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Ein kritisches Leben

Rechtzeitig zu Walter Benjamins 80. Todestag ist die fein gewebte
Biographie von
Howard Eiland und Michael W. Jennings in deutscher
Übersetzung bei Suhrkamp erschienen.


Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

»Arbeit an einer guten Prosa«, schreibt Walter Benjamin in einem »Achtung Stufen!« betitelten Abschnitt seiner 1928 erschienenen »Einbahnstraße«, habe drei Stufen: »eine musikalische, auf der sie komponiert, eine architektonische, auf der sie gebaut, endlich eine textile, auf der sie gewoben wird.«
Benjamins eigene Prosa lesen bedeutet, sich dem Zauber der Sprache und der Anmut des Denkens hinzugeben. Die Lektüre seiner Schriften (der brillante Schreibstil, die verblüffende Originalität oder die unvergleichliche Vielseitigkeit) schult die Urteilskraft. In seinen Texten schwingt zudem eine nur schwer zu beschreibende Atmosphäre mit – eine Stimmung von wohltuender Schwermut, von gebrochener Ekstase und Heiterkeit, von schöpferischer Verzweiflung und quälender Hoffnung. Jeder Satz wirkt auf den Körper ein, jedes Wort ist zugleich Zentrum im Universum des Werks; jeder Gedanke fährt, Akupunkturnadeln gleich, durch die Haut, und in jedem fehlenden Komma macht sich der Phantomschmerz vergangener Epochen breit.

Beeindruckend ist insbesondere Benjamins poetischer Scharfsinn, das Mosaik an Ideen und Einfällen, das Panorama seiner Themen: Kindheit und Fotografie, Literatur und Geschichte, die Geheimnisse der Dingwelt, Kunst, Mode, Träume, Städtebilder, Portraits, Pornografie, Rezensionen und Radiobeiträge – und vieles mehr: Benjamin ist keiner Disziplin, keinem Genre zuzuordnen. Er experimentiert mit den unendlichen Möglichkeiten der Sprache.
Erschütternd ist seine Lebensgeschichte, die nur scheinbar am 26. September 1940 im spanischen Grenzort Portbou durch Suizid endet. Denn der Name Walter Benjamins, und mit ihm der Kosmos seines Schaffens, ist seit Jahrzehnten immer wieder Gegenstand akademischer und literarischer Diskussionen – und blitzt auch in unserer Gegenwart, nicht zuletzt dank der auf 21 Bände angelegten Kritischen Gesamtausgabe (»Werke und Nachlass«), regelmäßig auf.



Walter Benjamin in der Bibliothèque Nationale, Paris 1937

(Helvetiafocca, Creative-Commons)

Zum 80. Todestag hat der Suhrkamp-Verlag nun – endlich – die im Original 2014 auf Englisch erschienene, zu Recht als »monumental« bezeichnete Biografie (»A Critical Life«) von Howard Eiland und Michael W. Jennings ins Deutsche übertragen lassen. Stolze 1020 Seiten lang und dennoch äußerst kurzweilig, berichtet die streng chronologisch angelegte Biografie sehr kenntnisreich und detailliert über dieses »Genie des Verweilens« und flicht auf elegante Weise zeitgeschichtliche Kontextualisierungen, ausführliche werkimmanente Darstellungen und interpretative Abschnitte in die Lebensgeschichte Benjamins ein.

Beginnend mit der Kindheit in Berlin, der Jugendbewegung und einigen Passagen über das Judentum, folgen Eiland und Jennings Benjamin durch dessen Studium, nach Muri und weiter nach Capri, diesem für sein Leben so einschneidenden Aufenthalt, nicht nur, weil er dort das erste Mal auf Asja Lacis trifft, sondern auch, weil die dort gesammelten Erfahrungen seine Arbeitsweise neu strukturieren. Es folgen Stationen und Aufenthalte in Frankfurt, wo 1925 seine Habilitation scheitert, in Moskau und Marseille, wo er sich mit Bloch und Kracauer trifft, sodann in Ibiza, um schließlich, auf der Flucht vor den Nazis, in Paris zu landen, wo die bis heute nachhallenden Arbeiten entstehen, allen voran die »Passagenarbeit«.  
Der Einfluss seines Freundes Brecht, mit dem er oft stundelang Schach spielt, ist hierbei kaum zu überschätzen: »Obwohl Benjamin heute vor allem wegen seiner Werke aus der Mitte der Dreißigerjahre bekannt ist, kann doch gesagt werden, dass mit der Festigung seiner Freundschaft zu Brecht 1929 die Fundamente seiner gereiften intellektuellen Position gelegt waren. Das Konglomerat linksradikaler Politik, synkretistischen theologischen Überlegungen, die sich reichlich aus den Theologoumena des Juden- und Christentums bedienten, tiefgehende Kenntnisse der deutschen philosophischen Tradition und einer Kulturtheorie, die der Vielseitigkeit ihrer Objekte unter den rasant sich verändernden Bedingungen der Moderne entsprach – all das sollte sein Werk von jetzt an auszeichnen.«

