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Wer ist zu beklagen? Sozialdemokraten!

Der linke Vordenker Niels Heisterhagen fordert
eine »sozialdemokratische Verantwortungslinke«

Von Peter Kern
 

Die SPD hat bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg und den hessischen Kommunalwahlen erneut erlitten, was die Kommentatoren der Partei seit Jahr und Tag eine krachende Niederlage nennen. Es geht also noch tiefer als unter die schon unterirdischen 20 Prozent. Das Bekenntnis des neuen Vordenkers der Partei, er sei schließlich auch schwul, hat nichts genutzt. Ist Kevin vielleicht gar kein Vordenker, sondern ein Nachplapperer? Herr Kühnert fährt im Gespann mit Frau Esken die Partei endgültig gegen die Wand. Die alte Tante SPD auf LGBTQ zu schminken, kam bei den Wählern nicht an.

Es lag nicht daran, dass die SPD auf ihren Plakaten zu wenig gegendert hat. Woran die Misere der Partei liegt, bei Niels Heisterhagen kann man es nachlesen. Sein Buch mit dem etwas groß geratenen Titel Verantwortung listet auf, was der heutigen Sozialdemokratie abgeht. Sie hat keinen Begriff von Beschäftigten und deren Interessen mehr. Ihr geht die Ahnung ab, wie sich das Interesse an auskömmlichen Jobs und einer gegen Existenzangst gesicherten Zukunft in ein Programm und in eine von der Programmatik inspirierte Politik übersetzen lässt.

Heisterhagen beugt mit seinem Buch einem Pauschalurteil vor. Es gibt verschiedene Parteien in der Sozialdemokratie. Da ist die Parteispitze, die sich geriert, als stünde sie mit Der Linken im Wettbewerb im Kampf um die Krone: Wer steht am meisten links als Partei. Da ist die berühmte Basis, die dieser Parteispitze einmal das Placet erteilt hat, so wie sie noch jede neue Spitze begrüßt und sich nach ein, zwei Jahren von ihr abgewendet hat: Wieder nichts mit Erneuerung. Da ist die Bundestagsfraktion, die das Dreigespann Kühnert, Esken und Borjans nur noch überleben will. Das sind die Minister der rot-schwarzen Bundesregierung, die mit Kräften tun, was in einer ökonomischen Krise getan werden muss: keynesianische Politik. Und auch den Kanzlerkandidaten gibt’s noch, den die konservative Presse mit dem seit dem Ende der Helmut-Schmidt-Ära üblichen Etikett versieht: Honoriger Mann, passt leider nicht zur chaotischen Partei. Auch die Rhetorik gehe dem Mann ab, bemängeln die flotten Mundhandwerker in Netz, Funk und Fernsehen.

Niels Heisterhagen schreibt, es sei gar nicht die Aufgabe eines SPD-Politikers glänzende Reden zu halten, sondern ordentliche Gesetze zu machen. Geht es mit Kühnert und Co. weiter, wird die Bundes-SPD nach dem Herbst dazu keine Gelegenheit mehr haben. Selbst wenn es auf Seiten der Grünen noch Sympathien für Grün, Rot-Rot gäbe: Die SPD und Die Linke tun alles dafür, als nicht wählbar zu erscheinen. Jedenfalls für Leute, die unter einer Partei einen Verband verstehen, der Interessen bündeln und sie ins parlamentarischen Verfahren einspeisen will. „Macht was für die Bildung“, plakatierte die ganz linke Partei und gibt sich als eine außer Konkurrenz stehende Bürgerinitiative zu erkennen.

Heisterhagen hat den Vorteil, die SPD von innen zu kennen. Er durfte mal der rheinland-pfälzischen SPD als Grundsatzreferent zur Hand gehen. Viel an Erfahrung aus dieser Episode seines Berufslebens dürfte in das Buch eingeflossen sein. Der Leser profitiert davon, wenn man den Verlust von Illusionen einen Gewinn nennen will. Es ist ein Gewinn an Erkenntnis im Hegelschen Sinn, eine Ent-Täuschung. Der Autor ist noch jung, 1988 geboren; ihn hat diese hegelsche Erfahrung noch richtig getroffen. Enttäuschung Nummer eins: Eine heutige SPD braucht keine Grundsatzdebatten, also ist ein dafür eingestellter Referent überflüssig.

Als junger Referent schlägt man Zeit tot mit Telkos, mit Telefonkonferenzen, bei denen nichts rauskommt. Man ist damit beschäftigt, die Flut von Emails zu bewältigen. Nach dem Mittagessen in der Kantine geht der Referent durch dunkle, schmale Korridore in sein Büro zurück, und langweilt sich. Dann nervt er seine Vorgesetzten mit Vorschlägen, die die nicht hören wollen, weil sie ihnen irgendwie rückwärtsgewandt vorkommen. Die Chefs lesen im Audi A 8 auf dem Wege von der einen Konferenz zur nächsten Spiegel-Online, mehr Zeit bleibt nicht für die Lektüre. Und dann kommt der junge Politologe und schlägt mit seitenlanger Begründung vor, Arbeitnehmerpolitik zu machen.

Arbeitnehmerpolitik, das riecht schon nach Ruhrgebiet und Siebziger Jahre. Sowas fällt nur einem Politikwissenschaftler ein. Und den Juristen und Verwaltungswissenschaftlern, denen er‘s vorschlägt, fällt die Klappe runter. Arbeiter gibt es doch überhaupt keine mehr, hat das der Referent nicht mitbekommen? Heisterhagen schlägt der SPD aber keinen Retrolook vor, sondern Realitätsbewusstsein. Die Mehrheit verkauft ihre Arbeitskraft nicht als Jurist, oder als Abgänger der Verwaltungshochschule Landau, sondern als Software-Entwickler, Fahrzeugbau-Ingenieure, Facharbeiter und Büroangestellte.

