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Metamorphosen der Vernichtung

Eine Geschichte des Krieges vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

»War, I despise, it means destruction to innocent lives.«  (Edwin Starr)

Marter, Folter, Vergewaltigung und Genozid: Im Krieg wird jeder Schalterbeamter zur Bestie. Der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, führte nach eigenem Ermessen ein ganz normales Familienleben. Er sei völlig normal, glaubte er von sich selbst und sprach: »Selbst als ich die Ausrottung durchführte, führte ich ein normales Familienleben und so weiter.«
Höß hegte schon früh den Wunsch, ein zäher und rauer Soldat zu werden. Im Ersten Weltkrieg gelangte er als 15-Jähriger an die Front, wo ihm die Geborgenheit in der Kameradschaft der Soldaten zur neuen Heimat wurde. Gegenüber menschlicher Not sei er nie abgestumpft, doch habe er über sie hinwegsehen müssen, um nicht als weich zu gelten, um kein schlechtes Vorbild für seine Mannschaft zu sein. Denn der SS-Staat sei nur durch seelen- und erbarmungslose Fanatiker dauerhaft zu sichern gewesen, durch Menschen, die ihr eigenes Ich aufzugeben bereit waren.
Moralische Lethargie, Gefühl- und Gedankenlosigkeit kommen hier zum Vorschein, auch »die ganz in ihrer eigenen Gedankenlosigkeit und seelischen Taubheit befangene Aufrichtigkeit eines Mannes, dem für die bewußten Akte der Rechenschaft wirkliches Mitgefühl, Maßstäbe und auch Denkvermögen fehlten«, so Joachim Fest.

Ein von dem französischen Historiker Bruno Cabanes herausgegebener Band zeichnet nun die Entwicklungslinien des Krieges seit den Zeiten Napoleons über die Kolonialkriege und die beiden Weltkriege bis in die heutige Zeit hinein nach und diskutiert die Metamorphosen der Kriegstechnologien, auf die die kriegführenden Staaten und die Politik in den letzten 200 Jahren zurückgegriffen haben: Die Schlachtfelder und Schützengräben von einst wichen den Guerillas, dem Terror und den Drohnen – Symbolinstrument für einen Krieg ohne Schlacht.

Das Themenspektrum des Bandes – militärhistorisches Werk und Kulturgeschichte zugleich – ist breit gefächert: Propaganda und Kriegsrhetorik kommen ebenso zur Sprache wie Kriegstheorien, Strategien und Taktiken. In einzelnen Artikeln geht es um Rekrutierungsfragen, mögliche Laufbahnen oder den Korpsgeist, andere Beiträge handeln von Rechtsfragen und ethischen Problemen, auch von der Umweltzerstörung durch Kriegshandlungen. Feldpostbriefe oder Fragen der Finanzierung des Kriegsgeschehens sind ebenfalls Themen.
Im Fokus steht jedoch der Soldat, der mal Söldner, mal Held, mal Partisan ist; auch Frauen und Kinder griffen zu den Waffen. Insbesondere in der Roten Armee ist die Zahl der Soldatinnen relativ hoch. Alle Soldaten wissen seit jeher, was sie tun, und wozu sie da sind: Den Feind besiegen, töten, erobern. Die Brutalität des Krieges ist vielfach beschrieben worden, zu nennen ist hier stellvertretend Bernd Greiners herausragende Geschichte des Vietnam-Krieges mit dem Titel »Krieg ohne Fronten«, ebenfalls in der Hamburger Edition erschienen. In dem Band von Cabanes sind es vor allem Vergewaltigungen als Mittel des Kampfes, die das Thema Gewalt in den Fokus rücken.
Interessant sind darüber hinaus die Einschübe über die körperlichen Folgen des Krieges: Traumata und posttraumatische Belastungsstörungen, Stress, Verwundungen, die den Körper im Krieg auf Dauer zeichnen. Wer den Krieg nicht überlebte, musste in irgendeiner Form bestattet werden. Wohin aber mit den Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges? Die Verbrennungsöfen von Auschwitz sind gewiss die makaberste und traurigste Antwort auf diese Frage.

Cabanes und seine Mitstreiter werfen ebenso einen Blick auf den Pazifismus und die Friedensverhandlungen, die Kriegsliteratur und die Darstellung des Krieges in der Kunst. Dominierend ist bei allen Themen allerdings der europäische Blick auf die Geschichte des Krieges. So unterschiedlich die Themen also sind, so sehr wird eine echte Perspektivenvielfalt vernachlässigt.
Die deutsche Übersetzung des Werks hat einen zusätzlichen Makel, denn hier werden willkürlich einzelne Artikel gegendert, wofür das französische Original überhaupt keine Grundlage liefert. Es wimmelt nur so von »Soldat*innen« und »Kobattant*innen«, so dass kein Toter sich je diskriminiert oder nicht mitgemeint fühlen wird. Der Hang zur politischen Korrektheit nimmt zuweilen sehr skurrile Züge an, zumal die Verwendung der weiblichen Form und des Gendersternchens nicht (nicht einmal innerhalb eines einzelnen Artikels) konsequent durchgehalten wird. Dafür verwendet man an anderer Stelle Ausdrücke, die mindestens genauso fragwürdig sind – »Häuptling« zum Beispiel. Zudem enthalten einzelne Literaturhinweise nur Werke von Männern. Aber das ist dann wohl wiederum nicht so wichtig? Immerhin rund ein Drittel der beteiligten Wissenschaftler an dem Band sind Frauen. Es ist im Grunde müßig, solche Nebenkriegsschauplätze aufzumachen, aber der zuweilen vorherrschende Hang einiger Leute, es auch ja immer allen recht zu machen, fordert zwangsläufig zum Widerspruch heraus.

Davon abgesehen ist das rund 900 Seiten starke Werk eine wahre Fundgrube an Informationen militär- und kulturgeschichtlicher Provenienz und passt zu den qualitativ hochwertigen Publikationen der Hamburger Edition (des Verlags des Hamburger Instituts für Sozialforschung), die sich insbesondere der Geschichte und Gegenwart der Gewalt in einer globalisierten Welt annimmt. 1994 von Jan Philipp Reemtsma mit dem Ziel gegründet, die Forschungsergebnisse der wissenschaftlichen Arbeiten des Instituts über den akademischen Betrieb hinaus zugänglich zu machen, veröffentlicht der Verlag inzwischen auch zahlreiche Bücher, die über das Thema Gewalt hinausreichen. Cabanes´ facettenreiche »Geschichte des Krieges« zählt hierbei gewiss zu den herausragenden Publikationen der letzten Zeit. Einmal mehr wird deutlich, dass der Krieg jegliche Moral außer Kraft setzt und aus einfachen Menschen Monster macht.

Artikel online seit 20.11.20
 




Bruno Cabanes
Eine Geschichte des Krieges
Vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart
Aus dem Französischen von Daniel Fastner / Michael Halfbrodt / Felix Kurz
Hamburger Edition
903 Seiten, gebunden
39,00 €
978-3-86854-346-9

Leseprobe

 


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