Die Biografie thematisiert darüber hinaus ausführlich das schwierige Verhältnis Benjamins zur eigenen Familie und nimmt gründlich und umfassend Bezug zu den wichtigsten Zeitgenossen wie Hannah Arendt, Siegfried Kracauer, Theodor Adorno, Gershom Scholem, Franz Hessel und seiner tragischen Liebe Asja Lacis sowie der komplizierten Beziehung zu seiner Frau Dora. Als Ehemann und Vater taugte Benjamin ganz offensichtlich weniger, wie auch Eva Weissweiler (Das Echo Deiner Frage, 2020) herausgestellt hat.

Dennoch hatte Benjamin, so seine Biografen, ganz offensichtlich »eine Begabung für eine bestimmte Art von Freundschaft, seine geistige Brillanz und Intensität zogen eine lange Reihe von beeindruckenden Geistern in seinen Bann. Aber selbst wenn eine Beziehung etabliert war, gab es keine Garantie für den weiteren glatten Verlauf: Benjamin hielt seine engsten Freunde auf Abstand, er behielt sich das Recht vor, seine Privatsphäre um jeden Preis abzuschirmen. Und nach Scholems Erinnerung war er darauf bedacht, seinen Freundeskreis hermetisch von jeder anderen Gruppe abzuriegeln, er betrachtete dieses Vorgehen als ein virtuelles Gesetz des sozialen Umgangs.«

Jean Selz, der Benjamin 1932 auf Ibiza kennenlernte, erinnerte sich 1961 an einen »der intelligentesten Menschen«, denen er in seinem Leben je begegnet sei. Niemand habe ihm »mit solcher Eindringlichkeit zu fühlen gegeben, daß eine Tiefe des Denkens existiert, in der bestimmte Fakten aus der Geschichte oder aus den Wissenschaften, von der strengen Logik der Urteilskraft mitgerissen, auf eine Ebene mit ihrer dichterischen Entsprechung gerückt werden …«

»Tiefe des Denkens« hieß jedoch nicht, wie Benjamin selbst betonte, nicht auch eine »Philosophie aus dem Kaffeesatz« zu entwickeln, in dem auch so sonderbare Figuren wie der Schachtürke, das bucklichte Männlein, die Muhme Rehlen und der Engel der Geschichte ihren Platz fanden. Diese Philosophie kulminierte in seinen Thesen zum Begriff der Geschichte, jenem »Strauß flüsternder Gräser«, die bis heute nichts von ihrer Faszination verloren haben.

Zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotografien – von Benjamin wie von seinen Weggefährten – bebildern diese großartige Biografie. Das (spiegelverkehrte und nachkolorierte) Foto von Gisèle Freund, das das Buchcover ziert, zeigt Benjamin 1939 am Kloster Pontigny bei Auxerre, wo er dank eines Stipendiums weilte. Auch das berühmte Bild aus der Bibliotheque Nationale ist in der beschnittenen Form abgedruckt.

Die musikalischen, architektonischen und textilen Stufen dieser Biografie, um Benjamins Arbeit an einer guten Prosa noch einmal zu zitieren, sind sehr fein komponiert, stabil gebaut und besonders fein gewoben.

Artikel online seit 25.09.20
 

Howard Eiland,
Michael W. Jennings
Walter Benjamin
Eine Biographie
Übersetzt von Irmgard Müller und Ulrich Fries
Suhrkamp
1021 Seiten
58,00 €
978-3-518-42841-2

Leseprobe & Infos


Walter Benjamin:

Nomade auf Sammlerschaft

Ein literarischer Parcours mit einer Zitatensammlung, vielen Originaltexten, Essays und Rezensionen

Zu den Texten
»Nachdem Walter Benjamins Flucht vor den Nationalsozialisten 1940 mit seinem Tod am 26. September im französisch spanischen Grenzort Portbou jenes tragische und bis heute von Verschwörungstheorien umschwirrte Ende genommen hatte, war keineswegs abzusehen, welche Bedeutung Walter Benjamins Werk & Persönlichkeit für die Nachwelt einmal haben würde.«

 

 


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