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Die Leibseele und ihr Schatten im 21. Jahrhundert.

Zu Thomas Fuchs' »Verteidigung des Menschen«
Grundfragen einer verkörperten Anthropologie.

Von Wolfgang Bock
 

Eine Verteidigung
Eine Verteidigung des Menschen – hier findet sich eine aktualisierte Rückkehr der Theorien von Günter Anders, Max Scheler, Hugo Kückelhaus oder Karl Jaspers, das heißt in der Auseinandersetzung mit der Digitalisierung, dem Transhumanismus oder den wild gewordenen Phantasmagorien der künstlichen Intelligenz. Der Heidelberger Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs tritt ein für eine phänomenologische Anthropologie als körperliche Bedingung des menschlichen Geistes, gegen einen Naturalismus und einen Szientismus, die epistemologisch aus dem Ruder gelaufen sind und ihr Subjekt verloren haben.

In der Einleitung nimmt er bereits einen entsprechenden Problemaufriss vor und verwehrt sich gegen B. F. Skinners Behaviorismus ebenso wie gegen die Vorstellung des israelischen Historikers Yuval Noah Harari, der 2017in seinem weltweiten Bestseller Homo Deus behaupte, der Mensch sei nichts anderes als ein verbesserbarer Algorithmus. (S. 8–9) Dagegen wählt Fuchs einen humanistischen Ansatz und begründet ihn mit aktuellen Beispielen. Das geschieht ausführlich in zehn einzelnen Essays in den drei Teilen: Künstliche Intelligenz und Transhumanismus, Personalität und Neurowissenschaften, Psychiatrie und Gesellschaft. Fuchs argumentiert klar und distinkt, er wählt seine Beispiele aus Literatur, Psychologie, der Naturwissenschaft wie der Technik. Seine Essays sind verständlich und in einer angenehmen Wissenschaftsprosa geschrieben.

Kein Geist ohne Leib

In allen seinen Texten entwickelt Thomas Fuchs jeweils Varianten des Arguments, dass sich nicht der reine Geist, die Information oder das Gehirn ohne Leib weiter transformieren könnten: So wie bereits nach Kant die Taube den Luftwiderstand brauche, um fliegen zu können und nicht einen luftleeren Raum, so benötige der Mensch seinen Leib, um leben und denken zu können – und keine vollständige Loslösung vom organischen Körper in einem reinen Milieu des Geistes oder einer Maschine – Ideen, wie wir sie in aktuellen Technophantasien regelmäßig wiederfinden. (S. 112) Norbert Bolz beispielsweise spricht affirmativ in seinem Feld vom BANG-Design und dessen Anspruch, die Welt verbessern zu wollen („Nano-, Bio-, Informationstechnologie und Kognitionswissenschaften setzen die Welt neu zusammen.“) Nach seiner irrigen Vorstellung bestehe das Kantische Apriori in der Technik.[1]

Der Leib ist für Fuchs dagegen kein unnötiges und uneigentliches Akzidens eines reinen Geistes. Er ist vielmehr die notwendige, unhintergehbare, aber nicht hinreichende Bedingung des Geistes und des Denkens. Spannend daran ist, dass Fuchs so ganz richtig nicht nur den fundamentalistischen technisch ausgerichteten Transhumanismus aufs Korn nimmt, sondern auch den radikalen Voluntarismus beispielsweise aus der Genderdebatte. Danach sei das Geschlecht allein sozial konstruiert und es gelte nun als zentrales Wissenschaftsparadigma sowohl hier als auch im radikalen Konstruktivismus ein Gebot der Selbstdefinition: I am what I am hier und There is nothing more than that dort.
[2]

Nur wenn … und nur als …

Gegen einen solchen wildgewordenen Subjektivismus lauten Fuchs zentrale Thesen in seinem Buch:

Nur wenn sich zeigen lässt, dass die Person in ihrem Leib selbst gegenwärtig ist, dass sie mit ihrem ganzen Leib fühlt, wahrnimmt, sich ausdrückt und handelt, entgeht sie der Einschließung in einen verborgenen Innenraum des Bewusstseins, in eine unzugängliche Zitadelle, aus der nur Signale an die Außenwelt dringen, die sich von den Signalen einer künstlichen Intelligenz grundsätzlich nicht mehr unterscheiden lassen. Und nur wenn die Person über eine verkörperte Freiheit verfügt, sich also im Entscheiden und Handeln als Organismus selbst bestimmt, wird Subjektivität mehr als ein Epiphänomen, nämlich in der Welt real wirksam.

