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FK Hiemer - Friedrich Hölderlin (Pastell 1792)

»Man kann auch in die Höhe fallen so wie in die Tiefe«

Friedrich Hölderlin zum 250. Geburtstag

Von Lars Hartmann
 

Als Dichter stand Friedrich Hölderlin lange Zeit im Schatten jener Heroen aus Weimar: Wieland, Goethe und Schiller. Allenfalls wurde er, wie Adorno es in einem den Spieß- und Bildungsbürger spottenden Ton schrieb, vom Bürgertum als ein »stiller und feiner Nebenpoet mit rührender vita« angesehen, so Adorno in seinem unbedingt lesenswerten Hölderlin-Essay Parataxis. Der Wahnsinn, eine unglückliche Liebe, eine seltsame Reise ins ferne Bordeaux und der Turm samt der vermeintlichen Sperrigkeit der Dichtung machten Hölderlin interessant. Aus Bordeaux brachte er eine seiner schönsten Hymnen – Andenken nämlich, einen pathetische Feier des Schönen, Fremden, eine Dichtung der Ströme und eine Dichtung, die sich selbst verströmt, als Reflexion aufs Dichten, ohne dabei aber künstlich-bemüht zu wirken, wie das heute und auch sonst oftmals die Menschen der (sogenannten) Metaebene gerne treiben. Bei Hölderlin ist es anders und es heißt im Schluß:

Nun aber sind zu Indiern
Die Männer gegangen,
Dort an der luftigen Spitz
An Traubenbergen, wo herab
Die Dordogne kommt,
Und zusammen mit der prächtgen
Garonne meerbreit
Ausgehet der Strom. Es nehmet aber
Und gibt Gedächtnis die See,
Und die Lieb auch heftet fleißig die Augen,
Was bleibet aber, stiften die Dichter.

Aber wohnt nicht jedem Dichter ein wenig Wahnsinn inne, so dachte das Lyrik aufsaugende Bürgertum, das den Wahnsinn gerne (und durchaus begründet) draußen hält? Ästhetische Simulation ist allemal gesünder und klüger als schlechte Unmittelbarkeit des Anheimfallens. Solange es einen selbst nicht trifft und man sich an Lyrik ergötzt, istʼs ganz in Ordnung, so dachte es sich das Bürgertum, das es inzwischen lange nicht mehr gibt. Ein Bürgertum, das Bildung oftmals nur noch als Besitz verbuchte oder seine Dichter gerne auch im Tornister ins Schlachtfeld trug – auf daß im Endsieg oder in Niederlage von Kugeln zerfledderte Ausgaben der in Leder gebundenen Bände zurückkamen.

Oder der Dichter als kleines Glück im stillen Winkel gedacht und wie es Goethe in einem Brief an Schiller vom 23. August 1797 als Empfehlung an Hölderlin formulierte: »Ich habe ihm besonders geraten, kleine Gedichte zu machen und sich zu jedem einen menschlich interessanten Gegenstand zu wählen.« Die kleine Form und die lyrische Miniatur waren ihm zugedacht, keineswegs der große Wurf. Es kam jedoch im Gang des Dichtens und in der Hölderlinrezeption alles ganz anders und seine Dichtung erwies sich als Sprengstoff. Jenseits von kleiner Form und bürgerlicher Innenwelt. Allerdings: sie blieb zugleich immer auch sperrig und der Pathoston seiner Hymnen lud zugleich zum Mißbrauch ein – was nicht das Problem Hölderlins ist, sondern das der Referenzrahmenbestätigung seiner Leser, wenn heiliges Feuer und Götter nationalistisch reifiziert werden. Etwas, das der Dichtung Hölderlin ganz und gar fernlag. Das Hölderlinsche Nationale ist nicht das übliche Nationale des 19. Jahrhunderts und schon gar nicht das von deutscher Großmannssucht im ausgehenden 19. und dann im kommenden 20. Jahrhundert.

