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Space Trips
und die Frage nach dem Warum


Kultautor und Vielschreiber Dietmar Dath setzt seine
Ergründungen des Utopischen fort. Neben seinem neuen
Roman ist ein alle Dimensionen sprengender Essay zu Kultur
und Einfluss der Science Fiction erschienen.

von Thomas Hummitzsch
 

Manchmal glaubt man, Autoren können beim Schreiben in die Köpfe ihrer Leser schauen. In Dietmar Daths neuem Roman ist dies der Moment, als die deutsche Drahtzieherin Cordula Späth dem Amerikaner Christian Winseck erklärt, worin ihre gemeinsame Weltraummission besteht. Als sie fertig ist, sagt Winseck: »Ich weiß gar nicht mehr, ob es für dich überhaupt eine Wahrheit gibt, ob überhaupt irgendwas wahr ist hier, in diesem fucking labyrinth which you constructed for whatever unfathomable fucking purpose … or wether you’re just making shit up as we go along, und ob es dich überhaupt interessiert.«

Ein »fucking labyrinth« ist auch Daths neuer Roman »Neptunation«, dessen Handlung durch Raum und Zeit (bis zum Neptun und zurück) sowie zwischen den vielen Figuren hin und her springt. Im Kern erzählt er von einer verborgenen Asteroidenzivilisation, die das Resultat einer gescheiterten Raumfahrtmission aus den letzten Tagen des Kalten Krieges ist. Als einige Eingeweihte auf Erden kryptische Nachrichten empfangen, die vermuten lassen, dass da draußen Seltsames vor sich geht, macht sich ein Team aus Experten auf den Weg. Bei diesem Himmelfahrtskommando folgen nicht wenige Figuren einer verborgenen Agenda, so dass sich hinter jeder vermeintlichen Wahrheit ein neuer Abgrund auftut. In Spiralen führt die Handlung immer tiefer ins Chaos des Universums und seiner natürlichen Gesetzmäßigkeiten – man kennt das aus Daths anderen welt(raum)greifenden Romanen.

Es ist kein Wunder, dass es Dath ist, der uns deutschen Lesern nun auch die Faszination, Intelligenz und Kulturkritik des Genres aufzeigt, in dem er sich am wohlsten fühlt. Fiele der erste Deutsche Sachbuchpreis nicht wegen Corona aus, hätte sich Dath berechtigte Hoffnungen auf diese Auszeichnung machen können. Denn sein aktueller, alle Dimensionen sprengender Essay »Niegeschichte« ist ein fakten- und erkenntnisreicher, die Literaturgeschichte durchpflügender Geniestreich. Science Fiction beschreibt er darin auf fast eintausend Seiten als Kunst- und Denkmaschine, der es nicht um eine Abbildung der Wirklichkeit, sondern um Erkenntnis geht.

In diesem Sinn ist der Freiburger, der heuer seinen 50. Geburtstag feiert, der wichtigste SciFi-Autor, den es im deutschsprachigen Raum gibt. Seine spekulative Prosa ist einzigartig, im besten Sinn augenöffnend, aber auch maximal verstellt. Das gilt erst auch für den neuen Roman, der sich perfekt in sein faszinierendes Gesamtwerk einfügt, in dem die Menschheit immer und immer wieder nach den Sternen greift. An dieser Stelle sei auf die Romane »Waffenwetter«, »Die Abschaffung der Arten«, »Feldeváye« und »Venus siegt«, aber auch auf den Comic »Menschen wie Gras wie« verwiesen (die Links führen zu den weiterführenden Texten).

Schreibend sucht Dath seit Jahren nach der besseren Gesellschaft, wenngleich die niemand allein denken kann, wie er im Interview einräumt. Die alte Gesellschaft muss dabei aber stets überwunden werden. Dabei greift er immer wieder auf Aspekte der Astrophysik, Humanbiologie oder marxistischen Theorie zurück. Wer bei der Lektüre seiner neuen Space Opera auf derlei Kenntnisse zurückgreifen kann, ist klar im Vorteil. Wer jedoch nicht bereit ist, dieses Wissen auch wieder loszulassen, wird sich möglicherweise nur schwer auf Daths Hypothesen zur Zukunft der menschlichen Zivilisation einlassen können. Genau darin besteht die Faszination seiner komplexen Texte.

Artikel online seit 15.05.20
 

Dietmar Dath
Niegeschichte
Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine
Matthes & Seitz Berlin
942 Seiten
38,- Euro

 

Dietmar Dath
Neptunation
Fischer TOR
688 Seiten
16,99 Euro

 

 


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