Nur als verkörperte, leibliche Wesen sind wir aber auch füreinander wirklich. Eine Kommunikation oder Empathie zwischen Gehirnen gibt es nicht, auch wenn Neurowissenschaftler das gerne behaupten. Empathie erlernen wir nur im leiblichen Kontakt mit anderen, in der »Zwischenleiblichkeit«, wie Merleau-Ponty sie nannte. Und wir verstehen andere nicht erst durch eine »Theorie des Geistes« (Theory of Mind), wie die gegenwärtige Entwicklungspsychologie annimmt, sondern bereits intuitiv anhand ihres leiblichen Ausdrucks, ihrer Gesten und ihres Verhaltens. Bereits wenige Wochen nach der Geburt erkennen Babys die emotionalen Äußerungen der Mutter oder des Vaters, nämlich indem sie deren Melodik, Rhythmik und Dynamik in ihrem eigenen Leib mitvollziehen und mitspüren. Theorien über das Innenleben anderer müssen sich nur autistische Menschen bilden, weil ihnen diese soziale Intuition, gewissermaßen die Musikalität für die Resonanzen der Zwischenleiblichkeit, von Geburt an fehlt. (S. 12–13)

Fuchs verknüpft also einen wissenschaftstheoretischen mit einem psychohistorischen Diskurs: Leiblichkeit entwickle sich konkret im mimetischen Gegenüber zum Objekt und nicht idealiter im luftleeren Raum eines hypostasierten Geistes, der sich selbst für die einzige Ursache aller Ursachen hält. Und auch später, wenn die Entwicklung abgeschlossen ist, ließe sich kein Selbst denken, ohne einen Leib und dessen weiterhin bestehenden Bedürfnissen. Alles andere sei Aberglauben einer Techno-Religion, eines Medien-Messianismus oder einer grenzenlosen Selbstdefinition.

Humanistische Unhintergehbarkeit?

Nun ist Fuchs Argument ebenso richtig, wie er mit seinen Thesen zur Anthropologie offene Türen einrennt. Er variiert das Argument von Markus Gabriel einer „humanistischen Unhintergehbarkeitsthese gegen den naturalistischen Druck des gegenwärtigen Weltbildes.“[3] So spricht sich auch Thomas Fuchs gegen eine isolierte Kommunikationswissenschaft oder auch gegen einen radikalen Konstruktivismus aus; dagegen bräuchte es prinzipiell und garantiert immer Menschen, auf die alle die gesammelten Informationen bezogen sein müssten. Das ist allerdings wohlfeil, setzt es doch das voraus, was den globalen und postmodernen, aber nach wie vor anarchischen Kapitalismus eben nicht auszeichnet: Planung, Sinn, Subjektivität. Insofern hat der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler mit seiner Gegenthese recht, wenn er gegen eine solche geisteswissenschaftliche Hermeneutik die nichtverstehende Objektivität der maschinellen Intelligenz als wichtigsten Trumpf ins Diskursspiel bringen will. Kittler liebt gerade an den Maschinen, dass sie nichts verstehen.[4]

Letztlich aber hypostasieren beide ihre jeweiligen Konzepte: Kittler seine scheinbare Objektivität der Maschine, die er gegen tendenziöse geisteswissenschaftliche Hermeneutik Jaspers, Heideggers, Gadamers und anderer halten will, wenn er selbst eine neue Technikgläubigkeit inszeniert.[5] Und auch Fuchs schießt übers Ziel hinaus, weil er wie die Genannten den Begriff des Menschen trotz aller Beispiele abstrakt als gleichbleibend nimmt und Verbesserungen generell und kategorisch ausschließen will. (S. 85–97) Da ist man dann wieder bei Arnold Gehlen gelandet, der die Anthropologie als Wert an sich setzen will, die gesellschaftlichen Bedingungen, die diese Anthropologie erst herstellen, aber nicht: Was Gehlen etwa 1957 für die industrielle beschreibt, versucht Fuchs 2020 für die postindustrielle Gesellschaft darzutun.[6] Beides bleibt trotz aller bemühter Ganzheit einseitig. Denn warum soll man die Leiblichkeit nicht auch durch einen Fortschritt in der Medizin, in der Biologie oder in der Informationstechnologie verbessern dürfen? Fortschritte in der Medizin und in der Biologie sind im Rahmen einer kritischen Aufklärungskonzeption durchaus möglich. Sie sollten sich allerdings nicht einem eindimensionalen Fortschrittsbegriff einer subjekt- und klientellosen Science-Fiction anheimgeben, deren hypertrophe Phantasien Fuchs damit in dieser Hinsicht zurecht den Kampf ansagt.