Als Dichter und Philosoph war Hölderlin zum Ende des 19. Jahrhunderts sogut wie vergessen, ein toter Hund gleichsam, wie es 1785 Friedrich Jacobi in seinen Briefen an Moses Mendelsohn im Hinblick auf die Philosophie seines Zeitalters über Spinoza schrieb – jenem legendären Auftakt des Spinoza-Streits. Dieser Disput, der das ganze Zeitalter von Kant, Goethe und Schiller bewegte, und auch der Vorwurf des Pan- und Atheismus, der damals einem sozialen Todesurteil gleichkam, bestimmte das ausgehende 18. Jahrhundert maßgeblich, und der Gedanke jenes Hen kai pan, des Eines und Alles prägte ebenso das Denken Hölderlins wie Hegels – und dazu auch das Schellings, eben jener drei Bundesgenossen im Tübinger Stift des Jahres 1793. Vor allem aber trieb die Philosophie jener Jahre die zentrale Frage, womit der Anfang in der Philosophie zu machen und was deren erstes Prinzip sei – noch in den Briefen Hegels und Hölderlins nachzulesen: Das absolute Ich wie es Descartes und später dann Fichte entwickelten, das gleichsam als Substanz gedacht wurde, obgleich es dann in Kants transzendentalem Ich, jene ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption, als logisches, formales Prinzip des Denkens konzipiert war und nicht mehr als an-sich-seiender Substanz-Instanz. Oder aber etwas diesem Ich Vorgängiges, ein übersteigendes Sein, das Absolute als Substanz und Prinzip, wie es Spinoza und später Schelling dachten. Und vor allem dann Hegel – Freund Hölderlins und gleichen Jahrgangs –, der jenes Absolute als Geist und als Begriff und als ein in der Philosophie und mit den Mitteln der Philosophie zu entfaltendes Prinzip dialektisch dartat – sei es als Propädeutik in seiner »Phänomenologie des Geistes«, logisch ausgefeilt in seiner »Wissenschaft der Logik« von 1832 und auf die einzelnen Gebiete des Geistes bezogen dann in seiner »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften«. Dichtung hingegen, also die Kunst selbst, war nur noch eine Stufe im Feld des absoluten Geistes. Zur Erkenntnis taugte besser der diskursive, der philosophische Begriff. Daher auch Hegels Rede vom Vergangenheitscharakter der Kunst, was ihre substantielle Weise des Daseins betrifft. Dieser Ansatz hat seine Berechtigung, aber er ist eben nicht der einzige und ist ergänzbar.

Ganz anders in der philosophischen Methode arbeitete Hölderlin: »dichterisch wohnet der Mensch«, wie er es in seiner Dichtung »In lieblicher Bläue« formulierte, war nicht nur eine Beschreibung des Wahrnehmens und des menschlichen Daseins, sondern ebenso eine Möglichkeit des Ausdrucks. Erkennen war nicht einfach nur etwas, das sich in der rein philosophischen Begrifflichkeit und im diskursiven Argument-Raum der Philosophie abspielte. Aber es war eben auch nicht der bloßen Willkür des Lyrikers anheimgegeben. Da eben liegt die Crux: Reflexion auf Komposition.

Die große Frage des ausgehenden 18. Jahrhunderts im Anschluß an Kant und an Fichtes Wissenschaftslehre von 1794: wie und in welcher Form jenes Prinzip des Absoluten, wie das absolute Denken, wie Sein und Seiendes darzustellen wären. Für Hölderlin war hier nicht bloß die Philosophie als Ausdrucks und Darstellungsmedium zuständig, sondern vor allem die Dichtung, und zwar nicht nur die Lyrik. Das Dargestellte ist bekanntlich der Darstellung nicht äußerlich und damit verbunden ist zugleich ein politisch-aufklärerischer Aspekt, nämlich das, was sich mit Schillers Briefen gesprochen als die ästhetische Erziehung des Menschen konzipieren läßt. Man denke nur an jenes Älteste Systemprogramm des Deutschen Idealismus von 1797, darin deren Autoren (Hölderlin, Hegel bzw. Schelling – die Urheberschaft ist ungeklärt) die Idee des Wahren, Guten und Schönen ästhetisch und damit auch mythologisch zu machen trachteten und so »das Volk vernünftig«.

