Isabelle Huppert würde man
wohl auch gern zusehen, wenn man mit ihr eine Anleitung für den Gebrauch eines
Toasters verfilmte. Denn ab da hätte jeder Gebrauch eines Toasters etwas
Geheimnisvolles und Poetisches. Isabelle Huppert ist die Schauspielerin, die dem
Alltagsleben und den weiblichen Lebensläufen, mitten in der so genannten
Normalität, etwas vom Geheimnis zurückgibt. Oder von der Würde, wie man es
nimmt.
Hier ist sie einmal mehr eine Frau am Rande von Überforderung und
Nervenzusammenbruch. Es ist nicht bloß der Beruf, als Arabisch-Dolmetscherin bei
der Pariser Kriminalpolizei, es ist die Frage »was mit mir werden soll«, die auf
ihr lastet. So erklärt sie es am Anfang ihrem Geliebten, dem
Polizeikommandanten. Und sich. Und uns. Zwei fast erwachsene Töchter, eine
Mutter, die in einem teuren Heim in ihrer eigenen Welt lebt und wenig
Dankbarkeit zeigt, Steuerschulden von einem vor Jahren gestorbenen Ehemann, der
unsaubere Geschäfte trieb, ein Beruf, der einen ständig mit Gewalt und
Gemeinheit (auf beiden Seiten) konfrontiert, Ärger mit der Hausverwaltung, und
dann ist auch noch der Aufzug kaputt.
Man kann da schon einmal auf eigenartige Gedanken kommen. Die Lösung aller
Probleme scheint sich anzubieten, als ausgerechnet die liebenswerte Pflegerin
ihrer Mutter durch einen Anruf ihres Sohnes die Spur zu einem großen Drogen-Deal
offenlegt. Halb aus Dankbarkeit ihr gegenüber, vielleicht aber schon auch mit
einem großen Plan im Hintergrund bringt Patience Portefeux, welch ein
sprechender Name, wahrhaftig eine Tonne Haschisch in ihren Besitz und beginnt
damit, sie auf den Markt zu bringen, wobei sie die Rolle einer marokkanischen
Frau einnimmt, die man bald als »die Alte« mystifiziert (so auch der
Originaltitel »La Daronne«) und ihre Position bei der Polizei ausnutzt, um alle
zu bluffen. In einem Netz von Überwachungs-kameras, Abhörgeräten und
Kommunikation über Videospiele.
Mit dem Beginn des Coups ändert der Film ein wenig seine Tonlage. Das erste
Drittel war eine ebenso kritische wie intime Beschreibung eines Lebens in
diversen Kulturen und Familienromanen. Die Eltern von Patience kamen einst »mit
buchstäblich nichts« aus Algerien, sie kamen zu Geld, unter anderem, weil sie
auch die Tochter und ihren Plüschhund bei ihren Schmuggelgeschäften einsetzte,
eine Fotografie mit dem Titel »Die kleine Sammlerin von Feuerwerken« erinnert
daran. Und auch der Ehemann, den im Alter von 34 Jahren ein Schlaganfall
dahinraffte, beschäftigte sich mit Dingen, die, wie Patience sagt, der Polizei
nicht gefallen würden. Kriminalität ist eine Überlebensstrategie. Und Patience
weiß im Gegensatz zu ihrem moralisch integren und (im Großen und Ganzen)
systemtreuen Geliebten und Vorgesetzten Philippe, wie brüchig die Regeln sind.
»Du klingst, als wärest du auf ihrer Seite«, bemerkt er einmal. Bis dahin, wie
gesagt, ein klassisches Isabelle-Huppert-Portrait einer Frau mit Vergangenheit,
eher problematischer Gegenwart (sie endlich einmal zu genießen, fordert eine der
Töchter sie auf – leicht gesagt) und offener Zukunft. Von der komödiantischen
Leichtigkeit, die der deutsche Titel und die Werbung versprechen, ist man da
noch weit entfernt. Glücklicherweise. Denn bis dahin geht es weder um die
Darstellung von Problemen (migrantische Sub-strukturen, organisiertes
Verbrechen, Drogen, Polizeigewalt, Familienbindung etc.) noch um typische
Versatzstücke des kleinen Untergenres »Brave-Bürger-werden-aus-finanzieller-und-psychischer-Not-zu-Drogendealern«,
sondern um die Geschichten von sehr realen Menschen mit unterschiedlichen
Hintergründen, die sich in einem Paris treffen, das seine poetischen Momente
ganz woanders hat als da, wo man sie vermutet.
So zwischen Kaufhaus Tati und Cinema Luxor bis in die Brachen eines
Windkraftparks im Nebel. Bis dahin hat »La Daronne« weder etwas »gezeigt« noch
etwas behauptet, sondern nur gesehen. Dann freilich verlangt das Genre seinen
Teil, alles wird leichter und spielerischer, die Verbrecher scheinen nicht mehr
gar so gefährlich, und das Rollenspiel der Huppert und die
Katz-und-Maus-Situation zwischen Polizei, kleinen und großen Verbrechern und der
Verwandlungskünstlerin Patience mittendrin macht nicht nur den Beteiligten
Laune.
Wer durchschaut wen, wer hat wen auf dem Schirm, wer kann aus welcher Falle
entkommen? Und kann Patience, die vielleicht wirklich lange genug auf die große
Chance gewartet hat, das Spiel, das sie begonnen hat und durch das sich endlich
einmal einen wirklich guten Champagner leisten kann, überhaupt noch
kontrollieren? Kommt sie aus dem ganzen wohl heil heraus, und welchen Preis
müssen die Begleiter, die Familie, die Geliebten, die Nachbarn dafür zahlen? Das
sind die Genre-Fragen, die natürlich die Oberflächenspannung ausmachen. Aber
ganz verliert zum Glück »La Daronne« auch seine Tiefenstruktur nicht aus den
Augen. Dort geht es darum, wer, möglicherweise, Patience Portefeux ist und wie
sie geworden ist. Denn das Spiel um Drogen und Geld ist eben auch ein Spiel um
Identität und Person. Und gar nicht mal so sehr am Rande geht es auch um eine
Solidarität der Frauen, um eine Form der Schwesterlichkeit, die sich zwischen
den und gegen die arabischen, chinesischen, jüdischen und französischen Kulturen
entwickelt, um einen Geheimbund der Mütter, die sich, nun ja, außerhalb der
Gesetze, und ohne formelle Rituale gegenseitig unterstützen. Das klügste, was da
ein Mann noch machen kann, ist ein verräterisches Überwachungsvideo zu löschen.
Artikel online seit 03.10.20
Wir danken
Strandgut - Das Kulturmagazin für Frankfurt &
Rhein-Main
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EINE FRAU MIT BERAUSCHENDEN TALENTEN
(La Daronne)
von Jean-Paul Salomé,
F 2020, 104 Min.
mit Isabelle Huppert, Hippolyte Girardot, Farida Ouchani, Liliane
Rovère, Iris Bry
Krimikomödie
Start: 08.10.2020
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