Richtige Fragen, prekäre Antworten

Insofern stellt Fuchs die richtigen Fragen und bringt eine sinnvolle negative Kritik am losgelösten und wildgewordenen Szientismus unserer Zeit an; das Prekäre daran aber sind dann seine ungenügenden positiven Antworten. „Der Mensch“ in dessen Namen Fuchs sprechen will, kann als Argument nur vorgebracht werden, wenn auch seine materiellen Bedingungen der Produktion und Reproduktion zur Debatte stehen. Sonst schüttet man das Kind mit dem Bade aus und bekommt statt der abstrakten Maschine, den abstrakten Menschen einer unkritischen und absolut gesetzten Anthropologie als Ideal. Ständig vom Leib und der Verleiblichung des Menschen zu reden, wie Fuchs es tut, ist zwar notwendig, es reicht aber nicht hin. Arnold Gehlen, Max Scheler oder Karl Jaspers lassen auch bei Fuchs nicht nur von Ferne grüßen, sondern ihre bereits in den 1930er-Jahren widerlegten Argumente werden auch durch Fuchs Aktualisierungsversuche nicht besser.

Schatten der Vergangenheit

Dass Fuchs einen Karl-Jaspers-Lehrstuhl in Heidelberg bekleidet, müsste nicht notwendig bedeuten, diesen Namensgeber ständig im Munde zu führen. Man könnte an ihm auch kritisch zeigen, wie man es nicht machen sollte. An Jaspers selbst wird das Problem einer affirmativen und isoliert im Zentrum stehenden Anthropologie manifest: Nur durch Zufall, nämlich weil er mit einer Jüdin verheiratet war, wurde Jaspers 1937 zwangspensioniert, blieb jedoch während der Nazizeit im Lande. Ansonsten hegte er in den frühen Jahren des NS-Regimes ebenso wie sein Freund Martin Heidegger, den er später nicht entnazifizieren wollte, hochtrabende Ideen, was innerhalb der neuen nationalistischen Herrschaft so alles möglich sei. Nicht umsonst zählt Georg Lukács beide zu den irrationalen Lebensphilosophen und spricht im Zusammenhang mit ihren Theorien von einem „Aschermittwoch des parasitären Subjektivismus“.[7] Das ist bei Lukács freilich selbst ein abstraktes Generalargument, dass Jaspers und Heidegger nicht in allen Aspekten gerecht wird. Es bedeutet aber keinesfalls, dass es völlig falsch wäre. Wer von Jaspers redet – und Fuchs stellt seinem Buch ein entsprechendes Motto Jaspers voran – sollte zumindest diese Kritik auch kennen und entsprechend berücksichtigen.[8] Kritische Wissenschaft sollte tatsächlich frei sein, wir sind hier schließlich nicht bei Dr. Steiner. Der Faschismus war ein Sündenfall der Wissenschaft ebenso wie es ein überdrehter und unkritischer Szientismus ist; beide kamen nicht aus dem Nichts und das eine ist nicht weniger schlimm als das andere. Aus der Lektüre von Karl Jaspers sollte man lernen, dass der primäre Positivismus nicht gegen den, wie Adorno ihn nennt: sekundären auszuspielen ist; mit dem zweiten Auge sieht man eben nicht besser als mit dem ersten.

Das Bauhaus und die Moderne

Diese Kritik an einer Menschlichkeit der affirmativen Anthropologie ist historisch gerechtfertigt und untrennbar mit der Moderne und dem Bauhaus verbunden. Innenwelt und Außenwelt des Menschen sind zwar körperlich, aber das heißt nicht, dass man diese nicht verbessern könnte. So zeigt der Bauhauslehrer Paul Klee auf seinen Bildern der Menschen weniger Innerlichkeit als Interieur. Auch László Moholy-Nagy in seiner Fassung des modernen Menschen zwischen Produktion und Reproduktion wendet sich gegen das Konzept, das Fuchs vertritt.