Um nicht weniger ging es den Autoren als um eine »neue Religion«, die es zu stiften galt, eine neue Mythologie der Vernunft mit den Mitteln der Kunst, wozu eben so etwas wie ein ästhetischer Sinn erforderlich wäre. Diese Emphase einer neuen Aufklärung, die nicht bloß wie die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ein abstrakter Verstandesrationalismus zu bleiben habe – wobei es auch dort immer modifizierende Positionen gab, man denke an Lessing -, sondern ebenso die Sinnlichkeit und (man könnte von heute her sagen, eine überbordende Ökonomie der Lust ins Spiel bringt) war für alle drei Denker ein Zentralpunkt. Die Mittel freilich dazu realisierte im Gang des jeweiligen Denkens jeder dieser Philosophen anders. Bei Hölderlin stellt sich dabei insbesondere die Frage nach einer Philosophie, die mehr als nur ein Aufgebot von Diskursivität ist und bis heute eben tangiert dies die Frage nach den Gattungsgrenzen zwischen Philosophie und Literatur.

Hölderlins Entdeckung als wirkungsmächtiger und bedeutender Dichter des frühen 19. Jahrhunderts setzte spät erst ein: Ähnlich wie bei Kleist – jenem doch so unterschiedlichen und in der Eruptivität dann auch wieder so ähnlichen Zeitgenossen. Beide reagierten auf die großen Zäsuren um 1800 auf ihre Weise: den Einbruch einer neuen Ordnung mit einer kapitalistisch-rational organisierten Produktion, jene Umbrüche der Sattelzeit, die Französische Revolution und Napoleon als Europäisches Ereignis. Das, wofür insbesondere Hegel – der zweite große Jubilar für 2020 – den Terminus Entzweiung gebrauchte, und diese Entzweigung galt es vor allem bei Hölderlin wieder mit den Mitteln der Kunst aufzuheben. Kleist reagierte auf diese Brüche einer heraufziehenden industriellen bzw. zunehmend kapitalistisch organisierten Moderne, indem er der Gewalterfahrung und der versehrten Körperlichkeit, die mit dem Exzess konnotiert ist – man denke hier insbesondere an den »Michael Kohlhaas« und an die »Penthesilea« – ihren Ausdruck gab. Dichtung als Destruktion.

Hölderlin hingegen reflektierte auf eine andere Form von Kommunikation, in der das Verhältnis von Subjekt und Objekt und damit auch das von Subjekt und Gott sowie Subjekt und Natur eine Bestimmung erführe, die jenseits des Bannes von Gewalt und Zurichtung und damit der Entzweiung wäre, ohne dabei in regressive Einheitsesoterik zu gleiten, sofern man es etwa in der Lesart von Adornos Hölderlin-Essay Parataxis denkt. Eine »metaphysische Passivität«, die sich als »Gehalt der Hölderlinschen Dichtung« »wider den Mythos« verschränkt und dessen blinden Bann durchbricht, den er an Subjekt und Objekt vollzieht. Bei Kleist liegt in Schrecken und Gewalt eine berauschende Schönheit. Während Kleist den Schrecken, aber eben auch die Faszination an der ästhetischen Destruktion und Dekonstruktion teils im nationalrevolutionären Pathos seiner Zeit zu bannen versuchte – etwa in den Dramen »Prinz Friedrich von Homburg oder die Schlacht bei Fehrbellin« und »Die Hermannsschlacht – und gleichzeitig solche Destruktion als literarischen Exzeß einer um seiner selbst sich entfaltenden ästhetischen Gewalt ins poetische Bild setzte – wie etwa in »Das Erdbeben in Chili« oder eben in jener unbändigen Raserei des Kohlhaas und der Penthesilia: »Küsse und Bisse, das reimt sich …« einer der wunderbarsten Stellen –, vernahm man aus Hölderlins Dichtung die Morgenröte einer neuen, einer anderen Zeit, die ihren Gehalt jedoch zunächst einmal auf einen Rückgriff in die antike Form und ins antike Denken bezog.

