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Ein kritisches Leben |
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»Arbeit
an einer guten Prosa«, schreibt Walter Benjamin in einem »Achtung Stufen!«
betitelten Abschnitt seiner 1928 erschienenen »Einbahnstraße«, habe drei Stufen:
»eine musikalische, auf der sie komponiert, eine architektonische, auf der sie
gebaut, endlich eine textile, auf der sie gewoben wird.«
Beeindruckend ist insbesondere Benjamins poetischer Scharfsinn, das Mosaik an
Ideen und Einfällen, das Panorama seiner Themen: Kindheit und Fotografie,
Literatur und Geschichte, die Geheimnisse der Dingwelt, Kunst, Mode, Träume,
Städtebilder, Portraits, Pornografie, Rezensionen und Radiobeiträge – und vieles
mehr: Benjamin ist keiner Disziplin, keinem Genre zuzuordnen. Er experimentiert
mit den unendlichen Möglichkeiten der Sprache. Zum 80. Todestag hat der Suhrkamp-Verlag nun – endlich – die im Original 2014 auf Englisch erschienene, zu Recht als »monumental« bezeichnete Biografie (»A Critical Life«) von Howard Eiland und Michael W. Jennings ins Deutsche übertragen lassen. Stolze 1020 Seiten lang und dennoch äußerst kurzweilig, berichtet die streng chronologisch angelegte Biografie sehr kenntnisreich und detailliert über dieses »Genie des Verweilens« und flicht auf elegante Weise zeitgeschichtliche Kontextualisierungen, ausführliche werkimmanente Darstellungen und interpretative Abschnitte in die Lebensgeschichte Benjamins ein.
Beginnend mit der Kindheit in Berlin, der Jugendbewegung und einigen Passagen
über das Judentum, folgen Eiland und Jennings Benjamin durch dessen Studium,
nach Muri und weiter nach Capri, diesem für sein Leben so einschneidenden
Aufenthalt, nicht nur, weil er dort das erste Mal auf Asja Lacis trifft, sondern
auch, weil die dort gesammelten Erfahrungen seine Arbeitsweise neu
strukturieren. Es folgen Stationen und Aufenthalte in Frankfurt, wo 1925 seine
Habilitation scheitert, in Moskau und Marseille, wo er sich mit Bloch und
Kracauer trifft, sodann in Ibiza, um schließlich, auf der Flucht vor den Nazis,
in Paris zu landen, wo die bis heute nachhallenden Arbeiten entstehen, allen
voran die »Passagenarbeit«. Die Biografie thematisiert darüber hinaus ausführlich das schwierige Verhältnis Benjamins zur eigenen Familie und nimmt gründlich und umfassend Bezug zu den wichtigsten Zeitgenossen wie Hannah Arendt, Siegfried Kracauer, Theodor Adorno, Gershom Scholem, Franz Hessel und seiner tragischen Liebe Asja Lacis sowie der komplizierten Beziehung zu seiner Frau Dora. Als Ehemann und Vater taugte Benjamin ganz offensichtlich weniger, wie auch Eva Weissweiler (Das Echo Deiner Frage, 2020) herausgestellt hat. Dennoch hatte Benjamin, so seine Biografen, ganz offensichtlich »eine Begabung für eine bestimmte Art von Freundschaft, seine geistige Brillanz und Intensität zogen eine lange Reihe von beeindruckenden Geistern in seinen Bann. Aber selbst wenn eine Beziehung etabliert war, gab es keine Garantie für den weiteren glatten Verlauf: Benjamin hielt seine engsten Freunde auf Abstand, er behielt sich das Recht vor, seine Privatsphäre um jeden Preis abzuschirmen. Und nach Scholems Erinnerung war er darauf bedacht, seinen Freundeskreis hermetisch von jeder anderen Gruppe abzuriegeln, er betrachtete dieses Vorgehen als ein virtuelles Gesetz des sozialen Umgangs.« Jean Selz, der Benjamin 1932 auf Ibiza kennenlernte, erinnerte sich 1961 an einen »der intelligentesten Menschen«, denen er in seinem Leben je begegnet sei. Niemand habe ihm »mit solcher Eindringlichkeit zu fühlen gegeben, daß eine Tiefe des Denkens existiert, in der bestimmte Fakten aus der Geschichte oder aus den Wissenschaften, von der strengen Logik der Urteilskraft mitgerissen, auf eine Ebene mit ihrer dichterischen Entsprechung gerückt werden …« »Tiefe des Denkens« hieß jedoch nicht, wie Benjamin selbst betonte, nicht auch eine »Philosophie aus dem Kaffeesatz« zu entwickeln, in dem auch so sonderbare Figuren wie der Schachtürke, das bucklichte Männlein, die Muhme Rehlen und der Engel der Geschichte ihren Platz fanden. Diese Philosophie kulminierte in seinen Thesen zum Begriff der Geschichte, jenem »Strauß flüsternder Gräser«, die bis heute nichts von ihrer Faszination verloren haben. Zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotografien – von Benjamin wie von seinen Weggefährten – bebildern diese großartige Biografie. Das (spiegelverkehrte und nachkolorierte) Foto von Gisèle Freund, das das Buchcover ziert, zeigt Benjamin 1939 am Kloster Pontigny bei Auxerre, wo er dank eines Stipendiums weilte. Auch das berühmte Bild aus der Bibliotheque Nationale ist in der beschnittenen Form abgedruckt. Die musikalischen, architektonischen und textilen Stufen dieser Biografie, um Benjamins Arbeit an einer guten Prosa noch einmal zu zitieren, sind sehr fein komponiert, stabil gebaut und besonders fein gewoben.
Artikel online seit 25.09.20 |
Howard Eiland,
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