Dunkel« des Todes begleitet hatte, sitzt dort & wartet auf ihn?

Es steht nicht zum ersten Mal in diesem Romanwerk die Agonie einer Person im Mittelpunkt des Romans. Keiner hat die Imagination eines Inneren Monologs als Selbstgespräch, das langsam zu Tode hin erlischt, weiter entwickelt & virtuoser als vielstimmige, zeitgleiche Beschwörung von Vergangenheiten & Gegenwarten »musikalisiert« wie Lobo Antunes in seinen Romanen. Mit »musikalisiert« meine ich eine lyrische Prosa, die so gut wie vollständig aus mäandrierenden Erzähl- & Memoirbewegungen besteht, die immer wieder zu semantisch wiederholten Themen-Clustern führt.

Hier ist es eine demente arbeitslose ältere Schauspielerin, die nie sonderlich beruflich reüssiert hatte. Sie lebt mit einer Katze in der Wohnung ihrer längst verstorben Eltern in Lissabon; eine »ältere« (wohl eher gleichaltrige) Frau kümmert sich um sie, solange es »dem Neffen meines Mannes« noch nicht gelungen ist, vom behandelnden Arzt die Überweisung in ein Altersheim zu bekommen, um in den Besitz der Wohnung zu gelangen, wie das seine Frau wünscht. Denn die todkranke, vor sich hinsterbende Tante bekommt zwar alles, was um sie geschieht, akustisch mit, aber sie spricht nicht mehr. Sie lebt & webt in einem Gespinst aus (frühkindlichen) Erinnerungsfetzen, ihren (in unseren Tagen berüchtigt gewordenen) sexistischen Erfahrungen als junge Schauspielerin mit der »Besetzungscouch« im Büro des Theaterchefs oder leidet an den Traumata, die sie aus ihren zwei unglücklichen Ehen zurückbehalten hat.

Ritornellhaft kehren die Halluzinationen dieser armen Seele zu diesen Brenn- & Fixpunkten ihres sich auflösenden gelebten Lebens zurück. Als Leser werden wir, durch das aufflackernde, fragmentarische, obsessiv kreiselnde Selbstgespräch »infiziert«, gewissermaßen als Intimi unter die Hirnschale der Sterbenden versetzt. Das führt zu einer intensiv-innigen Lese-Erfahrung, wie sie dieser Autor als sein »literarisches Alleinstellungsmerkmal« in seinen Romanen der Neunziger Jahre »erfunden« & subtilisiert hatte. Mittlerweile hat er diese literarisch einzigartige Evokationskraft jedoch serialisiert & ritualisiert, so dass dem späten Lobo Antunes schon vorgeworfen wurde, seine literarische Darstellungsmethode habe sich mittlerweile verselbstständigt, die stoffliche Fülle & Individualität ausgedünnt & banalisiert. Prekäre Kollateralschäden mancher Spätwerke, deren primärer Zweck & Sinn im notwendigen Zeitvertreib des alternden Künstlers liegt, der sich mit der Routine seiner späten Glasspielereien das Faktum seines Erlebnis- & Vorstellungsverlusts verdrängt.   

Das Neu- & Andersartige dieser Imagination einer weiblichen psychischen Innenwelt & deren irrsinnigen Phantasmen (sie stellt sich z.B. vor, wie ein Vogel fliegen zu können) besteht darin, dass »Für jene, die im Dunkel sitzt und auf mich wartet«, zum ersten Mal im Oeuvre des Portugiesen so gut wie alles Memorierte sexuell codiert ist. Aus dem Vaterkomplex hat sie sich offenbar nie gelöst. Immer wieder taucht aus dem Strom der Erinnerung, Vaters zärtliches Wort für das kleine Mädchen: «Süße« auf; ebenso ostinat aber auch ihre Weigerung, im Bett mit ihren Männern diese wunschgemäß »Liebling« zu nennen.

Eine eher komische Rolle in ihren fluiden (erotischen) Erinnerungen spielt das Kruzifix überm Ehebett der Eltern. Offenbar soll sie noch in der Wiege mitbekommen haben, dass manchmal, wenn die Eltern im Bett lagen, das Kruzifix in Bewegung kam & immer schneller ans Bett schlug – bis die Eltern darüber tuschelten, ob die Tochter schon geschlafen habe oder »etwas mitbekommen habe«.

Während diese paradigmatische Situation von elterlichem Beischlaf & dessen kindlicher Wahrnehmung als traumatische Erinnerung der alten Frau noch schlüssig erscheint, bürdet der Romancier seiner memorierenden Dementen zu viel auf, wenn er sie Gedanken & Gefühle anderer Personen erinnern lässt, zu denen sie durch ihre eingeschränkt subjektive Perspektive keinen Zugang hatte, z.B. der Geliebten ihres Vaters & anderer Nebenfiguren. Auch, scheint mir, wäre das Buch geschlossener, wenn es mit dem sechsten Kapitel des 3. Satzes geendet hätte: »dabei schlug das Kruzifix so ohrenbetäubend laut, dass niemand, wirklich niemand, mitbekam, dass ich gestorben bin«.

Unklar geblieben ist mir die Gliederung des Romans in 3 »Sätze«, womit  offenbar die musikalische, sprich: symphonische Bedeutung des Wortes gemeint sein soll. Der »Prolog« ist ein kurzes Vorspiel, das man erst später als jenen Augenblick erkennt, in dem der geliebte Vater stirbt & die Mutter die noch kleine Tochter aus dem Haus in den Garten schickt: es ist Ende & Vertreibung aus dem kindlichen Paradies in der Hafenstadt Faro (Algarve), wo die Familie herstammt & noch glücklich gewesen war.

P.S. Der Verlag hat, was unüblich ist, das Geburtsdatum der Übersetzerin auf der Umschlagseite wohl bewusst angegeben. Sie ist nur 1 Jahr jünger als der Autor & hat seit den Neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Gesamtwerk des portugiesischen Autors Jahr für Jahr ins Deutsche übertragen. Maralde Meyer-Minnemann hat damit selbst ein einzigartiges Lebenswerk von einem der sowohl schwierigsten als auch produktivsten  Autoren der gegenwärtigen Weltliteratur vorgelegt. Ohne ihre unermüdliche Empathie & sprachliche  Intelligenz hätten wir im Deutschen keine Vorstellung vom gigantischen Oeuvre  des António Lobo Antunes. Ohne die Genialität des portugiesischen Autors zu schmählern, muss immer wieder & auch jetzt gesagt sein, da sie an der sprachlichen Anverwandlung seines jüngsten Romans sitzt, dass sowohl er als auch wir Leser ihr alles verdanken, was Lobo Antunes zu unserem lesbaren Zeitgenossen gemacht hat!  

Artikel online seit 15.01.20

 

António Lobo Antunes
Für jene, die im Dunkeln sitzt und auf mich wartet
Roman
Aus dem Portugiesischen übersetzt von Maralde Meyer Minnemann
Luchterhand-Literatur- Verlag, München 2019
431 Seiten
24,00 €   

 

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Impressum - Mediadaten