Vor allem aber war es der Ruf des gallischen Hahns, den man aus Hölderlins Dichtung vernahm, nicht laut tönend allerdings, sondern versteckt. Dieser revolutionäre Gehalt Hölderlinscher Dichtung war lange vergessen. Hierzu kann es interessant sein, sich in die Rezeptionsgeschichte zu begeben, um einmal auf Aspekte bei Hölderlin zu blicken, die lange Zeit nicht selbstverständlich waren, nämlich der revolutionäre Gehalt seiner Dichtung.

Zum Beginn des 20 Jahrhunderts setzte zunächst eine Welle der nationalen Hölderlin-Begeisterung des Bildungsbürgertums ein. Effiziert wurde jene Euphorie durch die 1910 von Norbert von Hellingrath herausgegebene Ausgabe seiner Werke. Man stellte die Dichter nicht bloß ins Regal, sondern man trug sie im Tornister. Mißbrauchter Pathos und wer einen Titel wie »Vaterländische Gesänge« unmittelbar nimmt und sie sich, statt sie im Kontext der Hölderlinschen Dichtung zu entfalten, ins eigene Schema preßt, kann Hölderlins Dichtung bloß verfehlen. Zum Zeitgeist der Wilhelminischen Epoche aber paßte es gut.

In einem ästhetischen Sinne griff Stefan George Hölderlin auf, sah dessen Bedeutung für eine neue Form des poetischen Sprechens, eine Dichtung der Dichtung gleichsam, und dies färbte naturgemäß auch auf den George-Kreis über – so Max Kommerell etwa mit seiner Schrift »Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik« (1928). Prägend für das zeitgeistgemäße Bild von Hölderlin war zum frühen 20. Jahrhundert die hermeneutische, textimmanente Interpretation oder die an der Diltheyschule Lebensphilosophisch geprägte Sicht mit dem Bezug zum Nationalpathos – die Deutschen als die wahren Griechen. Oder man ordnete Hölderlin als den Dichter des Seins ein, wie später in den 1940er Jahren Martin Heideggers instruktive Hölderlinlektüren. Hölderlins Dichtung – darin liegt Heidegger richtig und zeigt uns einen wesentlichen Aspekt des Hölderlinschen Œuvres – ist von der nicht nur dichterischen, sondern vor allem auch philosophischen Bestimmung getragen, das Wesen der Dichtung eigens zu dichten, so Heidegger in den »Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung«. Dichten und Denken stehen für Heidegger in einem Zusammenhang. Heidegger legt eine Weise des poetischen Sprechens bei Hölderlin frei, die auch für die Dichtung des 20. Jahrhunderts, vor allem für Rilke, George, und vor allem dann Paul Celan wesentlich wurde, insbesondere im Angesicht einer Krisenhaftigkeit und inmitten der Katastrophenerfahrung, die in Auschwitz ihren Kulminationspunkt erfuhr. Dies klingt im Hinblick auf Heidegger zunächst und auf der unmittelbaren Ebene paradox, aber man muss Heidegger gegen das Heidegger-Vorurteil lesen.

In diesen reflexiven Perspektivierung Heideggers stellt jedoch das Fehlen des Revolutionär-Politischen sowie der geschichtsphilosophischen Dimension seines Textes einen entscheidenden Mangel dar, der Hölderlin dadurch in anderen Teilen, nämlich der politischen Perspektive und der Bedeutung, die die Französische Revolution für Hölderlin (und auch für Hegel!) besaß, verfehlt.

Hier ist in der Hölderlin-Rezeption jener Jahre des frühen 20. Jahrhunderts und auch aus Anlaß zu Hölderlins Jubelfest an einen Philosophen zu erinnern, der inmitten einer konservativen und nationalistischen Rezeption zum Anfang des 20. Jahrhunderts insbesondere die revolutionäre Seite Hölderlins stark machte, nämlich der inzwischen ebenfalls in Vergessenheit geratene Georg Lukács. Lukácsʼ Text Hölderlins Hyperion erschien im Jahr 1934, also zum Beginn des faschistischen Deutschlands. Er liefert eine geschichtsphilosophisch ausgerichtete Analyse dieser Hölderlinschen Prosadichtung.