Der Autor möchte, das ist sein Petitum, seine Partei als Vertreterin der abhängig Beschäftigten ausrichten. Die soll’s ja noch geben. Schröders Ich-AG hat sich nicht durchgesetzt, die Masse der Leute steht auf der Pay Roll von richtigen AG’s. In diesen AG’s geht es keineswegs gemütlich zu, nicht nur wegen Covid 19. Die Leute stehen gegenwärtig unter Permanent-Stress. Nur die Hochqualifizierten sind sich gewiss, die Kurve in Richtung digitalisiertes Unternehmen zu nehmen. Die große Mehrheit ist in großer Sorge, aus der Kurve getragen zu werden. Zur Angst, den eigenen Arbeitsplatz nach Indien oder China verlagert zu sehen, kommt die Angst, wegrationalisiert zu werden. Die Pandemie ist vorbei, und die Firma holt mich aus meinem Homeoffice gar nicht mehr zurück – so sieht die Sorge in der Gegenwart aus.

Oder: Der Konzern braucht keine Mechatroniker und keine Kreditoren mehr, weil das Internet der Dinge die Produktionsanlagen steuert und zudem noch die Fehlerdiagnose besorgt. Die Kreditsachbearbeiterin wird überflüssig, weil der Algorithmus prüft, ob der Kunde noch kreditwürdig ist. Der Elektroniker, die Bürokauffrau bräuchten dringend Programmiersprachkenntnis, um mit der Digitalisierung Schritt zu halten, aber das Unternehmen rückt die dafür erforderlichen Kurse nicht raus.

Der Autor ist, obwohl jung an Jahren, kein heuriger Hase mehr; man muss ihm nicht erklären, es sei Sache der Tarifparteien, Verträge abzuschließen, die die Qualifizierung regeln. Die politische Landschaft ist entscheidend, in denen solche Verträge zustande kommen, wird er entgegnen. Und das von Berlin erlassene Gesetz, das dem Tarifvertrag gleichsam Geleitschutz gibt, ist unendlich hilfreich. Es ist ein Unterschied ums Ganze, ob die Angestellten ein Recht auf Weiterbildung geltend machen, oder ob der Abteilungsleiter nach dem Prinzip Nase ein Privileg verteilt. Und es ist die Bundesregierung, die bestimmt, welche Qualität die von der Bundesagentur für Arbeit angebotene Fortbildung hat, und wieviel Quantität, sprich Geld, auf den Arbeitslosen kommen darf.

Dem Autor ist völlig zuzustimmen: Die deutschen Parteien haben internalisiert, dass die Regeln demokratischer Teilhabe nur für den politischen Ideenhimmel gelten und im Souterrain der Gesellschaft, in den Betrieben, den Forschungsabteilungen, den Großraumbüros, den Lagerhallen jeder selbst schauen muss, wie er sich durchbringt. Was in Folge dieser Zweiteilung (die zu kritisieren einmal Brot- und Buttergeschäft einer Linken war) Schmerzen bereitet, ist das fehlende, heilende Organ. Es könnte die frei flottierenden Ängste aufgreifen und ihnen zu einem politischen Ausdruck verhelfen. Die AfD bietet sich stattdessen den Arbeitern an. Wieder haben bald 30 Prozent der Industriearbeiter im Ländle für die Rechte gestimmt. Dass sich Gewerkschaften und Betriebsräte um den Strukturwandel kümmern, ist längst nicht genug. Zudem: Der Geltungsbereich der Tarifverträge schrumpft immer mehr, das (karriereschädigende) Amt als Betriebsrat lasten sich immer weniger auf.

Die Sozialdemokraten zerfleddert der Strukturwandel besonders stark, weil man mit ihnen noch etwas verbindet. Sie werden quasi als Fahnenflüchtige geächtet. Die Fahnen, zu denen die SPD gegenwärtig rennt, die wehen, weil der Zeitgeist weht. Nächstes Jahr wird sich kein Mensch mehr an den gegenwärtigen Aufreger pro und contra Cancel Culture erinnern.

Niels Heisterhagen hat ein Buch über die SPD mit einer sehr einleuchtenden These geschrieben. Warum er diese These philosophisch-politologisch-medientheoretisch garnieren muss, versteht kein Mensch. Warum die dominierenden Diskurstheoretiker der zweiten Frankfurter Schule und der vergessene Heidegger der existentialistischen Eigentlichkeit dran schuld sein sollen, dass die SPD ihre Verantwortung nicht mehr wahrnimmt, weiß außer dem Autor nur noch der liebe Gott. Das Buch häuft in diesen Passagen Geschwätz auf Geschwätz. Es gelingt Heisterhagen auf zwei gegenüberliegenden Seiten sieben Mal in der ersten Person Singular zur schreiben, um im nächsten Kapitel sich die narzistischen Ichlinge vorzuknöpfen. Alle denken immer nur an sich, nur ich denk an mich, fällt einem dazu ein.

Artikel online seit 16.03.21
 

Niels Heisterhagen
Verantwortung
Für einen neuen politischen Gemeinsinn in Zeiten des Wandels
Dietz Verlag
224 Seiten
18 Euro   

 

 


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