Gegen den überdrehten Geist der Moderne

Gegen eine Überdrehung der Versuche des heutigen Szientismus à la Marvels Ironman hat Fuchs recht; aber nicht gegen eine grundsätzliche Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen wie Klima, Umwelt und Ökologie durch die Wissenschaft. Fuchs Verdienst besteht daher weniger in seiner epistemologischen Ausrichtung, die einem Irrstern folgt, sondern vielmehr darin, dass er als Entwicklungsbiologe spricht. Zum Beispiel in seinem Text „Der Schein des Anderen. Empathie und Virtualität“, wo er auf Max Schelers und Maurice Merleau-Pontys Konzept der „zwischenleiblichen Resonanz“ der „primären Intersubjektivität“ und der „Spiegelneuronen“ zurückgeht. (S. 119–145, bes. S. 123 ff). Hier führt er die Entwicklung des Menschen als leibliches Wesen so ins Feld, wie beispielsweise der Direktor des Londoner Anna-Freud-Instituts, Peter Fonagy, wie Margaret Mahler oder wie Moshe Feldenkrais. Ohne Leib ist der Mensch kein Mensch; und er ist nicht viel mehr als dieser Leib. Den leiblichen Menschen, seine Empathie und seine Logik auf diese Weise gegen ein isoliertes Gehirn, das als eine Maschine gedacht wird, zu verteidigen – darin liegt ein großer Verdienst Fuchses.

Angebliche Phantomwelten als fiktive Intimitäten

Andererseits wird anhand des Titels des genannten Aufsatzes „Der Schein des Anderen“ erneut deutlich, dass Fuchs den Schein nicht als ästhetischen Vorschein einer besseren Welt versteht, sondern nur als Täuschung. Insofern birgt auch die Virtualität keine Möglichkeit für ihn, sondern bleibt stets eine täuschende und irreleitende Illusion. So wird man allerdings den Möglichkeiten einer freien ästhetischen Betrachtung der Welt einschließlich der Kunst nicht gerecht: Wenn der für einen Psychiater sehr belesene Fuchs, der seine Beispiele breit aufschließt, Schillers Zitat aus den Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen anführt, wonach der Mensch erst im Spiel zu sich käme, so schiebt er sogleich nach, dass sich die Ästhetik als Gegenwelt immer auf eine gegebene und unmittelbare Realität bezöge, „also die Ausnahme von der Regel“ sei. (S. 120) Hier schimmert Husserls Phänomen ontologisch hindurch. Das klingt, wenn Fuchs anschließend die Als-Ob-Simulationen der Medien anführt, nach einer Aufteilung von gegebener Wirklichkeit als Norm und von der Kunst als Akzidens und sekundäre Illusion. Im Anschluss nämlich ist bei Fuchs von den fiktiven Welten als „Phantomisierung der medialen Vorspiegelung der unmittelbaren Realität“ nach Günter Anders die Rede:

Das sicherste Mittel, die Wirklichkeit zu verdecken, bestehe darin, sie ständig und überall abzubilden, und zwar durch Abbilder, die ihren Bildcharakter selbst verschleiern, sodass »die Welt unter ihrem Bilde zum Verschwinden gebracht wird« (Anders 1956/1994: 754). Es entstehen Gebilde zwischen Sein und Schein, die Anders ›Phantome‹ nennt, nämlich Zeichen oder Bilder, die im Gewand von leibhaftigen Dingen auftreten. Ähnlich beschrieb später Baudrillard (1978, 1982) das »Simulacrum« als medial simulierte Scheingegenwart, die keine Unterscheidung zwischen Original und Kopie, Realität und Imagination mehr erlaubt.

Das aber klingt nicht allein nach den Situationisten Jean Baudrillard und Guy Debord, die trotz allem die Welt als Spektakel verstehen wollen, sondern in solcher Wertung vor allem nach Ludwig Klages, der die wirkliche Welt der Seele von derjenigen des Geistes absetzen will.[9] Dessen Geist als Widersacher der Seele und seine arischen Urgestalten, die wirklicher als die jüdischen Phantome des Geistes sein sollen, ruft Fuchs also ebenfalls auf.

Was ist die Wirklichkeit? Schein als Tarnung und Täuschung

Mit anderen Worten: das Verhältnis von Schein und Wirklichkeit steht gerade beiderseitig infrage.[10] Allgemeiner gesprochen: die Möglichkeit der Kunst, eine wirklichere Wirklichkeit – beispielhaft im Surrealismus oder bereits im Realismus, der ja selbst keine Realität ist, sondern ein Konzept als Entwurf zu deren Verständnis – zu erzeugen, kommt bei Fuchs nicht vor.