Auch für Lukács, nicht anders als für Heidegger oder den Germanisten Emil Staiger, ist Hölderlin der Dichter des Griechentums. Aber bei Lukács weniger eines solchen, das im bloßen Ideal der Winckelmannschen Klassik schwelgt und einem »inhaltsleeren, akademischen Klassizismus des 19. Jahrhunderts« anhängt: Es geht bei Hölderlin sehr viel dunkler und finsterer zu, dennoch besitzt dieses Griechentum nicht die, so Lukács, »hysterische Bestialität«, welche Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik dann freilegte. Immerhin aber nennt Lukács diesen dunklen Untergrund, aus dem Hölderlins Dichtung stammt. Wenn man sich die polemischen Unter- und Obertöne gegen Nietzsche und auch den unmittelbaren politischen Impetus von Lukács zugunsten eines orthodoxen Parteikommunismus einmal beiseite denke, so wie eben bei Heidegger die nationalen Töne des Deutschseins nicht im Vordergrund stehen sollten, kommen wir auf ein Hölderlin-Bild, das jenen damals herrschenden Zeitgeist bricht.

Für Hölderlin und seine beiden Mitstudenten im Tübinger Stift, Schelling und Hegel, bedeutete die Französische Revolution eine Zäsur. Sie begrüßten das Ideal dieses Befreiungskampfes. Lukács schreibt: »Jeder dieser drei Jünglinge  (…) repräsentierte in seiner späteren Entwicklung eine typische Möglichkeit der deutschen Reaktion auf die Entwicklung in Frankreich.«  Zugleich aber zeigte sich im Gang dieser Revolution die Verschränkung von Freiheit und Schrecken, etwa mit dem Beginn des Revolutions- und Tugendterrors sowie dem Thermidor – eben als Robespierre abgesetzt und um seinen Kopf gebracht wurde. Im Gegensatz zu Hegel jedoch schließt Hölderlin keinen Kompromiss mit der nach-thermidorischen (und damit: der beginnenden bürgerlichen) Epoche, sondern bleibt dem revolutionären Ideal einer Polis-Demokratie treu, so Lukács, während Hegel sich damit abfindet, dass die revolutionäre Periode der bürgerlichen Entwicklung abgeschlossen ist. In seiner Kompromisslosigkeit des Denkens wird Hölderlin am Ende jedoch an der Wirklichkeit zerbrechen, in der für dieses Ideal einer zu erneuernden griechischen Polis kein Platz innerhalb einer bürgerlich-kapitalistisch organisierten Gesellschaft der Konkurrenz bleibt, so die Deutung Lukácsʼ. Wahnsinn also auch als politischer Wahnsinn. Auch das Private ist in diesem Sinne politisch – zumindest wenn man der Deutung Lukács‘ folgt. Den Gang dieses Zerbrechens an einer politischen Wirklichkeit zeichnet dann insbesondere der Hyperion-Roman nach.

Während Hegel sich, so Lukács, an die Entwicklung anpasste und den Gang des Geistes in die Philosophie transformierte – dabei nahm Hegel jedoch trotz dieses affirmativen Moments die Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft und damit ihre Widersprüchlichkeit in den Blick und brachte insofern diese bürgerliche Gesellschaft kritisch auf ihren Begriff – und die Antike bei ihm damit zur unwiederbringlichen Vergangenheit gerät, gestaltet sich bei Hölderlin dieses Verhältnis von Entwicklung, Fortschritt und Antike sehr viel differenzierter: Es wäre die Antike und die Gesellschaft freier Menschen gleichsam der noch nicht gewesene und wiederherzustellende Ursprung einer befreiten und freien Menschheit. Hölderlin bleibt in der Lesart Lukács‘ Republikaner; sein Ideal ist die vollständige revolutionäre Erneuerung der Menschheit.