„Scheinpräsenz“ (S. 136) meint bei ihm nicht etwa die Gegenwart einer utopischen, theologischen oder ästhetischen Aura als Möglichkeitsraum, sondern zielt allein auf einen illusionären Täuschungscharakter solcher nur vermeintlichen Anwesenheit ab. Dass aber der Schein das Einzige ist, was nicht trügt, da er ja nichts anderes vorgibt als eben solcher Schein zu sein, wie es Rudolf zur Lippe einmal formuliert hat – davon weiß Fuchs nicht viel.[11] Ähnliches gilt für die von Fuchs abgetanen „fiktionalen Gefühle“ (S. 137), die durch „mediale Illusionen“ hervorgerufen werden sollen. Auch das mag ja sein, aber als Gefühle sind sie doch auch echt und keinesfalls nur eingebildet.

Den Medien und ihrer virtuellen Welt ist mit Recht vorzuwerfen, dass sie den fiktionalen Charakter, dem sie ihre Existenz verdanken, nicht betonen, sondern sich selbst als feste Realität ausgeben; also den konsistenten Gehalt eines eindimensionalen Wirklichkeitsbegriffs nachzuahmen versuchen. In diesem Sinne sollte man wie Jean Baudrillard ein stärkeres Bekenntnis zur Illusion, zur Kunst und zur Welt als Entwurf fordern und eben keine neuerlich vorgespielte feste Welt. Umgekehrt aber nun in einem Generalangriff gegen das Artifizielle überhaupt eine „echte Begegnung“ nach Martin Buber (S. 141) einzufordern, wie Fuchs es tun will, geht fehl. Diese gab es bereits zu Bubers Zeiten nicht mehr, der lebensphilosophisch dort ein „Erlebnis“ selbst künstlich wiederbeleben wollte, wo die wirkliche Erfahrung längst vergangen war. Die hohe „Begegnung“ die der Jargon beschwört, wird in der Moderne bekanntlich durch profane Verabredungen ersetzt. Die Wissenschaft friert zugleich den Leib ein und setzt ihn in der Begriffsbildung zugleich dem Tod aus. Solche Mortifikation ist nicht zu umgehen. Das Leben muss hier hindurch, sonst lebt es nicht. Ebenso muss jede materielle Anthropologie, will sie sich ernst nehmen, als zweite gesellschaftlich hergestellte Natur verstanden werden. Das heißt, die Menschen machen sich immer selbst mithilfe der instrumentell verstandenen Aufklärung.

Genaue LeserInnen

So sinnvoll es also ist, auf einer physiologischen Leibwirklichkeit zu beharren, so unsinnig ist es auf undialektische Weise normative Strukturen in die Betrachtung der Welt einzuführen, die diese als instrumentellen Entwurf nachhaltig diskreditieren sollen. Was die Wirklichkeit ist und ob sie in der Realität aufgeht, steht weiterhin nachhaltig infrage und kann nicht durch Entscheidung für entsprechende Menschenbilder vorab geklärt werden, wie Fuchs das durch das von ihm bemühte Eingangszitat von Jaspers nahelegen will. Die weißen alten Männer des sekundären Positivismus winken ihm hier als Handicap in seine Texte und bedrohen mit ihrer bösen Vergangenheit seine unschuldige Intention. Wie in Shakespeares Hamlet erscheinen die alten Könige der Lebensphilosophie als Phantome aus der Welt der Vergangenheit und treiben so in der Gegenwart weiterhin ihr Unwesen.

Der kritische Leser und die geneigten Leserinnen des Buches von Fuchs aber werden angesichts der sonstigen Kräfteverhältnisse in der Technologiedebatte von seinen lebensphilosophischen Tendenzen absehen. Dann werden nicht nur die Entwicklungspsychologin oder die Feldenkrais-Therapeutin, sondern auch der Philosoph etwas von der Lektüre mitnehmen. Nicht unmöglich also, dass das Beste des Buches auf die Rückseite des Umschlags passt. Das hat auch seine Vorteile. In diesem Zitat aus der Einleitung heißt es:

Der eigentliche Gegenentwurf zu einem naturalistisch-reduktiven Bild des Menschen besteht nämlich, so meine These, in der für die Person konstitutiven Leiblichkeit und Lebendigkeit. Nicht eine abstrakte Innerlichkeit, körperloses Bewusstsein oder reiner Geist sind die Leitideen einer humanistischen Sicht des Menschen, sondern seine konkrete leibliche Existenz. (S. 12)

Aber eben eine konkrete, über die nicht vorab mithilfe eines „Menschenbildes“ abstrakt entschieden werden kann.