Diese Utopie von Geschichte samt veränderter Praxis, die Hölderlin in seiner Dichtung eröffnet, mochte in der Euphorie und in den nachwirkenden Gärungen der Französischen Revolution sowie unter dem Blick der Kantischen Transzendentalphilosophie und der Subjektphilosophie Fichtes noch möglich gewesen sein: jener Ruf des gallischen Hahns war gut präsent und beflügelte den Geist der Epoche teils, ließ aber auch, man denke an Goethe und Schiller, zu recht manche Bedenklichkeit wachsen. Unter den Bedingungen einer Spätmoderne und in einem vollständig entfalteten und entfesselten Kapitalismus sowie nach Auschwitz und Hiroshima, scheint die Utopie einer solchen Einheit eher die zu sein, welche Adorno für Becketts Endspiel konstatiert: Eine Welt, in der alles stillgestellt und statisch ist. Und auch Hölderlins Texte verweisen zum Teil bereits auf diese Skepsis und die Katastrophenhaftigkeit von Geschichte, insbesondere wenn man dessen Briefroman »Hyperion« nimmt. Und sind doch immer auch getragen von jenem Anderen, das zu denken und das zu dichten sei:

»Umsonst, wenn auch der Geister Erste fallen,
Die starken Tugenden, wie Wachs, vergehn,
Das Schöne muß aus diesen Kämpfen allen,
Aus dieser Nacht der Tage Tag entstehn;
Begräbt sie nur, ihr Todten, eure Todten!
Indeß ihr noch die Leichenfakel hält,
Geschiehet schon, wie unser Herz geboten,
Bricht schon herein die neue beßre Welt.«
(Friedrich Hölderlin, An die klugen Ratgeber)

Was es mit dieser besseren Welt auf sich hat, ließ Hölderlin freilich zu recht im Dunkeln. Heinrich Heine wollte sie als neues Lied als besseres Lied uns dichten und für die Menschheit auf Erden schon das Himmelreich errichten. Und man kann diesen Hölderlinschen Geschichtsoptimismus auch trauriger dichten, nicht nur rein biographisch, sondern als geschichtsphilosophisches Zeichen, wie schon sein Hyperion eben ein Scheitern war: Motive und Bilder des Abschieds:

»So gab ich mehr und mehr der seligen Natur mich hin und fast zu endlos. Wär ich so gerne doch zum Kinde geworden, um ihr näher zu sein, hätt ich so gern doch weniger gewußt und wäre geworden, wie der reine Lichtstrahl, um ihr näher zu sein! o einen Augenblick in ihrem Frieden, ihrer Schöne mich zu fühlen, wie viel mehr galt es vor mir, als Jahre voll Gedanken, als alle Versuche der allesversuchenden Menschen! Wie Eis, zerschmolz, was ich gelernt, was ich getan im Leben, und alle Entwürfe der Jugend verhallten in mir; und o ihr Lieben, die ihr ferne seid, ihr Toten und ihr Lebenden, wie innig Eines waren wir!« (Hölderlin, Hyperion)

Und die Rückblicke aus dem schwimmenden Turm in Tübingen eröffnen den Blick auf jene »bleierne Zeit«, da eben die Fahne vom Kirchturm kalt im Wind klirrt.

»Das Angenehme dieser Welt hab‘ ich genossen,
Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen,
April und Mai und Julius sind ferne,
Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!«
(Hölderlin, Dichtung nach 1806, vom Januar 181)

***

Georg Lukács: Hölderlins Hyperion, in: Der andere Hölderlin. Materialien zum ‚Hölderlin‘-Stück von Peter Weiss, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1972

Th.W. Adorno: Parataxis, in: Noten zur Literatur, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1981

Martin Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Klostermann Verlag, Frankfurt/M 1996

Dazu auch: Nikolaj Bersarin: Friedrich Hölderlin und das Werden im Vergehen – Hölderlin in der geschichtsphilosophischen Perspektive von Georg Lukács und Theodor W. Adorno, in: Kunst, Spektakel, Revolution Nr. 4: »Die Verwirklichung der Poesie«. (Wirklich lesenswertes Heft)

Artikel online seit 20.03.20
 

Friedrich Hölderlin
Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden
Hg: Michael Knaupp
2856 Seiten
Hanser Verlag
98,00
978-3-446-26464-9

 

 

 


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