[1] Vgl. BANG-Design. Norbert Bolz Design für das 21. Jahrhundert, Berlin: Trendbüro 2006.
[2] Z. B. in Donna Haraways Cyborg- Manifest von 1985/1995 oder in Judith Butlers Gendertrouble, vgl. Fuchs, S. 74, Fußnote 3.
[3] Markus Gabriel, Fiktionen, Berlin: Suhrkamp 2020, S. 18; vgl. http://www.glanzundelend.de/Red20/g-i-20/markus-gabriel-fiktionen-wolfgang-bock.htm; zuletzt aufgerufen am 6.1.2021.
[4] Vgl. z.B. Friedrich Kittler, Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2013; vgl. http://www.glanzundelend.de/Red20/g-i-20/rolf-goebel-klang-im-zeitalter-technischer-medien.htm, zuletzt aufgerufen am 6.1.2021.
[5] Vgl. Friedrich Kittler, Optische Medien: Berliner Vorlesung 1999, Berlin: Merve 2002.
[6] Vgl. Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Reinbek: Rowohlt 1957.
[7] Vgl. Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Band 2: Irrationalismus und Imperialismus, Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1962, S. 165-194. Fuchs zitiert: „Das Bild vom Menschen, dass wir für wahr halten, wird selber ein Faktor unseres Lebens. Er entscheidet über die Weisen unseres Umgangs mit uns selbst und mit dem mit Menschen, über Lebensbestimmung und Wahl der Aufgaben.“ (Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, Zürich: Artemis 1948, S. 55). Wie solches „Bild“ zustande kommt, wird freilich nicht gesagt.[8] Ähnliches gilt für die 1990 von Prinz Rudolf zur Lippe initiierten Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit an der Universität Oldenburg. Auch diese standen unter einem ähnlich prekärem Motto von Jaspers, das ein bekanntes Zitat von Rosa Luxemburg bis zur Unkenntlichkeit verdreht: „Freiheit ist angewiesen auf die Freiheit aller anderen; daher gelingt die politische Freiheit nicht als sichere Dauer der Zustände – Freiheit ist angewiesen auf Vollendbarkeit des Wahren, Wahrheit aber ist vielfach und in jeder ihrer Gestalten in Bewegung.“ Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Jaspers_Vorlesungen_zu_Fragen_der_Zeit; zuletzt aufgerufen am 6.1.2021. Solche Zitationen legen sich wie ein böser Schatten auf jede Theorie, die im Namen solcher Tradition zu sprechen vorgibt. Das Geraune des Jargons der Eigentlichkeit ist um keinen Deut besser als dasjenige der technizistischen Phantasmagorien. Es bildet vielmehr ein Handycap und zerstört die Versuche, sich davon zu befreien, wird es nicht selbst aufgeklärt.
[9] Vgl. Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele (1929–32), Bonn: Bouvier 1972.
[10] Vgl. S. 133. Das gibt vor zu wissen, was die eigentliche und was die uneigentliche Wirklichkeit sein soll. So ist in der Psychoanalyse beispielsweise weniger der Begriff des Unbewussten in Frage zu stellen als vielmehr derjenige des Realitätsprinzips und des Bewusstseins. Das gleiche gilt für kognitive oder phänomenologisch geprägte Ansichten wie in den Schulen von Edmund Husserl, Max Scheler, Hans Driesch oder Günter Anders.
[11] Lippe kürzt ein komplexes Thema ab. Bei Walter Benjamin heißt es: „Nicht Schein, nicht Hülle für ein anderes ist die Schönheit. Sie selbst ist nicht Erscheinung, sondern durchaus Wesen, ein solches freilich, welches wesenhaft sich selbst gleich nur unter der Verhüllung bleibt. Mag daher Schein sonst überall Trug sein — der schöne Schein ist die Hülle vor dem notwendig Verhülltesten. Denn weder die Hülle noch der verhüllte Gegenstand ist das Schöne, sondern dies ist der Gegenstand in seiner Hülle. […] So ist denn der Schein in ihr eben dies: nicht die überflüssige Verhüllung der Dinge an sich, sondern die notwendige von Dingen für uns.“ (Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, Gesammelte Schriften, Band II, S. 196)

Artikel online seit 14.01.21
 

Thomas Fuchs Verteidigung des Menschen
Grundfragen einer verkörperten Anthropologie
Suhrkamp 2020
331 Seiten
22,70 €
978-3-518-29911-1

 


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